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Jahrmarkt
Jahrmärkte waren für Peter mit einem düsteren Flair behaftet. Regen und Dämmerung verstärkten das Gefühl von nahendem Unheil, das sich durch ein Kribbeln im Nacken bemerkbar machte. Wenn Peter zwischen Buden und Fahrgeschäften hindurch schlenderte, führte ihm seine Phantasie grausame, blutige Unfälle und Gewalttaten vor Augen. In seinem Kopf verwandelten sich lachende Gesichter in angstverzerrte Fratzen, und die unschuldige Freude eines Jahrmarktsbesuches wich infernalischer Grausamkeit. Das gefiel ihm. Doch eine Sache - die wichtigste von allen - hatte er bisher nicht bedacht: Unglücke geschehen nicht nur in der Vorstellung und nicht immer nur anderen.
An einem der letzten Wochenenden der Jahrmarktssaison, fuhr Peter zufällig durch ein Dorf, dessen Hauptstraße zur 100-Jahr-Feier gesperrt war. Er folgte der Umleitung nach rechts, lenkte seine Auto an den Straßenrand und beschloss sich den Trubel aus der Nähe anzusehen. Beim Aussteigen blickte er zu den dunklen Wolken auf und spürte das geliebte Kribbeln im Nacken. Es fühlte sich noch viel besser an, wenn man nicht damit rechnete.
Bald fand er einen Trampelpfad, der zur Hauptstraße hinauf führte. Rufe, Musik und Gelächter drangen leise an sein Ohr. Noch drei, vier schnelle Schritte und schon stand er hinter einem gelb-weiß gestreiften Zelt. Dort war es dreckig und stank nach Bier und Urin. Doch als er durch die Zeltrückwand trat, stockte ihm der Atem, und im selben Moment brach das Leben über ihn herein. Akkordeonmusik, Lachen, Schreie, Lockrufe der Budenbesitzer und blechernes Klimpern und Klappern der Fahrgeschäfte. Über all dem schwebte der Duft von Popcorn und Zuckerwatte.
Er hatte schon viele Jahrmärkte erlebt, aber keiner war mit diesem vergleichbar. Ihm bot sich ein pittoreskes Schauspiel, das ihm den Mund offen stehen ließ. ‚‚Wow’’, staunte er, ‚‚so ein Aufwand für ein kleines Dorf, mitten in der Pampa. Und ich weiß nicht einmal genau, wie dieses Kaff eigentlich heißt.‘‘ Sein Blick war auf ein Karussell gegenüber gerichtet, dessen Pferde im Kreis herum tanzten. Fast hätte er sich laut selbst zu seinem Entschluss gratuliert hier anzuhalten. Er schritt auf die bunte Pracht des Karussells zu, und es dauerte lange, bis er sich an den stattlichen Pferden satt gesehen hatte. ‚‚Hol mich der Teufel‘‘, flüsterte er, ‚‚wenn die nicht genauso alt sind, wie dieses Scheißdorf.‘‘ Die Musik verstummte, und die Pferde blieben stehen. Die Vorfreude beschleunigte seinen Herzschlag, er nahm mit einem tiefen Atemzug die Atmosphäre in sich auf.
Die Straße wurde von Buden aus schwerer Kunststoffplane gesäumt. Viele der Dächer liefen spitz zu und überlappten die Seitenwände mit Reihen aus dachziegelförmigen Wimpeln. Die Aussteller vermieden weitgehend mit elektrischem Licht zu arbeiten. Offensichtlich hatten sich die Verantwortlichen viel Mühe gegeben, die Feier möglichst authentisch zu gestalten. Er entdeckte weder bunte Glühbirnen, noch blinkende Schilder und Lichterketten. Trotzdem strahlte die ganze Straße in allen erdenklichen Farben und Nuancen. In weiter Ferne begann es zu donnern, als er das Ende der Straße erreichte und umkehrte, um die andere Richtung zu erkunden.
Zwischen zwei Buden, scheinbar völlig vergessen, stand ein abgenutzter Hau-den-Lukas. Er sah so aus, als könne er sich an den letzten Schlag, den er einstecken musste, gar nicht mehr erinnern. Der Geruch von Knoblauchbrot kämpfte sich bis in seinen Magen vor und ließ diesen vernehmlich knurren. Ehe sich Peter versah, stand er erneut vor dem Karussell, bei dem er die Straße betreten hatte. Er stockte. Ihm war so, als hätte eines der Pferde soeben das Maul geschlossen. Er wartete. Alle hatten die Mäuler fest verschlossen.
Achselzuckend ging er weiter, sein Blick immer ein Stück voraus. Er fieberte seinem Höhepunkt entgegen. Am Schießstand hielt er inne und lockerte die Zügel seiner Fantasie. Er dachte sich den Verkäufer aus einem der Zelte hierher. Der Schnurrbart, dessen Enden fast rechtwinklig nach oben zeigten, als er Peter noch vor ein paar Minuten lächelnd grüßte, unterstrich nun als dunkler Balken den fiesen Zug um seinen Mund. …
Es donnerte, Peter zuckte zusammen. Sein Szenario war dahin. Verdammt! So vielversprechend es heute angefangen hatte, so enttäuscht war er nun. Wütend stapfte er zurück, in Richtung Auto. Wie um seine Entscheidung zu untermauern, begann es zu tröpfeln.
Auf dem Rückweg beschloss er, einen vor Knoblauchöl und Käse triefenden Langosh zu essen. Während er von dem heißen Teigfladen biss, schlenderte er langsam zurück zur Gasse. Dort angekommen, blieb er stehen, um aufzuessen. Wieder lenkte sich seine Aufmerksamkeit auf das Karussell. Sein Blick tastete die fein geschnitzten Details ab und strich die rot-weiß gestreiften Stangen hinunter, um schließlich auf dem Rücken der Pferde inne zu halten. In Gedanken ritt er eine Weile mit, um die bunt bemalte Mittelsäule. Auf deren Vorderseite war ein Fenster eingelassen, hinter dem ein alter Glatzkopf saß, dessen Augen so weiß waren, als hätte er keine Pupillen. Still lächelnd bewegte dieser seinen Kopf zur Melodie seiner Reiterkolonne.
Der Regen verstärkte sich, wurde unangenehm. Peter bemerkte, dass er während seiner Betrachtungen aufgehört hatte zu essen. Gerade wollte er wieder einen Bissen nehmen, als etwas in seinem Inneren aufschrie. Er erstarrte. Hatten die Pferde nicht vorhin die Mäuler zu? Langsam blickte er auf und wartete, bis jedes der neun Pferde zweimal an ihm vorbei ritt. Bei allen Neunen konnte man zwischen die gelblichen Zähne in den knall-rot bemalten Rachen blicken.
Er lies den Rest seines Langoshs in einen Mülleimer fallen und trat auf die Tiere zu. Ungeduldig wartete er ab, bis die Runde zu Ende war, das Karussell langsamer wurde und schließlich anhielt. Dann streckte er die Hand aus und betastete eines der Gesichter. Nichts. Keine Scharniere, keine Schrauben. Das Tier war aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt. War das so üblich? Ein Mitarbeiter kam zwischen den Hengsten hindurch auf ihn zu. ‚‚Willst Du eine Runde fahren?‘‘ Es klang wie ‚‚Willsene Runde faahn?‘‘ Peter schüttelte den Kopf, fasste sich dann aber und fragte: ‚‚Die Pferde ... ‘‘, er stockte, konnte er doch schlecht fragen, ob sie sich soeben verändert hatten. ‚‚Die Pferde ... ‘‘, wiederholte er und brach erneut ab. Sein Gegenüber lachte und lud ihn mit einer Handbewegung ein mitzufahren.
Peter stieg zu den Pferden hinauf und setzte sich auf ein schwarzes, mit rotem Sattel. Er gab dem Jungen Geld, woraufhin dieser gleich wieder verschwand. Peter strich vorsichtig über das rechte Ohr seines Reittieres, dann die schwarze Mähne hinab und legte seine Hand am Sattelknauf ab. Nach kurzer Zeit, die ihm endlos vorkam, blickte er wieder auf und besah sich die Pferde vor ihm. Sie waren ebenfalls schwarz. Das machte ihn stutzig. Er war sicher, auch braune und weiße Pferde gesehen zu haben. Als das Karussell sich in Bewegung setzte, sah er über die Schulter nach hinten, nur um zu sehen, dass auch diese Pferde alle schwarz waren. Ein Entsetzen erfasste ihn, gegen das sein geliebtes Kribbeln im Nacken der reinste Witz war. Er wollte absteigen und das Weite suchen, doch die Fahrt war bereits zu schnell.
Er sah sich nach dem Chipsammler um. Dessen schwarze Augen blitzen auf, und er lachte aus vollem Hals. Peter rief ihm zu, er solle bitte anhalten. Brüllte schon bald gegen die Musik und den Wind an, jemand solle sofort das Scheißkarussell abstellen, doch nichts dergleichen geschah. Mit großer Willensanstrengung lockerte er seine Hände, die die Holzstange umklammerten. Sie waren schweißnass. Er atmete tief und versuchte sich zu beruhigen. Immer wieder sagte er sich vor: ‚‚Peter, es ist nur ein Karussell. Nur Holzpferde. Lebloses Holz.‘‘ Nach einer Minute, in der er sich diese Sätze wie ein Mantra vorsagte, brachte er sogar ein angestrengtes Lachen zu Stande. Zum ersten Mal sah er von seinem erhobenen Platz aus auf die Straße. Es waren nur noch wenige Leute unterwegs und diese liefen schnell, als könnten sie so den Regentropfen entkommen. Nicht mehr lange, und der Jahrmarkt wäre wie leergefegt. Dann umrundete sein Ross das Karussell, so dass er ein paar Sekunden nichts von der Straße sehen konnte. Als er wieder nach vorn getragen wurde, sah er die verbliebenen Gestalten an, die nun alle grauer wirkten, als noch vor ein paar Minuten. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen.
Als er die Augen wieder öffnete, stand er vor dem Karussell, im Regen. Er war klatschnass. ‚‚Was zum …‘‘, sagte er und blickte sich um. Zwei Schausteller waren dabei ihre Zelte eilig vor dem Gewitter zu sichern. Die Musik war verstummt, die Gerüche vom Regen weggewaschen. Was war geschehen? Er lauschte auf seinen hämmernden Herzschlag. Dann stahl sich ein erleichtertes und triumphierendes Grinsen auf sein Gesicht. ‚‚Geile Scheiße! Fast habe ich gedacht, wirklich auf einem der Pferde zu sitzen. Das war die realistischste Phantasie, die ich je hatte.‘‘ Er sprach das laut aus, denn er musste jetzt nicht mehr befürchten gehört zu werden.
Er sah zum Himmel, kniff die Augen zusammen, um sie vor den herab fallenden Regentropfen zu schützen und lachte laut zu den Wolken hinauf. ‚‚Haha, Waaaahnsinn!‘‘ Wieder schloss er die Augen und … befand sich erneut auf dem Pferd. Nach dem ersten Schrecken wurde er schnell ruhiger. Schließlich wusste er nun, dass er lediglich durch seine eigenen Gedanken ritt.
Diesmal nutzte er die Gelegenheit, die Zeichnungen auf der Mittelsäule zu betrachten. Es waren Pflanzenranken, aus dunkler Rinde. Die roten Blätter und Dornen begrenzten brennende Flächen, in deren Mitte Menschen gefangen saßen. So schön die Bilder von außerhalb ausgesehen hatten, so schrecklich waren sie aus der Nähe. Zwischendurch thronten bunte, reich geschmückte Vögel, die ihre Eier bewachten und die geschlossenen Augen von den schreienden Menschen abwandten. Peter gefiel das nicht, und so riss er sich von den Qualen der Männer los. Es reichte ihm. Er wollte jetzt nach Hause. Er fror im Fahrtwind und hatte inzwischen endgültig die Lust verloren.
Energisch schloss er die Augen, wartete ein paar Sekunden und öffnete sie erneut, in der Erwartung sich, wie zuvor, auf der Straße wiederzufinden. Doch er ritt immer noch auf und ab, gegen den Uhrzeigersinn, im Kreis herum. Das Karussell fuhr schnell. Viel zu schnell. ‚‚Hallo?‘‘ rief er und wartete. Wieder bekam er keine Antwort. ‚‚HALLO!‘‘ brüllte er nun mit ganzer Kraft. Wie lange fuhr das Ding jetzt schon? Irgendwann musste die Runde doch zu Ende sein.
Er sah hinaus zur Straße. Als er dort jemanden stehen sah, winkte er demjenigen zu, doch da trug ihn sein Pferd schon wieder weg. Dieses Mal begann er schon wild zu winken, bevor er herum war und brüllte: ‚‚Hey! Sie da!‘‘ Wieder war er weg. ‚‚Hey!‘‘ Als sich sein Pferd erneut von der Straße abwandte, meinte er die Person vor dem Karussell erkannt zu haben. Er hörte auf zu winken und suchte das Gesicht des Zuschauers. Noch einmal. Und noch einmal. Er erkannte sein eigenes Gesicht, das ihn bösartig angrinste, nicht willens zu helfen. Ihm wurde übel. Wie lange fuhr er schon im Kreis? Und wie schnell? In seinem Kopf drehte sich alles, so dass er keinen einzigen Gedanken fassen konnte. Alles wirbelte an ihm vorbei, und er konnte nur noch, Runde um Runde, auf diesen Kerl starren, der aussah wie er, bis dieser sich umdrehte und im Regen verschwand.