- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Iss und lächle
„Was haben Sie?“
„Nichts!“
„Na ja, warten Sie mal! Ich hab hier was, Sie sehen mir irgendwie traurig aus.“ Steve lächelte verhalten und begann ein wenig unbeholfen in seinen Jackentaschen nach etwas zu suchen. Sein Parkbanknachbar sah ihn misstrauisch an, eigentlich wollte er nur in Ruhe gelassen werden. Unterdessen suchte Steve weiter, fand aber nur zusammengeknülltes Bonbonpapier, ein benutztes Taschentuch und einige Geldmünzen.
„Moment, ist wohl doch nicht in der Jacke.“ Er schob seine Hand in die Hosentasche und holte schließlich eine kleine, gelbe Kapsel heraus, die zwischen Zeigefinder und Daumen klemmte. So hielt er sie gegen das blasse Licht der Laterne, die wenige Meter den Weg hinunter stand.
„Hm, die ist noch gut. Wollen Sie?“, fragte Steve und streckte sie seinem Parkbanknachbar entgegen.
„Sagen Sie es mir, falls ich mich irre, aber haben Sie die nicht gerade aus ihrer Hosentasche gezogen?“
"Ja, hab ich. Und?“
„Die befand sich dort schon länger?“
„Ja.“
„Ist ja ekelhaft. Was ist das?“
Steve lachte. „Genau das richtige für Sie, glaube ich. ‚Eat and Smile’ nennt man die.“
„So? Ist scheinbar nicht ihre erste heute?“
„Ich brauch die nicht, gibt auch so genug worüber ich lachen könnte.“ Steve unterbrach, blickte kurz in die Ferne und setzte mit ernsterem Ton wieder an: „Manchmal bin ich versucht, doch eine zu nehmen. Ich meine, damals waren die recht teuer und man bekam sie nur auf Rezept. Ich selbst hatte sie immer öfter meinen Patienten verschrieben – und jetzt bekommt die jeder umsonst.“ Er konnte sich ein höhnisches Lachen nicht verkneifen.
Seinen Banknachbar verstörte das ein wenig. Steves Worte waren befremdlich für ihn.
„Wie heißen sie eigentlich? Ich bin Steve.“
„Frank.“
Steve nickte.
„Gut Frank, wollen Sie nun diese Pille? Sie ist nicht gefährlich, auch wenn ‚Friss und Stirb’ passender gewesen wäre.“ Er lachte wieder. „Hm, Moment... hier sind noch ein paar andere. Die hier ist für mehr Selbstvertrauen. Oder haben sie Kinder? Mit der hier werden die ganz brav und-“
Frank fiel ihm ins Wort: „Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten so was früher ihren Patienten verschrieben. Was sind sie von Beruf?“
„Ich war Psychiater, bis die Biotechnik mich überflüssig machte. ‚Eat and Smile’ bekommt man übrigens auf dem Arbeitsamt. Wo waren Sie die letzten Jahre, auf jeden Fall nicht dort! Ich habe zwei Vermutungen: Erstens: Sie sind ein Pillenfresser, haben nun keine mehr und sind aus ihrem Wachkoma erwacht und glauben wahrscheinlich, sie würden jetzt nur träumen. Oder zweitens: Sie gehören in die Oberschicht, haben Arbeit und sind mit alldem noch nie in Berührung gekommen oder es hat Sie bisher noch nicht interessiert, aber dann sind Sie ein blinder Idiot!“
Frank wendete seinen Blick von Steve ab, nicht ein Ton kam über seine Lippen.
„Hm. Entschuldigen Sie, Frank. Aber die Welt ist doch irgendwie sonderbar, nicht wahr? Früher musste man Angst haben, wenn man im Dunkeln durch diesen Park hier ging – heute nicht mehr. Ist alles ganz friedlich, die bösen Buben sind alle tot, na ja, nicht ganz, sie fressen jetzt nur diese Pillen hier.“ Steve hielt „Eat and Smile“ hoch und lachte erneut.
„Ach ja. Ach kommen sie Frank, reden Sie mit mir!“
„Ach Steve, lassen Sie mich doch einfach in Ruhe. Ich frage mich ernsthaft, was mich davon abhalten sollte, dieses Ding da einfach runterzuschlucken? Werde ich dann über ihre Worte lachen können?“
„Eure Menschlichkeit für ein Lachen? Obwohl, würden nicht über 90 % der Gesellschaft diese Dinger hier schlucken, könnten Menschen wie du nicht so ein ignorantes Leben führen. Von daher, trag deinen Anteil und schlucke sie runter!“
„Warum haben Sie es noch nicht getan?“
„Weil mich dann nichts mehr aufregen würde und wenn ich recht überlege, ist dies meine Hauptbeschäftigung. Ich wäre Tag und Nacht glücklich, so eine art Dauerfick, aber im positiven Sinne, na ja, wie man es so sieht. Haben sie Ahnung davon?“
„Nicht wirklich.“
„Diese Dinger beeinflussen den biochemischen Zustand des Gehirns, allerdings auf kosten der Kreativität und menschlicher Intelligenz. Die entwickelt sich nämlich nur, wenn es dem Gehirn gestattet wird, verschiedene emotionale Zustände zu erleben und erfolgreich zu bewältigen, da Emotionen den Verstand strukturieren. Verstehen Sie?“
„Ich denke, ich kann es gerade so erfassen.“
„Schön Frank! Na ja, ohne ausreichend emotionale Erfahrungen gibt es keine Intelligenz und diese Pillen berauben die Menschen dieser Erfahrungen.“
„Dafür ist die Welt aber friedlich, wie sie bereits selbst bemerkten, Steve.“
„Wie Sinnvoll? Sie haben vergessen, was ich von Beruf war. Ich weiß wovon ich Rede. Mit diesen Pillen keine echten Emotionen. Ohne Emotionen kein menschlicher Verstand.“
„Das ist doch Quatsch, was haben die niederen Triebe mit dem Verstand zu tun? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, beeinflussen diese Pillen emotionale Zustände, und nicht den Verstand oder die Vernunft.“
„Ach Frank, Sie haben einfach keine Ahnung! Was wäre, wenn die Informationen, die Sie sammeln nach Gefühlskategorien einsortiert werden? Was kommt ihnen in den Sinn, wenn sie an einen Apfel denken? Ganz bestimmt nicht: ‚Verwertbare Nahrung.’ Nein, er schmeckt gut oder er schmeckt scheiße, er schmeckt süß. Wissen Sie eigentlich, wie menschliche Logik entsteht? Wenn sie das erste mal als Säugling ihre Mutter anschauen, lächeln und sie drauf zurücklächelt. Verstehen Sie, so wird das Fundament für das Verständnis von Kausalität gelegt: Wenn ich lächle, lächelt sie zurück. Mit dem Verständnis für Zahlen oder physikalische Größen ist es nicht anders, ohne entsprechende emotionale Erfahrung kann der Verstand nicht wachsen. Sprache wächst im übrigen ebenfalls nur auf diese weise, es braucht immer eine Emotion, die Sie zum handeln bewegt. Wenn Sie aber immer Glücklich sind, was ist dann?“
„Steven, haben Sie die Pille noch?“
„Ja.“
„Könnten wir die uns nicht teilen und reden morgen weiter?“
„Ach was? Von mir aus, einmal Glücklichsein kann ja nicht schaden. Hier, nehmen Sie. Auf glückliche Verblödung.“