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Ist es normal?
Ist es normal?
Wieder einmal knallen die Türen. Und sie weint. Aus Verzweiflung, aus Wut. Nur zu gerne würde sie jemandem von ihren Problemen erzählen. Aber wen interessiert es schon, dass sie mit ihrer Mutter Stress wegen einer Vier in Politik hat? Andere haben wenigstens wirkliche Probleme. Zum Beispiel werden sie geschlagen oder haben nur ein Elternteil oder die Eltern sind Alkoholiker oder die Kinder haben selbst Drogenprobleme oder wie auch immer. Sicher, es ist kein besseres Leben, aber so hätte sie bestimmt jemanden, der sie in Schutz genommen hätte. Da würde man ihr helfen, da ist sie sich sicher. Doch warum sollte sie deshalb Derartiges tun?
Eigentlich hatte sie ja schon diverse andere Konflikte vorher. Meistens mit der Mutter. Und meistens wegen ihr. Wegen ihrem Zimmer, wegen ihres Verhalten, wegen ihrer vielen Hobbys. Und wegen ihrem „wahren Problem“. Enuresis. Doch darüber will sie nichts mehr hören. Sie war schon zur Kur. Zweimal sogar. Wie ein Baby kommt sie sich bei dem Gedanken an ihr nasses Bett in der Nacht vor. Hilflos. Einsam.
Vielleicht könnte sie ein Tagebuch führen, aber Monologe niederzuschreiben, das hilft einem auch nicht weiter, meint sie.
Sie hat schon Freunde, eine ganze Menge sogar. Aber wem soll sie erzählen, dass sie ihre Mutter hasst, nur weil sie wegen einer Vier Ärger bekommt? Das ist doch vollkommen lächerlich! Niemanden würde das interessieren. Keinen. Vielleicht würde die beste Freundin es verstehen? Nein, die hat doch selbst genug andere Probleme. Aber sind Freunde nicht zum Helfen da? Ja, schon, aber das ist doch kein „richtiges“ Problem. Eine Bekannte aus dem letzten Kuraufenthalt würde ihr bestimmt zuhören. So manche Nacht haben sie über alles geredet. Einfach so. Keine Hemmungen. Aber sie jetzt mit ihren Leiden zu konfrontieren wäre wohl auch nicht so passend. Schließlich gab es erst kürzlich einen Todesfall in ihrer Familie.
Was soll sie tun? Eingeschlossen in ihrem Zimmer läuft sie nachdenklich hin und her. Sie hat sich schon oft Gedanken darüber gemacht, wie es wäre einfach wegzulaufen. Aber jedes Mal verwarf sie diese Idee wieder, mit dem Grund, dass dadurch ihr Hass zur Mutter auch nicht verschwindet. Obwohl, vielleicht ist es gar kein Hass. Sie weiß es nicht. Sie will einfach weg. Weit weg von Zuhause, weg von der kritisierenden Mutter, weg vom schweigenden Vater. Nur ihre Schwester, die möchte sie nicht allein lassen. Aber zu der ist die Mutter auch nicht so gemein. Nur zur Größeren, Älteren.
Weil sie eine Vier hat, eine einzige! Und das auch noch in Politik, einem Nebenfach. Nicht in Mathe oder Englisch. Nein, in Politik. Dabei ist sie doch sonst immer ganz gut. Zwar nicht die Klassenbeste, aber gut. Viele wären stolz auf solch ein Zeugnis.
Was wäre wenn sie sich umbringen würde? Einfach so. Mit dem Messer die Pulsader aufschneiden oder aus dem Fenster stürzen. Nein. Wieso nicht? Andere haben das auch getan. Aber sie will doch nicht sein wie andere! Sie ist nicht normal. Aber was ist schon normal? Ist es normal, dass man einfach nur weg will? Sind solche sinnlosen Streitigkeiten normal? Ist es normal, so eine Geschichte zu schreiben, in dem Glauben, dass jemand sie versteht?