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Janusköpfig
Ein ständiger Begleiter auf dem Weg in die Freiheit.
Ein guter Freund.
Ein starker Wächter.
Sie lässt dich nicht im Stich und seien die Mauern noch so dick.
Die Einzelzelle eines alten, berüchtigten Todestraktes, die für viele die letzte Station in ihrem Leben gewesen war, stand seit Jahrzehnten leer. Nur die wenigen Zeilen an der Wand bezeugten bittere Stunden – die letzten eines Menschendaseins. Sie waren kaum noch lesbar. Schwindende Erinnerungen, die ihren Urheber überlebt hatten.
Bei der symbolischen Schließung des Todestrakts verhieß die Polit-Elite in pompöser, schon fast philosophischer Anmut:
„Nie wieder soll ein Menschenleben durch die Todesstrafe ausgelöscht werden. Denn ein Mensch hat nicht das Recht, einen anderen Menschen zu töten oder töten zu lassen. Mit dem Verklingen dieser Worte gilt die Todesstrafe im ganzen Land als abgeschafft!“
Es war ein magischer Augenblick. Menschen umarmten sich. Feste wurden gefeiert. Tränen der Freude vergossen.
Carla stand fassungslos in ihrer Wohnung. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie die Nachricht im Fernsehen vernahm. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie schlug auf den Wohnzimmertisch. Wut und Hass kochten in ihr hoch und entfesselten sich in verzweifeltem Brüllen: „Er soll büßen! Ich will Gerechtigkeit!“, ihr Blick schweifte auf ein kleines, eingerahmtes Bild, das auf einer Kommode stand.
„Euer Mörder wird nicht überleben. Das verspreche ich euch.“
Ein Mann in rot-schwarz kariertem Hemd und strahlend weißen Zähnen schenkte ihr ein vertrautes Lächeln. Auf dem Arm hielt er ein kleines Kind, das die Augen in der Geborgenheit seiner Arme selig geschlossen hatte.
Carla fing an, ganzen Körper an zu zittern, und griff automatisch zu den Beruhigungstabletten, die durch die Wucht des Schlages am ganzen Tisch verstreut waren. Bald jährte sich der Todestag der beiden. Ein Amokläufer schleuderte der Welt an diesem Tag seinen ganzen Hass entgegen, indem er so viele Menschenleben auslöschte, wie er konnte. Ben, ihr wundervoller Ehemann, und die kleine Sammy – der Sonnenschein der Familie – kamen im Kugelhagel um. Carla überlebte. Der Riss, den ihre Seele durch das Ableben ihrer Liebsten bekommen hatte, stürzte sie in eine tiefe Dunkelheit. Sie musste ihren geliebten Job als Lehrerin aufgeben. Bekam trotz starker Psychopharmaka und Therapie regelmäßig Panik-Attacken und Weinkrämpfe. Bilder des Vorfalles suchten sie in ihren Träumen heim und ohne starke Schlaftabletten stand sie keine Nacht durch.
Der Todesschütze war gefasst worden. Sein Anwalt plädierte vor dem Geschworenengericht auf Unzurechnungsfähigkeit. In seinem Befund attestierte der Gerichtsgutachter jedoch, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat bei klarem Verstand gewesen war. Carla konnte sich noch gut an das hämisches Lächeln dieses Scheusals erinnern, welches er den Geschworenen entgegenwarf, als sie ihn einstimmig zum Tode verurteilten. Kein Funken Reue war aus seinem Blick abzulesen gewesen. Ein Teufel auf Erden.
Luther vernahm das vertraute Rascheln eines Schlüsselbundes. Längst war es Gewohnheit geworden. Tag für Tag hörte er es. Seit 40 Jahren wartete er auf die Exekution seiner Strafe – Tod durch Giftspritze. Mit dem Gedanken, sein Leben auf diese Art und Weise zu verlieren, konnte er sich noch immer nicht abfinden. Die quietschenden Schritte des Wärters kamen näher und näher. Zu dieser Zeit traf normalerweise die Post ein, die ein gemischtes Gefühl in Luthers Magengegend auslöste. Sie konnte Licht oder Schatten, Hoffnung oder Verderben bringen. Luthers Prozess war schon in der letzten Instanz angelangt. Vor Monaten hatte er ein Gnadengesuch an den Gouverneur des Bundesstaates abgeschickt. Ein letzter verzweifelter Akt eines gebrochenen Mannes. Die Chancen standen schlecht, dass seinem Flehen nach Gnade nachgekommen werden würde. Viel eher brächte der Wärter die Nachricht, die das Ende seines Seins bedeutete.
Doch heute war alles anders. Ein surrealer Tag. Luther durfte auf Grund guter Führung einen kleinen Fernseher sein Eigen nennen, hatte die Botschaft der Polit-Elite zwar vernommen, wirklich realisieren konnte er sie jedoch nicht. Wenn man Tag für Tag mit dem Gedanken aufsteht, dass nicht die kleine Zelle, nicht der rare soziale Kontakt und nicht der Mangel an Sonnenlicht das größte Problem im Leben war, sondern die blanke Angst vor dem Tod den Alltag überschattete, drohten Selbstaufgabe und Hoffnungslosigkeit jede Zuversicht zu ersticken. Er würde erst dann glauben, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, wenn die Mauern des Gefängnisses eine bloße Erinnerung waren.
Der Wärter stand an der Gittertüre: „Luther, du hast es geschafft. Wir bringen dich raus“, routiniert sperrte er das Sicherheitsschloss auf.
Luther verharrte.
Die Gefängnistüre schwang singend auf. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Dasselbe Geräusch vernahm er, als sie voriges Jahr Brian, seinen Zellen-Nachbarn, der ihm das Schachspielen beibrachte, abgeholten, um ihn hinzurichten. Er konnte sich noch an den stoischen Gesichtsausdruck des kleinen, zähen Mannes erinnern.
„Mach’s gut, Luther“, durchbrach er seine ruhige Miene ein letztes Mal mit einem warmen Lächeln für seinen lieb gewonnenen Freund.
„Das Schachspiel kannst du behalten.“
Dann schlurfte er – Hände und Füße in Ketten gelegt – den langen dunklen Gang entlang.
„Nein! Ich will nicht sterben! Ich bin unschuldig!“, schrie Luther paranoid.
„Beruhige dich. Du bist ein freier Mann. Die Todesstrafe wurde abgeschafft und du hast deine Zeit abgesessen“, der Wärter fasste ihn behutsam an die Schulter.
„Ihr habt Brian getötet! Ihr wollt auch mich töten! Ich bin unschuldig!“, plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er sackte zusammen, doch der Wärter fing ihn auf.
Als er die Augen wieder öffnete und sein Blick langsam klarer wurde, erkannte Luther die vertrauten Konturen eines geliebten Menschen. Liebevoll strich ihm seine betagte Mutter durch die schütteren, ergrauten Haare. Ihr fürsorglicher Blick machte alle Sorgen vergessen. „Bin ich wirklich frei oder ist das nur ein böser Traum?“, seine Stimme klang zittrig und schwach.
Fest umschloss sie eine seiner Hände mit den ihren und sagte: „Wir können nach Hause fahren, Steven.“
Erleichterung und neu gewonnene Lebenskraft durchströmten Luthers – von der Gefangenschaft gezeichneten – Körper. Als die beiden ins überwältigende Tageslicht traten, Luther seine Lungen mit Freiheit füllte, drehte er sich noch einmal um und sagte diesem Teil seines Lebens innerlich Lebewohl.
Eine Woche später brachte der Postbote einen Brief eines anonymen Absenders:
Gezeichnet
der Andere
Luther verbrannte das Stück Papier. Er wollte seinen Lebensabend in Frieden und Eintracht verbringen.