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Janus Potter
Solange ich denken kann ist Janus Potter mein Idol! Die Größe, sein Uneigennutz und sein ausgelebter Idealismus machten ihn für mich und für diese Stadt zur wichtigsten Person in ihrer Geschichte. Ohne Potter wären wir nicht da, wo wir jetzt sind, ganz ohne Zweifel. Er hat uns gezeigt, dass das Wort Menschlichkeit nicht nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben ist, er hat es uns vor gelebt.
Natürlich brauche ich niemandem zu erzählen, wer Janus Potter ist und was er darstellt, zumindest nicht in dieser Stadt. Zu viele Preise wurden ihm verliehen, die er in seiner bescheidenen Art stets an gemeinnützige Vereine oder wohltätige Organisationen weitergab. Er ist ein Gönner der Menschheit, und alles was er anfasst wird zu Gold. Kurz, er ist ein Gutmensch, eine Lichtgestalt zu der wir aufblicken, die nichts Schlechtes an sich hat.
Und doch umrankt ihn ein Geheimnis, das kaum einer kennt in unserer Stadt. Seit zweieinhalb Jahren ist Janus Potter, der Mäzen des Volkes, Politiker mit vielen Ämtern und Wohltäter aus Passion verschwunden und niemand weiß genau wohin. Es ranken sich Gerüchte um sein Verschwinden, Vermutungen und Theorien. Von einem Tag auf den anderen war er unauffindbar, niemand wusste Bescheid, nicht seine vielen Freunde, noch seine Bekannten oder Verwandten, und auch nicht seine Ehefrau, die sein Verschwinden am allerwenigsten verstehen konnte.
Doch ich weiß, wo er abgeblieben ist. Und ich breche hiermit mein Schweigen. Ich habe lange überlegt, ob ich es wagen kann, die Wahrheit preiszugeben, denn nicht ohne Grund hielt man sie die ganze Zeit geheim. Ich weiß, wo er ist und was er tat und warum sein Verschwinden wichtig war für unsere Stadt. Ich muss es wissen, denn ich bin sein Pfleger.
In dem Augenblick, in dem Janus Potter bei uns eingeliefert wurde, in dem Moment, in dem ich ihn sah, in diesem Augenblick verlor ich all meinen Respekt vor ihm. Die Bewunderung, die ich früher für ihn empfunden, das Verlangen, ihm nachzueifern, so zu werden wie er, all diese Gefühle waren verschwunden und machten einem tiefen Misstrauen Platz. Er hatte sich verändert, als er zu uns kam, er war ein anderer geworden. Nicht dass mich sein Irrsinn gestört hätte, sehr viele Menschen, die ich kenne und mag, tragen diesen Funken in sich. Nein, das war es nicht. Er war nicht mehr gut, das war es.
Seitdem er bei uns ist, sind wir uns bewusst, dass wir schweigen müssen, nicht nur über die Tatsache, dass Janus Potter in unserer Anstalt weilt, sondern auch über seinen Zustand. Es wäre überaus gefährlich für die Stadt, wenn die Fakten nach draußen drängten. Deshalb schreibe ich diese Zeilen, die Wahrheit muss ans Licht, so hässlich sie auch sein mag und wie wenig wir sie auch vertragen mögen.
Als dieser perverse Serienmörder durch unsere Stadt schlich, da begann es. Natürlich wusste damals noch niemand davon, ich am allerwenigsten. Ich war auch zu der Zeit schon Pfleger in dieser Anstalt und beobachtete wie alle Einwohner unserer Stadt die nächtlichen brutalen Schlächtereien mit Entsetzen und Angst. Je länger diese Morde dauerten, desto lähmender war die Furcht, die in den Straßen herrschte.
Ich brauche natürlich niemandem von diesen schrecklichen Wochen erzählen, in denen wir alle wie hypnotisiert darauf warteten, dass das Untier, das diese Taten verübte, gefasst wurde. Es konnte nicht lange dauern, bis die Bestie gefasst wurde, dachten wir damals.
Solch brutale, bestialische, sinnlose Morde und Verstümmelungen konnte kein Mensch anrichten, es schien, als sei das absolut Böse, die vollkommene Schlechtigkeit in unsere Stadt eingekehrt. Tötungen genügten dem Scheusal nicht, er musste seine Opfer demütigen und quälen. Die Zeitungen sprachen davon, dass er einen Teil seiner Opfer stundenlang leiden ließ, bevor sie starben. Sie mussten bei vollem Bewusstsein mitansehen, wie er ihnen die Gliedmaßen absägte, danach die Bauchdecke aufschnitt, Organe herausriss, die nur bedingt lebenswichtig sind, er verhöhnte sie, indem er ihnen die Augen ausschabte. Wer diese Tortur bis hierher überlebt hatte, der kapitulierte spätestens jetzt, angesichts des Schmerzes und der Leiden. Wer standhielt, wurde von der Bestie schließlich umgebracht – keine Hoffnung!
Die Situation war kurios und erschien dem Betrachter mit Sicherheit skurril. Noch niemals vorherhatte es einen solchen Gönner für die Stadt gegeben wie Janus Potter. Mehr als einmal vermachte er der Gemeinschaft erhebliche Spenden, er eröffnete Waisenhäuser, schenkte eigenhändig in der Armenküche Suppe aus (die er selbst gekocht hatte), er half wo er konnte, mit Tat oder seinem Geld, kurz, er war ein leuchtendes Beispiel und mahnendes Gewissen für ein selbstloses Leben.
Auf der anderen Seite, quasi als negativer Gegenpol dieses Untier, das die nächtlichen Straßen leer fegte mit seinen Taten und dem stummen Versprechen an einen jeden einzelnen, er sei der nächste in der Reihe der Opfer, die entwürdigt und verstümmelt in unserem Leichenschauhaus lagen.
Was Lag da näher, als dass Janus Potter in seinem grenzenlosen Idealismus sich dafür einsetzte, dass die schrecklichen Morde aufhörten und der Täter gefasst und seiner Strafe zugeführt würde.
Er informierte sich bei den Behörden über den aktuellen Stand der Ermittlungen, er zeigte sich vor Ort, machte den diensttuenden Polizisten Mut, indem er direkt zum Schauplatz des Geschehens fuhr und bei den Ermittlungen dabei war. Mit allen möglichen Mitteln unterstützte er die Behörden, mit Geld und Sachspenden, mit guten Worten und seinen überaus effizienten Beziehungen. Er wandte sich sogar via Medien direkt an den Verbrecher, um ihn zum Ablassen von seinen Taten zu bewegen. Zunächst veröffentlichte er einen Artikel in der größten Tageszeitung der Stadt, in dem er zwingend darlegte, dass der Mörder früher oder später gefasst werden musste. Im Schlusssatz forderte er ihn dringend auf, sich selbst zu stellen, was für ihn und natürlich seine potentiellen Opfer das Beste wäre.
Einige Zeit später sprach er in einem Fernsehinterview noch einmal direkt zu dem Täter und flehte ihn inständig an, sein Tun zu überdenken.
Es nützte nichts. Wie zum Hohn auf diese Bemühungen, wurde am anderen Morgen die nächste grausam verstümmelte Leiche gefunden.
Die Stadt geriet in Panik. Man sprach von übernatürlichen Mächten, die am Werke seien und von einem Fluch. Die Straßen blieben nach Einbruch der Dunkelheit verwaist, wer keine unverschiebbaren Termine wahrzunehmen hatte, blieb zu Hause und wartete die Morgendämmerung ab. Gaststätten und Restaurants schlossen früher als üblich, Theater und Kinos sagten Vorstellungen ab, weil kaum Karten verkauft wurden. Das Nachtleben unserer Gemeinde erlag vollständig, seitdem der Killer sein blutiges Handwerk verrichtete. Und es war nicht abzusehen, wann diese schreckliche Sache endlich vorbei war.
Diese Fakten, natürlich, Sie kennen sie alle, ich erzähle Ihnen damit nur Altbekanntes. In den Zeitungen waren die Geschehnisse zu verfolgen, im Fernsehen, im Radio. Doch was ich jetzt erzählen werde, das wird neu sein für Sie, da die beiden einzigen Menschen, die Kenntnis haben davon, Janus Potter auf der einen Seite ist und auf der anderen ich, sein Pfleger, stehe.
Er teilte mir sein Erlebnis nicht direkt mit. Vielmehr reimte ich mir diese Geschichte nach und nach mühsam aus scheinbar unzusammenhängenden Bemerkungen, die er dann und wann fallen ließ. Denn Janus Potter redet nicht mehr zusammenhängend, und er wird es auch nie wieder tun. Janus Potter redet wirr.
Janus Potter ist dem Killer begegnet, das hörte ich schon kurz nach seiner Einlieferung aus seinen Erzählungen heraus. Er stand der Bestie allein auf menschenleerer, nächtlicher Straße gegenüber, er sah dem Grauen ins Auge, dem absolut Bösen.
Er kam von einer Wohltätigkeitsveranstaltung, einem Vortrag oder ähnlichem. Vielleicht hatte das Benefiz etwas länger gedauert als geplant, es war vielleicht etwas dazwischengekommen. Auf jeden Fall war es schon finster, als Janus Potter sich auf den Heimweg machte. Und um zu demonstrieren, dass sich die Menschen in unserem Ort nicht unterkriegen lassen, lehnte er alle Angebote, mit einem Taxi oder in Begleitung heim zu gelangen ab und machte sich zu Fuß und allein auf den Weg. Natürlich war es gefährlich und eine Provokation, das wusste auch Janus Potter. Gleichwohl war er überzeugt, dass er die Pflicht hatte, sich auch auf diese Art dem Monster entgegen zu stellen.
Die Nacht war ruhig, die Laternen erhellten den Weg nur dürftig und es herrschte ein leichter Nebel, der in Fetzen durch die Straßen trieb. Janus Potter schritt frohen Mutes aus und er ließ sich nicht von dem unheimlichen Echo, das seine Schritte verursachten, irritieren.
Niemand begegnete ihm, es war nirgends eine Menschenseele zu sehen, und die Stille, die herrschte, war furchteinflössend. Doch es ging voran. Der Weg war nicht weit, und er kannte ihn im Schlaf. Er führte ihn vorbei an einigen Geschäften, die jetzt natürlich geschlossen waren, an einer Kneipe, die keine Kunden mehr hatte und an einem Kindergarten, dessen Fenster jetzt ebenfalls dunkle, tote Augen waren. Er ließ sich davon nicht entmutigen. Auch nicht von dem Stadtteil, den er jetzt durchqueren musste und der, soweit es so etwas gibt in unserem Ort, zu den ärmlicheren zählt. Hier war es noch ein wenig einsamer und noch etwas finsterer, doch er schritt weiter.
Dann sah Janus Potter die Gestalt, die sich in zehn Meter Entfernung über etwas auf der Erde liegendes beugte. Die Person, die sich nicht bewegte, hatte einen langen, schwarzen Umhang übergeworfen, so dass von ihrem Körper kaum etwas zu erkennen war.
Potter schüttelte das Entsetzen ab, das ihn für einen Moment gelähmt hatte, und schritt leise auf den am Boden knienden zu. Er konnte fast sehen, um wen es sich handelte, der Mann bewegte sich immer noch nicht. Doch plötzlich stand er geräuschlos auf und ohne sich umzuwenden, lief er davon. Diese Bewegungen liefen ab, wie in einem Film, dessen Ton abgedreht war.
Janus Potter ging zu dem Bündel, über das sich der Fremde gebeugt hatte. Er trat dazu und warf einen furchtsamen Blick darauf.
In seinem Inneren war er gefasst darauf, was ihn erwartete. Und doch versagten ihm die Beine den Dienst und seine Lungen weigerten sich einige Sekunden, Luft zu holen, als er den Haufen Gewebe sah, der früher einmal ein Mensch gewesen war. Nach einigen Momenten der Bestürzung lief er weiter der Gestalt hinterher. Er wollte dem Spuk ein für alle Male ein Ende machen. Ich weiß nicht, ob es Potter bewusst wahrnahm, sein Unterbewusstsein registrierte in jedem Fall, dass dieses blutige Häuflein, als er vorbeilief seinem Peiniger hinterher, ein Stöhnen von sich gab und eine mühsame, schwerfällige Bewegung vollführte mit dem einen Arm, der ihm noch geblieben war zu seinem Auge hin, das einen halben Meter von ihm entfernt lag.
Potter lief weiter, getrieben von unbändiger, ohnmächtiger Wut auf das Tier, das diese Schlächterei zu verantworten hatte.
Er hetzte hinterher hinter der Person und verlor sie nicht aus den Augen. Der Mörder wusste jetzt, dass er verfolgt wurde, es ging ihm an den Kragen. Er würde jetzt endlich zur Rechenschaft gezogen. Deshalb rannte auch er in maßloser Hast durch die nächtlichen Straßen, von niemandem beobachtet.
Es ging durch finstere Gassen, in denen Unrat auf dem Weg lag und die Männer am Laufen hinderte. Potter stolperte und fiel der Länge nach hin. Die Abschürfungen und die Prellungen, die er sich dabei zuzog, ignorierte er. Er raste weiter. Der Killer kam nicht besser durch auf seiner Flucht. Er blieb nach einer ganzen Zeit mit seinem langen, schwarzen Umhang an einem Maschenzaun hängen, und kriegte es nicht fertig, sich davon zu befreien. Immer hastiger und immer wilder zerrte er an dem Stück Stoff, je näher ihm Janus Potter kam. Dieser hatte seine Chance erkannt und wusste, dass seine Beute ihm nicht mehr entkommen konnte. Langsam und schwer atmend kam er näher. Der Fremde riss seinen Umhang immer noch hin und her, doch dieser war unentwirrbar an dem Zaun hängen geblieben. Dem Killer kam zu Bewusstsein, dass er gefangen war. Janus Potter hatte die Bestie gestellt, die für die schlimmste Mordserie, die jemals verübt wurde, die Verantwortung trug. Er ging langsam auf ihn zu.
Der Mörder hielt den Kopf gesenkt und war ebenso außer Atem wie Potter. Potter sprach ihn an, er redete auf ihn ein, um den Wahnsinnigen zu beruhigen, doch der war ganz ruhig. Reglos stand er am Zaun und blickte zu Boden.
„Zeig dein Gesicht“, schrie Potter ihn an. Und der Fremde hob seinen Kopf.
Der Anblick der sich ihm bot, trieb Janus Potter in den Wahnsinn, und er würde jeden anderen auch dem Irrsinn verfallen lassen. Niemand könnte dieses Gesicht betrachten, diese Entdeckung machen und anschließend immer noch fröhlich sein, sich an Farben freuen oder an Kinderlachen. Das Leben wäre zu Ende für jeden von uns, wenn er diese Entdeckung machte. Und auch für Potter war das bisherige Leben vorbei. Sein jetziges Dasein spielt sich auf niedrigstem geistigen Niveau ab, er ist ein brabbelndes, sabberndes Kleinkind. Er konnte diesen Anblick nicht verkraften.
Denn als die Bestie den Kopf hob, da blickte Janus Potter in ein Gesicht, das seinem eigenen bis aufs Haar glich. Und nicht nur das, es war sein eigenes, das Gesicht von Janus Potter.
Er wurde am Morgen gefunden, im Rinnstein liegend, unsinniges Zeug plappernd und über und über mit Blut beschmiert. Niemand bekam ein vernünftiges Wort aus ihm heraus.
Außer ich, wie gesagt, ich kenne seine Geschichte und habe sie Ihnen hiermit überbracht.
Was gibt es noch zu sagen?
Ach ja, die Morde hörten schlagartig auf nach dieser Nacht. Doch den Urheber der Bluttaten, die Bestie oder das personifizierte Böse konnte man nie fassen.
24.06.02