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Janice
„Was spielst du da, Papa?“
„Nix.“
„Ooahr, darf ich das mal klicken?“
„Es heißt tippen, bei Handys.“
„Darf ich?“
„Jetzt nicht, Janice.“
„Ich kann das aber!“
„Finger weg.“
Ich habe ihnen gegenüber Platz genommen und den Notizblock aus der Tasche gezogen. Wollte an meiner Geschichte über eine Gruppe Russen weiterschreiben.
Aber die Kleine lenkt mich ab.
„Was spielst‘n du jetzt?“
„Mmh?“
„Was du spielst?!“
„Was für Erwachsene.“
„Ooahr, guck mal das Viech! Ist das ein Zom-Pi?“
„Mmh.“
Sie rutscht von seinem Schoß herunter. Dann rennt sie los, ihre Beine fliegen durch die Luft wie die Keulen eines Artisten. Einmal die zwanzig Meter Flur entlang bis zu seinem Ende. Sie schlägt mit der flachen Hand gegen ein Dienstzimmer und stößt sich kräftig ab für den Rückweg. Springt wie ein Fohlen über die herausstehenden Beine der Wartenden und schlägt wieder an, diesmal, aus vollem Lauf, gegen Papa.
„Wie Polt!“, kreischt sie - und er lässt vor Schreck das Smartphone fallen.
„Was? Wer ist Polt?“
„Der Renner, der Ol-ym-pi-a-ren-ner, der gelb-grüne!“
Mit einem „Scheiße!“ hebt er das Handy auf, dreht es verzagt in seiner Hand, sucht nach Schäden. Dann löst er die Tastensperre und spielt weiter.
„Welche Nummer?“, will sie wissen, als der hässliche Gong ertönt.
„Meine“, atmet er auf. „Du bleibst hier sitzen, Janice. Neben Mama, okay?“ Gegen einen unsichtbaren Widerstand setzt er sich in Bewegung, schlurft den Gang entlang und verschwindet hinter einer Tür. Sie sieht ihm mit aufgerissenen Augen hinterher. Dann setzt sie sich auf ihren Stuhl und baumelt mit den Beinen. Betrachtet die grau-orangefarbene Box, aus der Papa vor Zeiten einen Zettel gezogen hat, eine „Nummer“. Es war die drei-eins-eins und drei-eins-eins steht jetzt feuerwehrrot auf dem Dings an der Wand.
„Wo ist der Papa jetzt?“, fragt sie und schiebt sich eine blonde Strähne aus dem verschwitzten Gesicht.
„Drin.“
„Ja, aber was ist da drin?“
„Mmh? Janice, lass mich das jetzt mal bitte zu Ende machen.“
„Was ist drin?“
„Eine Frau.“
„Was für eine Frau?“
„Seine Sachbearbeiterin. Setz dich bitte auf deinen Stuhl, Janice. Oder meinetwegen auf Papas. Hampel nicht so rum, du raubst mir die Nerven.“
„Sach-be-rei-te-rin. Was spielst du, Mama?“
„Garnichts.“
„Doch.“
„Ich checke Mails.“
„Was ist Mehls?“
„Ich lese Briefe.“
„Von wem denn?“
„Mmh?“
„Von wem sind denn die Briefe?“
„Von niemand Besonderem.“
„Machst du mir mein Spiel an – das, das ich kann?“
„Nein.“
„Ooarh, bitte! Du weißt doch, welches ich meine! Das mit die Klötzchen, die immer schneller runterfallen. – Mama?“
„Mmh?“
„Hast du das Spiel auf deinem Handy oder ist es auf Papas?“
„Welches Spiel?“
„Das mit die Klötzchen.“
„Klötzchen?“
„Rote und blaue, ich kann sie mit dem einen Finger drehen und mit dem anderen kann ich …“
„Ach, Mensch!“ Janice-Mutter ist laut geworden, die Kleine fährt erschrocken zusammen. „Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst dich nicht so an mich ranschmieren. Du zerknautschst mein Top, guck mal, wie ich jetzt aussehe.“
„Du siehst hübsch aus, Mama.“
Die Kleine hebt ihren Finger und beginnt, die Form von Mamas Tattoo nachzuzeichnen.
„Hör auf! Jetzt renn meinetwegen noch mal über den Flur, Janice. Mach irgendetwas, aber lass mich in Frieden!“
Sie fetzt los, hin und wieder zurück.
„Immer noch Mehls tschekken?“, keucht sie atemlos.
„Warum muss der Papa zu der Frau?“
„Weil er arbeitslos ist.“
„Warum ist er ar-beiz-los?“
„Ooarh, Janice, du machst mich echt fickrig mit deinen Fragen!“
„Warum ist er es?“
„Was?“
„Ar-beiz-los.“
„Weil er nichts kann.“
„Das stimmt nicht!“, ruft sie entsetzt. Schnappt vor Erregung nach Luft, dann zieht sie die Stirn kraus, ordnet ihre Gedanken und erklärt: „Papa kann ganz viel! - Also: Schpagetti machen und Buchstabensuppe. Hämmern und Bohren. Er hat mir einen Stern-Himmel übers Bett gehängt! - Er holt mich freitags von der Oma ab, wenn du im Kaufland arbeitest. Und er hat den Fernseher anders eingestellt, so dass wir jetzt ganz viele Programme haben - nicht so wenige und blöde wie Kim-Cheyenne. Wie viele Programme haben wir, Mama?“
Triumphierend blickt sie in die Runde.
Ohne Erfolg, die Leute haben schlechte Laune. Außer der Mann gegenüber. Der, der sie die ganze Zeit anstarrt und mit dem Stift in ein Heft schreibt.
„Wieviel Programme?“
„Ich weiß es nicht, Janice. Was soll das jetzt schon wieder - lass meine Ohrringe in Frieden! Setz dich hin und halt still.“
„Mama?“
„Verdammt noch mal Janice! - Kannst du nicht ein einziges Mal am Tag den Mund halten? Blablabla, wie geht dieses, wie geht jenes? Ich bin müde und du nervst einfach!“
Ihre baumelnden Beine werden ihr langweilig. Sie springt vom Sitz herunter und auf den neben mir drauf.
„Bist du auch ar-beiz-los?“
Aus der Nähe betrachtet ist ein Kind ein Wunder. Augen, Nase und Mund fleißige Zwerge, die Haut frisches Obst.
„Ja“, antworte ich.
„Weil du nichts kannst?“
Darüber muss ich nachdenken. „Ja“, sage ich dann. „Wahrscheinlich liegt es daran.“
Begeistert checkt sie die Lage von ihrer neuen Position.
„Warum ist die Frau so dick?“, flüstert sie mir ins Ohr.
„Vielleicht“, flüstere ich zurück, „macht ihr Mann wunderbar große Schnitzel. Solche, die weit über den Tellerrand hinausragen.“
„Über den Tellerrand?“, kreischt Janice.
„Ja“, sage ich. „Sie sind viel größer als der Teller, sind neugierig und schauen über den Rand. Laufen los und …“ Ich mache eine tippelnde Bewegung mit meinem Finger.
„Und?“
„Und ab in deinen Mund!“
Sie lacht. Janice Mutter schaut hoch, ich lächle sie an. Sie reagiert, indem sie eine Schachtel Zigaretten hervorzieht, darauf deutet und, erstaunlich schnell, verschwindet.
„Bist du schon immer ar-beiz-los?“
„Aber nein. Früher war ich Hausmeister. In einem Kindergarten. Ich habe ein bisschen gezaubert für die Kinder, so nebenbei, weißt du.“
„Zaubern!“, quiekt sie. „Los, zaubern!“
„Na gut.“ Ich brauche einen Moment, habe alles vergessen. Ich verstecke meine Hände hinter dem Rücken, balle die Linke zu einer Faust und stecke den Daumen zwischen die Finger. Dann krümme ich den Zeigefinger meiner Rechten und halte ihn mit dem Daumen fest. Spreize die jeweils verbleibenden Finger der rechten und linken Hand ab und wende mich wieder dem Mädchen zu. Verdecke mit dem Zeigefinger der Linken den Spalt zwischen den Händen und bewege sie hin und her. Janice macht große Augen. Aus ihrer Position sieht es aus, als würde ich mir den rechten Zeigefinger wechselseitig amputieren und wieder zusammensetzen. Sie versucht, um den Abdeckfinger herumzusehen, kommt immer näher, krümmt sich, als hätte sie Bauchschmerzen. Ich schüttle meine Hände aus und lache.
„Du kannst ja doch was“, meint sie.
„Ich glaube, jeder Mensch kann etwas. Und irgendetwas davon besonders gut. Was ist es bei dir?“
„Klötzchenspiel!“, sagt sie ernst.
Die Mutter kommt zurück, setzt sich und stinkt nach Nikotin. Ich bin verlegen, weiß nicht, ob es ihr recht ist, dass ich mich mit ihrer Tochter abgebe. Die Kleine ist höchstens sechs und ich ein Wildfremder. Meine Sorge ist unbegründet, die Frau zieht ihr Telefon aus der Hose und streichelt geistesabwesend über das Display.
Schöne Hände hat sie - wenn mir auch diese aufgeklebten Nägel nicht gefallen. Dabei soll das ja so teuer sein. Ich überlege, wie oft und wie lange sie Janice wohl streicheln mag mit ihren schönen Händen. Gerate dabei auf Abwege, denke unsinniges Zeug, Dinge wie: wer denn mich zuletzt gestreichelt hat, und wie lange. Ich starre auf das Gesicht der Frau und dann auf ihre Brüste. Ein Piercing steckt in einer der Warzen.
In Natur habe ich so was noch nie gesehen.
„Fernsehen!“, reißt mich Janice aus meinen Gedanken. „Das kann ich gut. Ich kann jeden Tag fernsehen, so lang ich will.“
„Ja - aber so etwas meinte ich nicht. Denk mal nach, was kannst du noch, kleines Frollein?“
Sie kichert über das archaische Wort.
„Ich kann das ganze Programm auswendig. Also: Montags kommt „Spongebob“, danach „Katzekratz“. Dienstags die „Simpsons“, … mittwochs „Mitten im Leben“ und danach „Richter Holt“. Donnerstags die „Rasselbande“ und die „Gummibärchen“. Freitags kommt „X-Faktor“, da singe ich immer mit. Wenn ich mal groß bin, gehe ich auch dahin und singe vor, und tanze, und gewinne den Preis!“
Ich nicke andächtig. „Aber ich hab dich auch rennen sehen.“
„Klaro.“
„Ich habe früher mal geboxt.“
„Hast du noch Muckies? Ich ja, schau! Ich werd mal Olympia!“
„Mächtig gewaltig. Ich kann Geschichten erfinden.“
„Geschichten!“ Sie klatscht in die Hände.
„Ich schreibe sie mir immer auf.“ Ich zeige ihr mein Heft, sie nimmt es in die Hand und blättert die Seiten auf der Suche nach Zeichnungen durch.
„Erfinden wir doch mal eine zusammen“, schlage ich vor. „Einen Teil erfindest du und einen ich. Mal sehen - wer soll denn in unserer Geschichte mitspielen?“
„Der Papa!“, brüllt Janice.
„Der Papa, okay. Und wer noch?“
„Ein Zom-Pi.“
„Meinetwegen. Dann darf ich jetzt auch zwei … Ich nehme einen alten Zauberer …“
„Wie der Herr der Ringe!“
„Genau. Und dann nehme ich noch die Frau vom Arbeitsamt.“
„Wieso denn die?“ Janice verzieht den Mund.
„Weil die Geschichte hier, in ihrem Büro, spielt. Hinter der Tür, durch die Papa gegangen ist.“
Die Kleine versinkt in Schweigen. Brütet vor sich hin, bis ihr etwas einfällt: „Der Zom-Pi kommt rein!“
„Okay. Und dann?“
„Schlägt Papa ihn tot!“
„Aber warum denn? Hat er nicht angeklopft? Nein - der Zombie kann ja zunächst mal ‚Guten Tag!‘ sagen, und dein Papa und die Frau vom Arbeitsamt geben ein: ‚Guten Tag!‘ zurück.“
„Na gut.“
„Und was kommt dann?“
„Der Zom-Pi … sagt: ‚Ich kann nix!“
„Hervorragend. Darauf antwortet die Frau vom Arbeitsamt: ‚Da sind Sie hier ja genau richtig. Im Übrigen: Sie sehen schrecklich aus – Sie brauchen Hilfe!“
„Oh ja, oh ja“, wimmert Janice, „ich brauche Hilfe! Ich brauche einen Arzt!“
Sie rutscht von ihrem Stuhl. Stellt ihren rechten Fuß quer, dreht ihn in einem schmerzhaften Winkel vom Körper weg und humpelt ein paar Schritte über den Flur.
„Besorgniserregend“, konstatiere ich. „Okay, … deswegen hat die Frau vom Arbeitsamt eine Bombenidee.“
„Und welche?“
„Sie sagt: Hier, der Papa von Janice - der kann Ihnen helfen! Er kann Ihnen den bösen Fuß verbinden und sie gesund pflegen. Und wenn sie dann wieder laufen können werden Sie Fußballtrainer und trainieren die kleine Janice.“
Sie freut sich – auf einen Schlag aber legt sich ihre Stirn in Falten.
„Wir haben den Herr der Ringe vergessen.“
„Ach ja, den Zauberer. Der … macht was am Computer von der Frau Arbeitsamt. Und schon spuckt der Drucker die tollsten Berufe für den Papa aus. Welche denkst du, was könnte ihm Spaß machen?“
„Raketenmann! Also Sternfahrer. Der Papa wird Sternfahrer und nimmt mich mit.“
„Zum Mond?“
„Nee … viel weiter. Bis dahin, wo Au-ßer-ir-di-sche leben.“
„Und die Mama kommt auch mit?“
Ich hebe den Kopf und suche Blickkontakt zu Janice-Mutter.
Sie hat die Augen geschlossen, dafür die Lippen ein stückweit geöffnet. Sie hat den Kopf gegen die Wand gelehnt, hängt wie ein übermüdeter Schüler in ihrem Stuhl. Ich betrachte ihr Tattoo. Es ist ein Drache, ich verfolge seine Konturen von oben nach unten. Zunge, Maul und Zähne des Drachen bedecken ihren Hals, sein Kopf schmiegt sich wie ein Baby an ihre Brust. Ihr Top ist hochgerutscht. Es offenbart, spielkartenbreit zwischen Hosenbund und Top, nackte Haut. Ich muss hinsehen. Starre zwanghaft auf die Stelle und identifiziere das Muster als Flügel. Der Lindwurm schlängelt sich über ihren ganzen Körper, mein Herz schlägt schneller bei der Erkenntnis. In meiner Vorstellung zeichne ich den Drachen weiter, male seine Klauen auf ihre Hüfte und seinen Schwanz auf ihr linkes Bein.
Wie Hunger oder Durst überfällt mich die Lust, packt mich das an Schmerzen grenzende Verlangen, eine Frau zu berühren. Ich bin ein trockener Alkoholiker beim Anblick des Jim Beam und beginne zu schwitzen. Schlage die Beine übereinander und reiße meinen Blick von ihr los.
„Mama muss mit!“, kreischt die Kleine. „Sie hat doch auch ein Tatuh mit Sonne und Mond!“
„Janice“, stöhnt die Drachenfrau, ohne die Augen zu öffnen. „Es reicht. Lass den Mann …“
„Aber es sieht doch so schön aus! Viel schöner als das Tatuh von Tante Michelle.“
Janice macht ein ernstes Gesicht: Was sie mir zu sagen hat, ist wichtig.
„Tante Michelle sagt, es ist ein Drei-Bell, aber Papa nennt es Arschgeweih.“
Ich muss lachen und blicke in die Runde. Keine Reaktion, ich komme mir vor wie der Typ, der an der falschen Stelle des Weihnachtsoratoriums klatscht.
„Papa!“ ruft Janice plötzlich und stürzt los.
„Und?“, fragt ihn Janice-Mutter.
„Nix.“ Er nestelt sich eine Zigarette aus dem Hemd, steckt sie zwischen die Lippen und hält das Feuerzeug bereit. Geht an uns vorbei in Richtung Lift.
„Janice, komm!“, sagt die Mutter und zieht ihre eigene Packung hervor.
Das Mädchen reagiert nicht sofort. Die Mutter packt ihre Hand - Janice dreht sich noch einmal nach mir um, der Arm gedehnt wie ein Gummiband. Sie stolpert über die Krücke eines Anspruchsberechtigten und fällt, schlägt lang auf den Flur.
Der Vater dreht sich um. Ist in einem Satz bei ihr, zerrt sie hoch und schlägt ihr routiniert ins Gesicht. Janice Kopf fliegt zur Seite, ich sehe verwirrte, weit aufgerissene Augen und einen Speichelfaden.
Eine Minute Theater, dann kommt der Lift. Janice Geschrei wird mit jedem heruntergezählten Stockwerk leiser und verstummt.
„Welche Nummer haben Sie?“, fragt mich die dicke Frau.
Verdammt, ich habe noch nicht mal eine Nummer gezogen. Peinlich berührt hole ich es nach. Ich ziehe die 318, die 312 ist grad drin. Sechs Personen, eine Stunde Zeit, denke ich und greife nach dem Notizbuch.
Schreibe die Rohfassung einer kurzen Geschichte.
Das kleine Mädchen darin ist gesund und putzmunter, hat strahlende, neugierige Augen und freut sich auf die Welt.