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Jäger und Gammler
„Du bist so still“, stellte Karl fest.
„Ich warte“, sagte Priva.
„Seit Monaten? Worauf?“
„Weiß ich noch nicht“, sagte Priva, „Ich weiß nur was war, und was war, war nicht das, worauf ich warte. Was mir wichtig war, wurde bedeutungslos. Wovor ich Angst hatte, ist eingetroffen“, flüsterte er.
Er sah in den Nebel des abendlichen Nieselregens: Eine Wolke orangener Glühwürmchen im Lichtkreis alter Straßenlaternen.
„Du wolltest das Richtige tun“, sagte Karl, „du wolltest einmal das Richtige tun und die Welt hat das nicht entsprechend gewürdigt. Jetzt kriegste das große Heulen.“
Priva lachte. „Ja, und hier bin ich jetzt, mitten im Nirgendwo, ohne Boden unter den Füßen.“
„Sagt man das heute so, wenn man sich treiben lässt, hängenbleibt, rumhängt?“
Priva hielt sein Bier hin, sie stießen an, leise klirrten die Sternis. Über ihnen standen Sternis am Himmel. Sie saßen auf einer Bordsteinkante direkt an der Mauer zum Westwerk. Eine Wundermaschine des Lindenauer Nachtlebens, die seit neustem verkauft werden sollte, als könnten Wunder jemandem gehören.
Ein Flaschensammler, der nicht Betsy war, kam vorbei. Witzelte über Privas Schnoppek, sackte ihre vier leeren Flaschen ein und sagte zu Priva, er solle trinken, nicht nuckeln, sonst werde die Flasche nie alle und er nicht betrunken.
„Wahre Worte eines großen Mannes“, antwortete Priva.
„Nicht dass er nicht Recht hätte“, sagte Karl.
Ob er denn glaube, dass sie Zeit hätten?, fragte der Sammler, er habe keine, jedenfalls nicht übrig. „Kennst du meinen Stundenlohn?“, fragte er. Priva schüttelte den Kopf, ohne die Flasche abzusetzen. „Geht dich auch nichts an, ich kenne deinen ja auch nicht, will ich auch nicht wissen. Über Geld spricht man nicht, so was solltest du wissen.“
Karl und Priva sahen sich kurz an und dann wieder den urbanen Sammler.
„Jedenfalls sinkt der Lohn meiner Stunde, wenn Privilegierte täten, als gehörten ihnen nicht nur ihre Flaschen, sondern auch meine Zeit.“
Priva hob die linke Hand, um das Geschwätz aufzuhalten. „Das wird eh nichts“, sagte Karl, „hast ja letztens nicht mal den Cospudener Sees teilen können.“
„Du bist ein Zugezogener“, sagte der Sammler, „ich erkenne Typen wie dich. Ihr zersiedelt Städte, Parasiten seid ihr, die den Städten in ihre Seele pinkeln.“
Priva trank den letzten Schluck und wog die leere Flasche in der Hand. Die würde sich gut mit dem Bürgersteig verstehen, er könnte sie dem Schwätzer zwischen die Beine werfen. Das würde ihr Gespräch sicher über diese kleine Sackgasse hinausbringen. Vor ein paar Monaten noch hatte er nichts anderes gewollt, als Stress ohne Grund zu suchen. Aber jetzt war es anders, er war anders, die Zeit hatte ihn verändert. Das Treiben in den lichtlosen Räumen leerer Tage hatte Priva geläutert, er war frei von Begehren.
„Ich will diesem Idioten nichts tun“, flüsterte er Karl ins Ohr, sagte „Aye“ zum Sammler und tippte gegen sein Cap.
„Wegen dir und Leuten wie dir geht hier alles vor die Hunde“, sagte der Sammler, „weißt du, Plagwitz ist schön gewesen, bevor Douchebags unser Leben hier witterten und so lange twitterten, bis für uns keine Zeichen mehr übrig waren. Jetzt können sich Leipziger wie ich keine Wohnung mehr leisten.“
„Hier, euer Pfand mein Herr!“, rief Priva und warf die Flasche. Sie explodierte zwischen des Sammlers Füßen in tausend Scherben. „Und ich verspreche euch, dass Ihr für jede weitere schiefe Metapher oder Unworte wie Douchebag eine weitere Flasche bekommet!“
„Hm“, brummte Karl gedehnt, als Splitter sein Gesicht trafen, „jetzt hast du doch was getan.“
„Ja, doch.“ Priva pulte ein Glasstück aus seinem Schnurrbart und lächelte dem Sammler.
Der trat zwei, drei Schritte zurück. „Was tust du? Bist du irre? Warum lächelst du überhaupt?“, rief er. Seine Stimme zitterte in den Höhen.
„Ich würde sagen, so sieht ein fassungsloses Gesicht aus“, sagte Priva.
„Ist doch scheiße, der armen Sau so zu kommen“, sagte Karl.
„Würdige ihn nicht herab. Hast du nicht mitgekriegt, er ist ein Geschäftsmann. Du hast ihn reden hören“, sagte Priva. „Außerdem habe ich es gern getan, und es steht in Bibel und Koran: was man gerne tut, ist wohlgetan.“
Der Sammler stand leicht wankend neben seinem Hackenporsche und umklammerte den Ziehgriff.
„Ich versuche mich auch öfter irgendwo festzuhalten, aber es gibt keinen festen Ort auf dieser Welt, oder?“, fragte Priva in unverbindlichem Ton.
Links und rechts von ihnen waren die Gespräche verstummt. Es war fast ganz still auf der Karl Heine, bis ein alter Triebwagen der Leipziger Verkehrsbetriebe über die Schienen ratterte. Schienenschleiffahrzeug stand auf einem Schild an der Seite des Wagens, dessen Geräuschwerk mitten durch die Stille fuhr, wie ein Reifenabdruck auf frisch gefegtem Sand.
‚Tranquility‘, dachte Priva und seufzte lustvoll, „Seelenruhe.“
Der Sammler öffnete die Tasche und zog eine Pfandflasche raus. „Du bist doch irre“, grummelte er, „irre ist der, ortlos, verrückt.“
„Das ist es, was du willst“, stellte Karl fest, „in diesen besonderen Momenten verrätst du dich, dann ist Sprache für eine Hand voll Zeilen mehr kein Spiel mehr. Frieden und Ruhe: Die bescheidenen Wünsche eines Kriegsveteranen.“
Priva nickte. „Ja, ich glaube schon, dass ich das will. Denn mir fällt nichts besseres ein und es klingt so schmeichelhaft, dass es wahr sein muss. Was habe ich nur getan, dass ich mich so nach Ruhe sehne, welch Titanenwerk vollbracht? Ich weiß es nicht. Aber gut zu wissen, was ich durch dich jetzt weiß. Ohne dich wüsste ich nichts über mich.“
Karl winkte ab. Von ferne hörte man Autos am Felsenkeller vorbei fahren. Priva öffnete noch ein Bier. Teures Exemplar mit Ploppverschluss. ‚Wer kauft mir nur ständig so ein Hipstergesöff?‘
Er drehte sich zu Karl und sagte, dass, wollte sich gerade zu Karl wenden und sagen, dass, dass – da knallte dass auf seinem Schädel. Priva rannte gegen eine Glastür, schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund sein Fell, kriegte aber die Tür nicht auf. Der Sammler rannte so schnell die Straße runter, dass sein Hackenporsche von einem Rad aufs andere hüpfte. „Da hast du deine Flasche wieder!“, rief er, „bist nicht auf den Kopf gefallen, was?“
Karls Augen wurden zu Sehschlitzen, durch die er auf Privas Kopf kuckte wie ein Burgbewohner durch die Schießscharte aufs Schlachtfeld. Priva beugte sich ihm entgegen und bewegte den Mund, als wolllte er flüstern, verlor das Gleichgewicht und stützte sich mit der Hand auf dem Bürgersteig ab. „Meine Hand ist ein Igel, aber ich spüre keinen Schmerz. Nur wie sich Scherben ins Fleisch bohren“, lallte er und suchte in Karls Augen nach einer Normalität, die er vor dem Flaschenwurf schon etwas kennengelernt hatte, weit konnte die noch nicht sein.
Der schüttelte den Kopf. „Hier kannst du dich nicht festhalten. Da sollst du dich nicht abstützen.“
Er hockte sich hinter Priva, zog ihn hoch und hielt ihn aufrecht. „Sei nicht so schlaff“, sagte Karl, „du bist zu schwer.“
„Lass mich doch los“, antwortete Priva, „warum werde ich überhaupt festgehalten, Officer?“
„Wenn du wenigstens den Mund halten würdest“, sagte Karl, trank einen Schluck Bier und fluchte, dass er sich keine Kippe bauen könnte, so lange Priva in seinen Armen hing. „Wer hätte gedacht, dass du mal so ein lahmer Rumhänger wirst“, überlegte er und kicherte.
„Es ist selten, dass jemand genau das kriegt, was er verdient. Ist schon was wert, davon Zeuge zu sein.“
„Erst wurde ich Opfer der Schwatzhaftigkeit des Sammlers, der mich mit seinem hinterhältigen Angriff ausknockte, weil seine Dämlichkeit meiner Bescheuertheit nicht gewachsen war. Wie soll das ein gerechter Lohn sein für einen, der stets nur Gutes will? Und zum Überfluss bin ich jetzt noch deinem Gerede ausgeliefert“, sagte Priva, „wie könnte das ein gerechter Lohn für irgendwas sein?“
„Du redest viel, nicht ich. Neunzig Prozent jeder Unterhaltung füllst doch du. Und wenn dein Gegenüber nichts sagst, antwortest du für ihn gleich mit.“
„Aber nur wenn ich weiß, was der Andere sagen will“, sagte Priva.
„Unsinn. Woher willst du denn wissen, was jemand sagen will, der nichts sagt?“
„Darüber darf ich nicht reden“, sang er leise.
„Am besten wäre sowieso, du hältst den Mund.“
„Nichts lieber als das, ich liege im Sterben und könnte etwas Ruhe gebrauchen. Du fängst an.“
Karl knurrte, sagte nichts und sah sich auf der Straße um.
„Weißt du, Karl, für einen Moment war es friedlich und ganz ruhig. Bevor die Straßenbahn die Stille durchfuhr und über ihre Scherben rollte, war es perfekt. Da wurde mir klar, wie still und leicht der verlorene Moment gewesen war. Ich glaube jetzt weiß ich, was Schönheit ist: der Rückblick auf geräuschlosen Frieden.“
Karl grunzte.
Jemand rief, man sollte einen Krankenwagen rufen, mehrere andere wählten die Nummer auf ihren Telefonen. Ein hübsches Mädchen kam rüber und fragte, was sie tun könnte. Karl gab ihr Tabak und ließ sie eine Zigarette drehen. Die Geräusche der Straße kehrten wieder.
„Es klingt alles so seltsam. Und mein Kopf dröhnt und pfeift“, sagte Priva, „der muss mich getroffen haben.“
„Sieht ganz so aus. Du warst aber auch ein ekliger Arsch“, sagte Karl, griff unter Privas Arme und wuchtete ihn zu sich hoch.
„Haltung, Soldat. Du klappst mir hier immer wieder weg.“
„Ja, ja, schon gut“, sagte Priva, wollte sich aufrappeln und stöhnte, als er die Igelhand wieder in die Scherben drückte.
Karl lachte, „schon wieder? Wie dumm kann einer allein sein?“
„Funktionstest ...“, murmelte Priva, „... erfolgreich - ich fühle wieder was außerhalb vom Kopf.“ Er griff mit einer Hand nach Karls Schulter und der anderen nach der Mauer und arbeitete sich hoch in den Stand. „Ich fühle wieder was außerhalb des Kopfes“, stellte er fest, „meine Hand tut weh wie Sau, verdammt, ich hasse Schnittwunden. Nicht zu vergleichen mit so einem kräftigen dumpfen Bonk gegen den Schädel – das hat schon was Sakrales, wie bei den Buddhisten, wenn sie ihren Gong schlagen. Heiliger Klang. Hörst du's auch?“
Karl nahm seinen Arm, schlang ihn um seine Schultern und hielt Priva aufrecht. „Und jetzt?“, fragte er, „du stehst, ja, aber was tun, na, was nun?“
„Mal sehen“, sagte Priva, „wird man niedergeschlagen, steht man erst mal wieder auf. Die Aussicht ist schon mal besser von hier oben. “
„Der Krankenwagen ist gleich da“, sagte das Mädchen, hob langsam eine Hand nach Karls Kopf, streichelte seine Wange und fasste leicht durch’s lichte Haar.
„Ich bin angegriffen und verletzt worden, nicht er“, sagte Priva und drehte ihr seine Wange zu, aber sie reagierte nicht.“Wie auch immer, lass uns los, bevor die Ambulanz kommt, das wird ein Riesentrara ohne Ende. Los jetzt, ins Doktor Seltsam, ich brauche eine Heilung.“
„Kommst du mit?“, fragte Karl das Mädchen. Die schüttelte den Kopf und meinte, sie würde wollen, müsse aber bei ihren Freunden bleiben, sie sei zu Besuch und habe keinen eigenen Schlüssel. „Nur kurz“, meinte Karl, „das Seltsam ist direkt um die Ecke, ich bring dich auch zurück. Komm mit mir. Ich spüre doch, dass du es spürst. Sehe in deinen Augen, was du von meinen Augen abliest. Dass du von mir etwas bekommen kannst, was in diesem Leben nur ich dir geben kann.“
„Du bringst sie nirgendwohin“, fuhr Priva dazwischen, „und sie kommt auch nicht mit. Wir gehen jetzt.“
Karl fasste nach ihrem Gesicht und sah sie an. „Wie schön du bist“, sagte er, „welch seltsames Glück, dich hier und jetzt zu treffen.“
Priva weinte stumm, gegenüber stürzte ein Mehrfamilienhaus geräuschlos ein. „Ihr habt das vielleicht nicht mitgekriegt“, sagte er, “ aber die Sache sieht so aus: Ihr steht voreinander, schmachtet euch an und habt jeweils eine Hand im Gesicht des Anderen. Während ich im Sterben stehe.“
Sie streichelten einander weiter. „Hat einer von euch die Medusa unter den Vorfahren, oder Unzucht mit einem Basilisken getrieben? Seid ihr beide Narziss?“ Niemand reagierte. Priva kuckte noch mal genau hin, machte das Zeichen eines Abwehrzaubers und befreite sich von Karls Arm, mit dem der sogleich des Mädchens Taille umfasste und sie zu sich heranzog, ohne dass sie aufhörten, einander im Gesicht zu berühren.
Die ersten Schritte allein torkelte Priva wie drei besoffene Russen. „Ich muss das Haus halten, fürs Westwerk da sein“, murmelte er, ging langsam an der Mauer lang, hielt sie fest und lehnte sich dagegen, wenn sich die Welt drehte, damit es nicht umkippte. Ein paar Minuten später waren seine Schritte schon fester, brauchte er weniger Pausen. Er sah sich um und merkte, dass die Hälfte des Weges geschafft war. „Bloß weg, bevor die Sanis kommen“, sagte er sich und rief Karl und das Mädchen zum Abschied an, ohne dass eine Reaktion kam.