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Iuva
Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, den Samstag mit einem Spaziergang im nahe gelegenen Wald beginnen zu lassen. Sogar im Winter. Dieser Samstag jedoch lag angenehmerweise im frühen Herbst, meiner liebsten Jahreszeit.
Ich betrat den Wald, der eingebettet zwischen niedrigen Hügeln in Nebelschwaden lag. Schon immer hatte ein dichter Wald meine Phantasie angeregt und mich fasziniert. Ich hatte wirklich Glück, dass ich ein Haus in nahezu unmittelbarer Nähe zu einem solchen Wunderreich bekommen habe. An manchen Samstagen verspürte ich den Drang, den vorgegebenen Pfad zu verlassen und den Wald zu erkunden. So auch diesen. Ich bog einfach links vom Pfad ab und stapfte über den von Laub und Ästen bedeckten Boden. Es federte angenehm unter meinen Füßen. Bald entdeckte ich zu meiner Rechten einen Findling. Ich erinnerte mich, dass ich das letzte Mal links an ihm vorbei gegangen war. Diesesmal wählte ich die andere Seite. Das Gehölz wurde dort außerordentlich dicht, aber da ich meine Wegrichtung beibehalten wollte, schlug ich mich irgendwie durch und riss mir meinen Pullover an einem hervorstehenden Ast auf. Ich glaube, es gibt nur einen kleinen und sehr erlesenen Kreis von Leuten, die so etwas am Samstag Morgen machen.
Und es gibt mit Sicherheit niemanden, der das sah, was ich sah.
Der Waldboden war hier auf einer großen Fläche leicht abgesenkt. Und in der Mitte dieser Senke befand sich eine große Eiche, zu dessen Fuß - in einer Erdmulde - ein rothaariges Mädchen saß. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, aber bei näherem Hinsehen erkannte ich ein feines weißes Gespinst, das sich vom Nacken des Mädchens bis in die Krone des Baumes erstreckte. Ich kannte diese Art von Gespinst von meinen Waldspaziergängen. Es war Myzel.
Pilzgeflecht.
Ein eisiger Schock durchfuhr mich und mir wurde kurz schwindlig. War sie tot? Hatte ich eine Leiche entdeckt? Vielleicht Opfer eines schrecklichen Verbrechens? Obwohl alles in mir dagegen rebellierte, näherte ich mich langsam, ängstlich und mit weichen Knien der alten Eiche. Absurderweise versuchte ich dabei, jedes Schrittgeräusch zu vermeiden, als würde ich mich anschleichen. Doch dies lag wohl an meiner unbestimmten Angst. Mit einem immer größer werdenden Kloß im Hals näherte ich mich dem Mädchen halb von hinten. Ich wollte ihr Gesicht nicht sehen. Bilder flackerten in mir auf, von totenblasser Haut, die sich straff über die Wangen spannt, von Augenhöhlen, die mich leer und unendlich tief anstarren...
Ihr Kopf fuhr herum.
Ich sprang vor Schreck dermaßen zurück, dass ich hinfiel. Einen Augenblick war ich der Ohnmacht nahe und starrte in unwirklich wabernde Baumkronen über mir. Aber kaum war ich wieder richtig bei Sinnen, überkam mich wieder die Furcht. Ich schielte in Richtung der alten Eiche und des Mädchens. Ich sah das Pilzgespinst, das die beiden verband. Der Wind spielte darin. Oder war es noch in Unruhe von der plötzlichen Bewegung des Mädchens? Ich sprang auf und fast hätten mich meine weichen Knie noch einmal zu Fall gebracht.
Ein Kichern schallte durch die Wipfel.
"Entschuldige, aber das sah wirklich zu komisch aus!"
Ich musste meinen offenstehenden Mund bewusst wieder zuklappen. Sie hatte zu mir gesprochen und sah mich nun belustigt an. Entgegen meiner Befürchtungen war sie weder tot noch sah sie so aus. Sie war zwar sehr blass, aber das waren Rothaarige meistens. Sie hatte einen ziemlich exakten Pagenschnitt. So jugendlich sie selber aussah, so heruntergekommen war ihre Kleidung. "Lumpen" wäre noch ein beschönigender Ausdruck für die in Fetzen an ihr hängenden braunschwarzen Lappen gewesen. Schuhe hatte sie erst gar nicht.
"Wer bist du?", fragte ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte.
"Das fragst du? Du bist doch einfach so in meine Wohnung reingeplatzt!", entgegnete sie mit gespielter Empörung.
"Mein Name ist ..."
Ich hatte ihn vergessen. Ich musste den Verstand verloren haben. Sie lächelte wissend.
"Na, wie heißt du?", stocherte sie schelmisch.
"I-Ich-"
"Du heißt ... komm her."
Ich hockte mich neben sie und sie flüsterte mir den Namen ins Ohr. Einen Augenblick sah ich vor mich in die Luft und ließ den Namen in meinem Kopf nachhallen. Ich wusste, dass es mein richtiger Name sein musste. Er erfüllte mich und ich erfüllte ihn.
"Und... wie heißt du?", fragte ich nun.
"Ich heiße Iuva. Ach ja", fügte sie hinzu und hob die Stimme ein wenig, "ihr könnt wieder herauskommen!"
Ehe ich fragen konnte, was sie damit meinte, traten hinter den Bäumen Tiere hervor. Zuerst erkannte ich sie nicht. Ich hatte wohl Rehe oder Wildschweine erwartet. Aber diese Tiere waren grau und kleiner als Wildschweine und bewegten sich mit auffallender Langsamkeit. Als ich erkannte, um was für Wesen es sich handelte, stieß ich einen Laut der Überraschung und des Unglaubens aus. Für den Bruchteil einer Sekunde hielten alle Tiere in ihrer Bewegung inne. Dann bewegten sie sich langsam weiter.
Es waren Faultiere.
Ihre Augen standen weit auseinander und sahen einen mit unbeschreiblicher Langeweile an. Die Füße und Hände waren im Wesentlichen erstaunlich lange Krallen. Mit gleichmäßig langsamen Bewegungen näherten sie sich der Erdmulde, in der das Mädchen saß. Am Ende standen sie in einem lockeren Kreis um uns herum. Mit gerunzelter Stirn sah ich von einem Faultier zum anderen. Meines Wissens gab es eigentlich keine Faultiere in diesem Wald. Nicht mal in diesem Land.
"Keine Angst, das sind meine Freunde", unterbrach Iuva meine Gedanken.
Ich glaube nicht, dass ich Angst vor diesen Tieren hätte haben müssen. Sie waren viel langsamer als ich und ohnehin harmlose Pflanzenfresser. Dennoch verspürte ich eine gewisse Furcht bei ihrem Anblick, was aber an ihrer Fremdartigkeit lag. Ihre grotesk langen, gebogenen Krallen dienten, so vermutete ich, dazu, sich ohne Kraftaufwand in das Geäst zu hängen. Ich sah in den Wipfel der Eiche. Und tatsächlich: dort hingen zwei Faultiere und sahen stumm auf mich herab. Das mussten sie schon die ganze Zeit getan haben.
Ich sah Iuva mit halboffenem Mund an, unfähig, eine Frage zu formulieren. Zu viele waren es, die gleichzeitig über meine Zunge wollten.
"Du willst wissen, warum ich hier sitze und wo diese Faultiere herkommen, stimmt's?"
Ich nickte.
"Tja ...", begann sie. "Das ist wohl eine lange Geschichte ..."
Ich wartete gespannt.
"... und ich kenne sie auch nicht", schloss sie abrupt.
Ich starrte sie an.
Sie grinste zurück.
"Nein, wirklich." Ihr Grinsen verschwand. "Ich weiß es nicht."
Nachdenklich sah sie auf den Boden vor sich und kaute an ihrer Unterlippe.
"Ich weiß es nicht", wiederholte sie.
Vorsichtig berührte sie mit ihrer linken Hand die Stelle an ihrem Nacken, wo das Pilzgespinst herauswuchs, und betastete sie einige Sekunden. Ich neigte mich ein wenig zu ihr, um die Stelle genauer zu betrachten. Sie hatte eine handbreite Wunde am Nacken, die nässte und nur an den Rändern vernarbt war. Aus der Wunde und auch aus dem Bereich der Schulterblätter wuchsen diese Pilzfäden, die bis hinauf in den Wipfel der Eiche reichten.
"Ich weiß nur ..."
Unbewusst hielt ich den Atem an.
"... dass ich ohne diesen Pilz nicht leben könnte. Und der Pilz nicht ohne mich."
Ich schluckte.
"Du kannst hier nicht weg", stellte ich trocken fest.
"Ja."
"Aber wie überlebst du?"
"Der Pilz versorgt mich mit Nährstoffen, die er aus dem Baum zieht."
Ich glaube, meine Faszination stand mir allzu deutlich ins Gesicht geschrieben, denn sie hob fragend eine Augenbraue. Vor mir hatte ich eine wohl einzigartige Symbiose aus drei völlig unterschiedlichen Lebensformen: Tier, Pilz und Pflanze.
"Und du kannst dich nicht mehr erinnern, wie es ... hierzu", ich machte eine Handbewegung, die sie und die Faultiere einschloss, "gekommen ist?"
"Nein. Ich sitze schon seit Ewigkeiten hier. Aber nach der ersten Ewigkeit hatte ich mich daran gewöhnt. Ich habe die Tage nicht mehr gezählt."
"Was ist mit den Faultieren? Wann kamen die?"
"Die waren schon immer da. Sie kommen und gehen."
"Woher kommen und wohin gehen sie?"
"Sie werden geboren und sterben irgendwann, ganz einfach. Irgendwann liegt jedes Faultier regungslos neben mir. Nicht, dass das etwas Besonderes wäre", sie kicherte kurz, "aber wenn es nach einigen Tagen anfängt zu stinken, weiß ich Bescheid."
Ihr Humor gefiel mir.
"Nein, wenn ein Faultier stirbt, merken das seine Verwandten schneller als ich. Sie tragen es dann fort."
Ich sparte mir die Frage, wohin sie es trugen.
"Aber warum sind sie überhaupt hier?"
"Sie helfen mir. Das ist alles, was ich weiß."
Ich sah noch einmal in die Runde. Einige Faultiere saßen dort, als ob sie einen Befehl von ihrer Herrin erwarteten. Andere liefen gemächlich im Laub herum oder kratzten sich gelangweilt ihr zottiges graues Fell. Mir fiel noch etwas ein.
"Wenn du schon so lange hier sitzt, warum bist du noch so jung?"
"Das macht der Pilz. Ich altere nicht. Meine Haare wachsen nicht mal."
Ein Faultier kam zu uns und hielt in der Mulde seiner gebogenen Krallen einige Brombeeren.
"Oh, Danke! Gib sie doch unserem Gast", sagte Iuva zu dem Tier.
Es wandte sich mir zu und hielt mir die Brombeeren hin. Ich überwand meinen Ekel vor den langen, gelblichen Krallen und nahm mir die Brombeeren. Das Faultier drehte sich träge um und schritt fort. Die Brombeeren genoss ich einzeln.
Wir lehnten uns beide mit dem Rücken an den Baumstamm und sahen den Faultieren zu. Eine nicht besonders spannende Angelegenheit.
"Das ist zum Gähnen langweilig, oder?", fragte sie mich.
"Da muss ich dir leider zustimmen."
"Manchmal frage ich mich, warum ich ausgerechnet Faultiere als Begleiter habe. Warum keine Löwen? Oder Gorillas?"
Ich schwieg, denn ich konnte ihr keine Antwort geben.
Sie fuhr fort: "Man kann ihnen wirklich lange zusehen, ohne das Gefühl zu haben, dass etwas passiert. Vielleicht bin ich gar nicht so alt. Vielleicht kam mir die Zeit nur so lang vor."
Ich konnte an ihrem Tonfall hören, dass sie scherzte, und grinste.
Ich ging erst am späten Abend.
Natürlich konnte ich es kaum erwarten, sie am nächsten Tag wieder zu besuchen. Wie hatte sie es all die Jahre dort nur alleine ausgehalten? Ich lag schon früh wach, geduldete mich aber bis 9 Uhr, um sicherzugehen, dass sie ausgeschlafen hatte. Zur Bekämpfung ihrer Langeweile nahm ich ein Schachspiel, Rummikub und Kniffel mit.
Sie kannte keines dieser Spiele, so dass ich ihr zuerst alle Regeln erklären musste. Daraufhin jedoch erwies sie sich als eine ausgesprochen harte Gegnerin bei Schach und Rummikub, wo sie das Spiel in Augenblicken so veränderte, dass mein sicher geglaubter Sieg mit einem Mal unmöglich wurde. In Kniffel konnte ich immerhin einen Sieg verbuchen. Schach und Rummikub waren danach ihre Lieblingsspiele und sie sagte, dass sie ihren Faultieren diese Spiele beibringen würde, damit sie den ganzen Tag spielen könne. Ich äußerte Bedenken.
"Die Faultiere wären keine ernstzunehmenden Gegner, das stimmt", sagte sie.
"Aber du bist nicht immer hier, nicht wahr?", fragte sie mich.
"Nein", antwortete ich, "das geht nicht. Morgen ... habe ich etwas zu erledigen."
"Ich muss nicht arbeiten. Und ich muss auch nicht hungern. Das könntest du auch haben."
"Wie?"
"Ein kleiner Schnitt am Nacken. Dann könntest auch du dich mit dem wunderbaren Pilz verbinden, der ewiges Leben schenkt", sagte sie lächelnd.
"Das ist nicht dein Ernst, oder?", fragte ich schockiert.
"Ich will nicht mehr allein sein."
Ich schwieg betreten. Das wiederum konnte ich nachvollziehen. Allein mit diesen Faultieren hätte ich sicher nach kurzer Zeit schon den Verstand verloren. Sie wirkte betrübt. Den Rest des Tages erzählte ich ihr von meinem Leben und von der Welt außerhalb des Waldes. Bei der Gelegenheit musste ich ihr auch beichten, dass ich die nächsten drei Tage bei Verwandten weit weg sein würde.
"Ich werde die Zeit schon herumbekommen", sagte sie mit gezwungenem Lächeln, während sie ein Faultier kraulte, das neben ihr auf der Erde lag.
Es wurde Zeit für mich zu gehen, und so verabschiedete ich mich mit einem etwas schlechten Gewissen. Ich hatte mich halb von meinem Platz erhoben, als sie mich am Arm zurückhielt. Sie sah zu mir hoch.
"Zwei Dinge würden mein Glück bedeuten: wenn du für immer bleiben würdest. Oder wenn du mir niemals begegnet wärst."
Ich konnte darauf nichts erwidern. Ich musste gehen.
Die Zeit bei den Verwandten schien sich ins Unendliche zu dehnen. Ich hoffte, dass es Iuva nicht genauso ging, vorsorglich hatte ich ihr alle Spiele überlassen. Ob sie gerade den Faultieren beibrachte, wie man Schach spielt? Ich musste schmunzeln.
Der Tag der Abreise war gekommen und ich fuhr so früh wie möglich nach Hause. Obwohl die Sonne schon unterging, ging ich zum Wald. Es stand für mich außer Frage, dass ich sie heute noch besuchen müsste.
Ich hatte den Wald kaum betreten, als ich mehrere Faultiere in der Dämmerung erkannte. Sie schienen um etwas herum zu stehen. Rätselnd, was es war, trat ich näher.
Iuva.
Ihr Gesicht hatte jegliche Jugendlichkeit verloren, es war eingefallen und runzlig. Pilzfäden durchzogen ihr halb vertrocknetes Fleisch, das stellenweise Löcher hatte. Ihre trüben Augen starrten zu den Wipfeln und ihr Mund stand halb offen. Sie hatte es fast bis zum Waldrand geschafft. Die Faultiere hoben ihre Köpfe und sahen mich anklagend an.
Mir fiel der Name wieder ein, den sie mir bei unserer ersten Begegnung gegeben hatte. Der Name, der mein wirklicher Name war.
Ich schrie.