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Italien
Monoton der Takt, in welchem der Zug über die Schwellen rattert. Tatamtam. Alexandra blickt aus dem Fenster, Zypressen, Felder, Ebene. So anders sehen die Gebäude aus, auch die kleinen Bahnhöfe, die der Zug in Windeseile durchrast. Grün und flach das Land. Ihre zum Liegen ausgezogenen Sitze sind wieder sittsam in ihre ursprüngliche Form gebracht. Alexandra starrt aus dem Fenster, rote Dächer zischen vorbei, mancherorts hängt Wäsche aus den Fenstern. Tatamtatam. Mähdrescher ernten, ein Fabriksschlot raucht, die Autobahn schmiegt sich nahe an die Schienen. Grüne Schilder mit weißer Schrift weisen nach Bologna. Lastwägen, Automobile, der Zug überholt sie. Schneller solle es gehen, wünscht sich Alexandra. Tatamtatam. Es rüttelt und schüttelt sie im Polstersitz.
Kurzer Aufenthalt in Ferrara. Wenige Minuten zum Ein- und Aussteigen. Vereinzelt stehen einige am Bahnsteig. Es ist früher Morgen.
Jemand reißt die Tür auf. „Permesso!" Alexandra blickt das Pärchen an. Natürlich ist hier Platz. Ende September verreisen nicht mehr so viele. Sie hat das Abteil ja für sich gehabt. Sie schließt die Augen. Der Zug setzt sich neuerlich in Bewegung. Die Sonne dringt durch ihre Augenlider, färbt das Dunkel rot. Bilder der Vergangenheit, unversehens tauchen sie auf. Schreckgestalten, Geister, Fratzen. Nach zwei Jahren noch. Es ist doch vorbei, denkt sie. Es hilft nichts.
„Das Kind ist minderbegabt", hatte ihre Mutter am Sprechtag zu hören bekommen. Geschrei, Tränen. Alexandra müsse sich mehr anstrengen. Noch mehr? Der Professorin gespitzter Mund hatte ihrer Mutter verkündet, was Wahrheit zu sein schien. Ein wenig hocherhoben war ihr Kopf dabei.
Stets im grauen Kostüm, streng geschnitten, stand die Professorin vor der Klasse, Alexandra mitleidig ansehend. So pummelig war sie damals in der Pubertät, eine Außenseiterin, scheel angesehen von den Lehrern, den Kammeraden. Schlecht waren die Noten, ungeduldig die Nachhilfelehrer.
Unter Druck hatte sie gestanden, die pummelige Alexandra, alleingelassen. Still und schüchtern hatte sie in der hinteren Reihe gesessen, das Pult anstarrend. Sechs Stunden Marter montags bis freitags.
„Was hat ein Arbeiterkind an einer Mittelschule verloren", der untersetzte Professor mit Glatzeneinbuchtungen an den Schläfen musste ihrer Mutter seine Meinung sagen. So gehe das nicht, es gebe ehrenwerte handwerkliche Berufe, welche Alexandra erlernen könne, es sei ja keine Schande. Zu mehr reiche es eben nicht bei ihr. Die Mutter hatte den Professor nur angestarrt, der genüsslich seinen grauen Spitzbart streichelte. Das Kind müsse einfach mehr lernen. Mehr Druck, heißere Tränen.
Alexandra hatte einen heimlichen Schatz gehütet. Eine Metalldose mit verschnörkelter Schrift. „Cioccolatini Mansoni" Eine süße Erinnerung an Venedig, jenen Sommerurlaub, der erste im Ausland. Geheimnisse waren darin enthalten. Briefe ihrer italienischen Brieffreundin, Postkarten, ein kleines, heimlich erworbenes Wörterbuch, Briefmarken. „Poste italiane", wieder und wieder waren jene Lettern auf den kleinen bunten Papierquadratchen durch Alexandras Tränenschleier gedrungen. Heimlich hatte sie die Dose vor dem Schlafengehen zu öffnen gepflegt. Eine kleine Taschenlampe in der Hand. Der Zauber einer anderen Welt war in dem verspielt beschrifteten Messingbehälter verborgen. Nur Alexandra hatte den Inhalt gekannt. Italien, die Rettung, wenn all das vorbei sein würde.
Tatamtatam. Eintönig rüttelt der Zug. Die Semesterprüfungen an der Universität verliefen recht gut. Italienische Grammatik hätte besser ausgehen können, war aber nicht schlimm. Jetzt zu Francesca, ihrer neuen besten Freundin, die Jus studiert. Anwältin möchte sie werden, wie ihre Eltern. Im kleinen Gästezimmer würde alles für sie vorbereitet sein.
Abermals die Gespenster. Warum sie denn nicht hinter der Grenze bleiben wollten, die vermaledeiten Spukwesen. Alexandra ist ihrer Grimassen überdrüssig. Ihr Maturazeugnis mit schlechten Noten, vollgespickt mit „gerade noch". Geografie. Die Alpen. Alexandra hatte Südtirol Trentino Alto Adige genannt, laut vor allen. Die Professorin, die sie für minderbegabt gehalten hatte, hatte ihr dafür ein „gerade noch" verpasst. „Wie kann man nur..., na ja das Kind ist halt dumm."
„Owe mit dia noch Italien, wauns da net passt", hatte Magda, welche sie ihre beste Freundin wähnte, da sie die Einzige war, die mit ihr sprach, geschrien.
„Schleich di zu deine gschissanan Itaka", hatte ein anderer gerufen.
„Waunst so schiach und deppat bist wie die, kaunst eh nua duat owe geh!"
Schallendes Gelächter, Häme, heiße Tränen.
Tatamtatam. Geht denn das nicht schneller? Die zehnte Romreise innerhalb von zwei Jahren. Wegfahren, davonlaufen. Wien hatte sie nie zu umarmen vermocht. Alexandra liebt Italien innig, und Italien scheint auf seine Art sie zu mögen. Zumindest kann es Alexandra umarmen und zwei Küsschen auf die Wangen drücken. Arbeiten gehen, Prüfungen machen, runter, wieder rauf, wieder runter. Weg, auf nach Rom, nach Mailand, nach Verona, Florenz, wohin auch immer, nur über die Grenze, den Geistern zu entkommen versuchen.
Bologna Centrale. Fünf Minuten Aufenthalt. So fahr doch endlich! Alexandra schlägt mit der Faust gegen ihren Oberschenkel. Ungeduld kribbelt durch sie. Beweg dich! Magdas Fratze taucht auf. Nicht doch, geh! Lass mich doch bitte, bitte in Frieden!
Sanfte Hügel begleiten sie nun. Grüne Weinberge, Zypressen, Olivenbäume, Pinien. Zierliche, alte Häuser mit hellroten Ziegeldächern. Schmale Straßen schmiegen sich die Hänge entlang.
Florenz. Alexandra schläft, müde geworden vom Verscheuchen. Das Pärchen erhebt sich leise, öffnet kaum hörbar die Glastür des Abteils. Die Reisetasche plumpst auf den Boden. Alexandra schreckt aus dem Schlummer.
„Verzeihen Sie!"
„Macht nichts! Auf Wiedersehen!"
Tatamtatam. Später Nachmittag. Zwölf Stunden eintöniges Gerüttel. Rom werde die Geister vertreiben, mit seinem Gewirr, seinem Lärm, seinen Ruinen. Alexandra stampft im Abteil von einem Fuß auf den anderen. Die Glieder sind ermattet vom Liegen und Sitzen. Der Zug scheint schneller zu fahren, so als ob er seine Endstation bereits herbeisehnte.
Vertrocknetes Gras, Wohlstandsmüll. Die ersten Betonklötze. Hässliches Durcheinander an Reklameplakaten, unansehnlichen Bauten, Stromleitungen, Schildern, schmucklosen Straßen, durch welche sich Fahrzeuge in zähem Takt quälen. Unterhalb mit Rollläden verdeckter Fenster spielt der Wind mit aufgehängter Wäsche. Flachdächer mit Antennenwäldern. Das Durcheinander wird dichter. Rußgeschwärzte Fassaden mit zerbröckelndem Zierrat, graue Fensterläden. Vergessene Vorstadt aus früheren Zeiten. Langsamer, immer langsamer der Rhythmus der Schwellenschläge. Erste Signale, ein Kontrollturm. Alexandra drückt die obere Hälfte des Fensters nach unten, beugt sich hinaus. Am ersten Schild weiß auf Blau - Roma Termini -. Die Ausläufer der Bahnsteige. Warmer Wind streichelt Alexandras Gesicht. Der Wagon ist nun unter dem Dach des Bahnhofes. Am Bahnsteig eine wuselnde Menge. Im Gewühl kann Alexandra Francescas rote Jacke erkennen. Der Zug bleibt stehen. Alexandra nimmt ihre Reisetasche vom Gepäckhalter. Ungeduldig drängt sie sich in die Reihe der Aussteigenden.
Ihre Füße berühren den Boden. „Endlich!", denkt sie und bewegt sich schnellen Schrittes durch die Menge zu Francesca.