jakob und adele
Jakob und Adele
Ich ging durch die kleine eiserne Pforte und war maßlos überrascht, als es geschah: Es war früher.
Derselbe Geruch, ausgelassene Kinderstimmen, Geschrei und Gerenne, das selbe Gefühl. Jede Kleinigkeit fiel mir wieder ein, die bröseligen Fugen des backsteinroten Hausmeisterhauses ebenso vertraut wie das rund geschwungene Betondach vor der Turnhalle, das von tiefblau lackierten Eisensäulen gestützt wurde.
Wie mit dem Lineal gezogen begrenzen 5 Linden die eine Seite des Schulhofs. Jeder Baum steht in einem kreisrunden Asphaltloch, dessen lehmige Mitte der Turnierplatz erbarmungsloser Turniere in den Herbstmonaten war. Ich suche die kleinen halbkugeligen Mulden, in denen bunte Tonmurmeln, von uns nur „Knicker“ genannt, Stück für Stück, von erfahrener Hand geschoben, verschwanden und in dem dunklen Lehm so lange den begehrlichen Blicken der Kontrahenten ausgesetzt glänzten, bis die letzte, alles entscheidende Kugel Triumph und Tragödie besiegelte. Dahinter ein verzinkter Maschendrahtzaun, der den Blick auf abenteuerlich kreuz und quer gespannte Wäscheleinen frei gab, und wirklich, auch jetzt flattert wieder weiße Kochwäsche im Wind.
Ich starre auf die Wäsche, und langsam aber mit suggestiver Kraft fährt der Zug weiter zurück.
Auf der ersten Seite unserer Lesefibel stehen Jakob und Adele unter einem Apfelbaum. Ihre Wangen sind so rot wie die vielen Äpfel an den Zweigen. Adele trägt einen bunten Rock mit Schottenkaro, Jakob eine braune weite Stoffhose; er ist barfuß. Nun wirbeln die Bilder wild durcheinander, prasseln heftig auf mich herab: Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stohoppelfäälder... Jakob und Adele lassen einen lustig bunten Papierdrachen steigen... Jakob und Adele machen ein Kartoffelfeuer... Ein Junge ist in den Bach gefallen- Der Lebensretter- Die Halme werden zu Garben gebunden. Die gelben Ähren leuchten. Ernte. Jakob steht auf dem Leiterwagen, Adele hilft.
„Was suchen?“, die Stimme der türkischen Putzfrau reißt mich aus meiner Lesefibel. Eine schwierige Situation. „Ich möchte mal, wissen Sie, ich war schon einmal hier, aber es ist schon etwas her“, versuche ich mich zu erklären. Sie schüttelt verständnislos den Kopf, hält mir aber freundlich die Türe auf. Drinnen duftet es nach Bohnerwachs, der Boden glänzt über jeden Zweifel erhaben, und die Bohnermaschine dröhnt.
Gleich am Treppenaufgang zur ersten Etage steht die Holzmadonna mit dem Jesukind, das mir schon bei Einschulung aufgefallen war, weil es so komisch guckte. Rechts herum, 4. Türe, ich drücke die glänzende Aluminiumklinke- die Klasse ist unverschlossen. Vorsichtig stecke ich meinen Kopf durch den Türspalt. Die Überraschung hätte perfekter nicht sein können. Alles, bis auf die Farbe der Vorhänge ist noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Verblüffung und Andacht.
Ich muss lachen, weil mir zwei Gespenster eine höchst unterhaltsame Szene aufführen:
Herr Schnitzler, ein rundlicher gutmütiger Mensch, die Inkarnation einer liebevollen jedoch respektablen Vaterfigur schnauft 68-jährig(und in Zeiten akuten Lehrermangels aus dem Ruhestand reaktiviert) und hält den gut 2m langen Zeigestock in seiner Rechten, um ihn, seine Absichten keineswegs verbergend, rhythmisch in die halbgeöffnete Linke fallen zu lassen. Er atmet schwer, man sieht, gleich geschieht etwas Schlimmes. Vor ihm, auf der ersten Bank, liegt bäuchlings Fritz Feldmann, ein kleines, übles Kerlchen mit einem alten Gesicht. Er ist Sohn eines stadtbekannten, da häufig betrunkenen Schaustellers. Achterwärts dem greisen Vollstrecker zugewandt, unterhält er die übrige Meute mit seinen Grimassen, ohne jedwede Furcht erkennen zu lassen. Einer meterweiten und beängstigenden Ausholphase folgt ein leises zaghaftes Auftreffen des Rohrstockes, was mit einem markerschütternden Schrei von Fritz beantwortet wird. Jeder weiß wohl , was „markerschütternd“ bedeutet, aber die wahre Syntax dieses „Wiewortes“ kann sich nur dem erschließen, der je Fritz Feldmanns Schreie hörte.
Herr Schnitzler wird schneeweiß und greift sich an die schweißbedeckte Stirn. Fritz geht breit grinsend in seine Bank. Herr Schnitzler erzählt nun vom Maikäfer, das ist sein Lieblingsthema. “Tief unten in der dunklen Erde frisst der Engerling (Jeder von uns Knirpsen weiß, was ein Engerling ist; niemand, der je von Herrn Schnitzler unterrichtet wurde, egal wie gut oder schlecht er auch sonst in der Schule aufgepasst haben mag, also niemand würde bei der Kreuzworträtselfrage „Larve des Maikäfers“ auch nur einen Moment zögern) die Wurzeln von Salat, Kohl und Möhren. Wenn er satt ist, verpuppt er sich und schläft. Das leuchtet ein, nach einem guten Mahl wird man müde... Im Frühling wird ein Käfer aus der Puppe. Zuerst sind seine Flügel noch ganz weich. Der Käfer atmet ganz tief ein und aus und ein und aus.“ Herr Schnitzler ist nun ganz in seinem flügelweichen Maikäferelement: „ein und aus, ein und aus, aahhh!“Herr Schnitzler, jetzt jugendlicher Maikäfer, krabbelt schwerfällig auf einen Stuhl, die angewinkelten kurzen Arme hebend und senkend; hyperventilierend lässt er die Tracheen in seinen Flügeln aushärten. Gegliedert in Kopf, Brust und Hinterleib, die braune doppelt geknöpfte Weste seines ebenfalls Anzugs zeichnet den Flügelrand, alle sehen diesen prachtvollen keratinprallen Kerf, alle sind fasziniert von diesem alten respektablen Maikäfer, der gerade zu seinem ersten Flug startet. Als er dann doch wider Erwarten vom Stuhl steigt, sind wir tief enttäuscht darüber, dass er nicht wirklich abgeschwirrt ist, nach dieser überzeugenden Performance, und es wird unruhig in der Klasse.
Leise gehe ich hinaus auf den Schulhof und ziehe die kleine eiserne Pforte mit einem süßen Glücksgefühl hinter mir zu.