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Itzcouatl
Itzcouatl
Er sah den Teocalli, wie er mäjestätisch über der Stadt thronte. Seine Türme erhoben sich steil und verdeckten bereits die untergehende Sonne. Eine Zeremonie zog, von Fackeln erhellt, zum Altar des zentralen Tempelgebäudes. Es war ein großes Fest, ein bedeutender Tag, denn Itzcouatl, der Herrscher des Atztekenreiches von Tenochtitlan beehrte die Stadt mit seiner göttlichen Anwesenheit. Die Zahl der Menschenopfer würde in die Tausende gehen.
Er stand mitten in der jubelnden Menschenmenge, doch irgendwie gelang es ihm, sich unter den Fackelzug zu mischen. Er war euphorisch, denn die Sänfte, in der Itzcouatl reiste, befand sich nur wenige Meter hinter ihm. Dennoch wollte er nicht wagen, sich ständig umzusehen. Zu groß war die Angst, entdeckt zu werden. Als sie den Teocalli, das Haus der Götter erreichten, blieb die Menge zurück, doch er ging weiter. Normalerweise war einem Mann seines Standes der Zutritt ins Allerheiligste verwehrt, doch heute schien sich niemand darum zu kümmern.
Die Prozession teilte sich und bildete einen Kreis um den Altar. Dort stand der Hohepriester knöcheltief im Blut, und rammte einer jungen Frau den Zeremoniendolch in die Brust. Ihr Grauen erregender Schrei war noch nicht verklungen, als er ihr mit fachmännischem Geschick das Herz entfernte und triumphierend in die Höhe hielt. Itzcouatl nickte zufrieden. Der Hohepriester lächelte und ließ das nächste Opfer herbeischaffen.
Er war derart fasziniert von dieser Blutorgie, dass er nicht bemerkte, wie die anderen Fackelträger ihn anstarrten. Erschreckt zuckte er zusammen, als sein Nachbar ihn anstupste: “Wo ist deine Fackel?”
Er schluckte: “Die habe ich verloren.”
Die Antwort war wohl unbefriedigend, denn es erhob sich ein Gemurmel, und die ersten begannen, mit den Fingern auf ihn zu zeigen: “Wo ist sein Brustschmuck?” und “Ich habe ihn noch nie gesehen.” Das Germurmel wurde so laut, dass Itzcouatl, der erhabene Herrscher von Tenochtitlan, sich umdrehte und mit zorniger Stimme den Grund für diese Störung zu nennen befahl.
Stille im Altarraum. Nur das Knistern der Fackel war zu hören. Niemand wagte, Itzcouatl zu antworten. Statt dessen deuteten alle auf unseren Protagonisten, der sich jetzt zunehmend unwohl in seiner moccafarbenen Haut fühlte.
Itzcouatl wandte sich ihm zu und maß ihn eines geringschätzigen Blickes. Normalerweise hätte unser vorwitziger Freund dies als große Ehre empfunden, doch als der verehrungswürdige Herrscher der Atzteken: “Frevler!”, rief und zwei kräftige Tempeldiener ihn packten, änderte er seine Meinung. Man zerrte ihn zum großen Steinaltar, band ihm Hände und Füße und wuchtete ihn auf den steinernen Opfertisch, der vom Blut seinerVorgänger noch angenehm warm war. Er zappelte und schrie, beteuerte seine Unschuld und dass er doch immer ein treuer Untertan von Itzcouatl dem Großen gewesen sei. Er flehte um Erbarmen, bot Erklärungen an, doch mitten im Satz fuhr der Dolch des Hohepriesters nieder und beendete abrupt sein verzweifeltes Lamentieren.
Dann war da nur noch Licht. Schillernde Farben und oszilierende Lichtbögen. Einfach herrlich.
Langsam kam er wieder zu sich. Er schwitzte. Vor ihm lag die Ebene von Yucatan und briet in der erbarmungslosen Mittagssonne. Besser, in den Schatten zu gehen.
Plötzlich stand da ein Mann, dessen Gesicht nur aus einem riesigen schwarzen Schnurrbart zu bestehen schien, und lachte ihn an: “Sie wünschen?”
“Itzcouatl?”
“Ich glaube, sie haben genug Senor.”
“Itzcouatl!”, rief er und verlieh seiner Forderung Nachdruck, indem er eine 50 Peso-Note auf den Tresen knallte. Der Barkeeper zuckte nur mit den Schultern und stellte ihm die Flasche hin.
Er betrachtete die durchsichtige Flüssigkeit, in der ein fetter Wurm schwamm, grinste und nahm einen ordentlichen Schluck.
Seine Frau hatte ihn verlassen, sein Leben war verpfuscht, sein Mexiko-Urlaub eine einzige Katastrophe, aber dieser Itzcouatl war ein prächtiger Mescal, der für vieles entschädigte.
Anmerkung des Autors:
Tenochtitlan ist in etwa das heutige Mexico. Bis zu 20.000 Menschenopfer an einem Tag waren bei größeren Anlässen durchaus üblich. Eigentlich wollte ich die Geschichte „Huitzilihuitl“ nennen (1396 – 1417). Huitzilihuitl war der Vater von Chimalpopoca (1417 – 1427), doch dann musste ich laufend lachen und habe mich immer wieder vertippt. Also entschied ich mich für Chimalpopocas Sohn Itzcouatl (1427 – 1440), denn kein Betrunkener ist in der Lage, einen Mescal namens Huitzilihuitl zu bestellen. Itzcouatl hingegen scheint das Geräusch spontanen Erbrechens zu sein (wobei „couatl“ dem Speien auf Linoleum entspricht; beim Kontakt des Sputums mit Teppichboden ist es meist nur ein schlichtes „couat“).
Als bekennender Klugscheißer muss ich noch erwähnen, dass danach der uns allen bekannte Montezuma folgte (1440 – 1469); Axayacatl (1469 – 1482), Tizoc (1482 – 1486), Ahuizotl (klingt unrasiert, 1486 – 1502), Montezuma II. (1502 – 1520), dessen Rache berühmt ist, der sich jedoch von Cortez über den Tisch ziehen ließ und von seinem eigenen Volk deswegen gesteinigt wurde, Cuitlahuac (1520), der als letzter Atztekenherrscher gegen die Spanier aufbegehrte, sie sogar aus Mexico-Stadt vertrieb, doch leider nach nur 4 Monaten einer Krankheit erlag, und Quauhtemoc (1520 – 1521), der die Hauptstadt bis zuletzt verzweifelt verteidigte, unterlag und nach seiner Kapitulation von Cortez öffentlich gehenkt wurde.
Mit ihm endet die Geschichte der Atzteken. Gewaltsam.
Ein Hoch auf das zivilisierte Abendland!
Quelle:
Götter, Gräber und Gelehrte von C.W. Ceram (der u.a. die aerodynamisch schnittige Kochfläche erfand)