Was ist neu

Isegrim

Mitglied
Beitritt
26.07.2002
Beiträge
122
Zuletzt bearbeitet:

Isegrim

Leibeserziehung war immer in der staubigen Halle. Vergilbte Waschbecken in der Umkleide. Tropfende Hähne führten die rostrote Spur dem Siphon zu.
Umziehen, im Winter scheißkalt in den Turnanzügen.
Schwarz, mit halben Arm, aus Nylon. Zumindest habe ich noch braune Beine.
Das sieht nicht ganz so schlimm aus.
Vor Bällen habe ich Angst. Abbrennen, verzweifeltes Laufen im Feld. Die Jungs treffen hart und ich hasse die Lehrerin dafür. Zum Glück bin ich schnell verbrannt. Darf raus, mir die Staubflocken unter den Bänken ansehen.
Schlimmer noch ist Hochsprung. Im Schwung über die Stange. Ich reiße jedes Mal. Es tut auch weh, mit der Stange im Kreuz auf der Matte landen. Die Tränen kann ich verkneifen. Zum Glück.
Nach einer Stunde wieder in die Kabine. Schule aus. Nur noch nach Hause laufen.
Durch die Straße die genau so heißt wie die Halle.
Durst. Trotz der Kälte.
Blöder Sport. Der ist an allem Schuld, an dem Durst und dem schweren Ranzen und dem weiteren Schulweg.
Später wird das nicht besser sein.
Draußen mal kalt mal warm. Je nach Sonnenstand. Ist mir egal, alles ist schlecht. Die Kälte der Winter wegen der vielen Kleider. Auch die Hitze der Sommer. Ich schwitze nicht so gerne.
Manchmal verabreden wir uns nach der Schule. Ich darf erst raus wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Schön ordentlich natürlich.
Ganz oben am Waldrand warte ich. Auf der roten Bank. Wie Spielzeug kleben die Häuser am Hang. Spielzeugautos fahren auf den grauen Linien dazwischen. Ich spucke hinunter. Nur symbolisch. Der schaumige Klecks landet vor meinen Schuhen. Sinkt ein in die halbwaldige Erde, nässt noch ein paar Fichtennadeln. Glättet gerolltes Eichenlaub. Ganz kurz.
Meine Sommerliebe schlendert den Weg hinauf. Niemand wird uns sehen, wenn wir in den Wald eintauchen.
Keiner hört das leise Knacken der trockenen Äste unter unseren Sohlen.
Bis hin zu der kleinen Lichtung schleichen wir.
Es ist Spätsommer. Die Gräser sind fast braun. Es riecht nach Galläpfeln auf Blattunterseiten.
Ich bin noch unerfahren im Küssen. Salzig schmeckt es. Ein wenig nach Meerwasser. Seine Zunge ist wie eine Schnecke. Sie schleicht sich schleimig ein.
Anfassen ist nicht. Ich bekomme stechende Bauchschmerzen unter seinen kalten Händen.
Unterhalten ist auch nicht. Ich habe keine Ahnung von Fußball und er interessiert sich überhaupt nicht für Bücher. Stille.
Dann hat er eine Idee. „Komm!“, sagt er nur und wir laufen atemlos den Hang hinunter. Vorbei an den Neubauten, Richtung der verflixten Turnhalle.
Gottseidank biegt er vorher ab. Ich hinter her. Über Schotter geht es mittlerweile. Bis an den hohen Maschendrahtzaun. Dahinter Industriebrache.
Ich kenne den Förderturm. Von weitem zumindest.
Er weiß einen Schleichweg auf das Gelände. Hunde bellen. Ziemlich nahe glaube ich. Er sieht mich mit einem „hab keine Angst" Blick an.
Wir schleichen weiter. Vorbei an Backsteingebäuden. Kleine Birken haben in den Wasserschenkeln gewurzelt. Alle Fenster sind zerschlagen. Spitz ragen die Reste der Scheiben in die Welt. Dunkles Nichts dahinter. Ich mag gar nicht hineinsehen. Ein wenig Furcht sagt mein Herzklopfen.
Lieber stolpere ich weiter hinter ihm her. Der Schotter ist braunrot. Als wäre er mit Blut getränkt.
Betonfundamente. Riesige Schrauben halten das Eisen fest. Fast bis in den Himmel steigt es hoch.
„Das ist der Wolf“, sagt er.
„Mein Großvater ist mit ihm eingefahren. Immer wieder, bis seine Lunge voll Staub war.“
Mit blanken Augen stehen wir unter dem Stahlgerüst.. Das große Rad da oben steht still. Ich muss blinzeln um hinauf zu sehen. Den Kopf im Nacken.
Die späte Sonne scheint grell in unsere Augen.

Ein Frühjahr danach wurde der Wolf gesprengt.
Es war so, als würde eine Erinnerung zu einem Bild werden.
Einem schwarz-weiß Foto, mit vergilbtem Rand.

@ merlinwolf 2003

 

Lieber Merlinwolf!

Es wird von den Moderatoren, - oder ist es der Webmaster gewesen - , nicht gutgeheißen, einen einfachen Einzeiler zur Klärung der Befindlichkeit des postenden Lesers für richtig anzuerkennen. Mit diesem, jetzt von mir veranstalteten, Geschunkel will ich mir also die Blöße nicht geben, es mit meiner Antwort bei einem maroden Einzeiler zu belassen. Kurz gesagt meine ich also folgendes:
Wunderschön. Mehr ist nicht. Lass mir deinen Text ohne großer Worte, ohne ungewollter Erklärungen. Ich wünsche mir dazu Stille, damit er so bleibt.

Liebe Grüße - Aqua

 

Arche, das war ein Einzeiler :)

Hallo Merlinwolf!

ich finds toll, wie Du es schaffst, aus der Perspektive des Mädchens zu erzählen. Einfache, knappe Sätze, wie immer, die den Rahmen vorgeben.
Und dann die Schilderung des alten "Wolfs", des verlassenden Industriegeländes, eine Erinnerung.
Das ist Dir sehr gut gelungen. Du zeichnest allerdings mehr als ein Foto, zumindest für mich...

liebe grüße, Anne

 

Servus Merlinwolf!

Eine Kindheitserinnerung hat sich, einem alten Foto gleich, in deine Gedanken eingeprägt. War schön zu lesen.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Liebe Leute,
danke auch für die lieben Worte.
Ich habe das mit den einzeiligen Kritiken gelesen (schauder) und muß gestehen, dass es meine Motivation, auf Texte zu antworten empfindlich hemmt.
Ich bin völliger Autodidakt was die Beurteilung von Texten betrifft.
Ich spüre die Empfindungen, und antworte durch die allgegenwärtigen Frage:
"Was hat der Text mit mir gemacht?"
Das war schon meine Vorgehensweise, bevor ich vor einigen Jahren einer literarischen Werkstatt beitrat. Und dort, mit Hilfe unserer Texte, wurde mir diese Art bestätigt. Es soll nicht heißen: "Was will der Künstler damit sagen?" . Nein, Kunst mag gefühlt werden. Alle Versuche einer gegliederten Interpretation sind manchmal schwierig. Das soll natürlich nicht heißen, dass Texte nicht kritisiert und bearbeitet werden dürfen. Wenn es von Nöten scheint.
Versteht ihr das?
Liebe Grüße an Euch
*********merlinwolf*************

 

Hallo merlinwolf,
die Erinnerung wird wach anläßlich deiner Beschreibungen. Ein wenig melancholische Romantik schwingt mit.
Der Stil ist in Ordnung, bis auf einige "Mäckelleien", die ich weiter unten aufführe.
Der Satz "Das ist der Wolf(...)" überraschte mich, aber die Geschichte nahm doch den erwarteten Gang.
Die Überschrift passt mir persönlich nur bedingt, denn "Isegrimm" ist ja ein fabulöser Begriff für den Wolf, welcher jedoch nur einen Nebenaspekt der Story ausmacht.

Grüße,
para

******************************************************************************************

Die Kälte der Winter wegen der vielen Kleider.
:confused:
Werd das Gefühl nicht los, dass du etwas anderes sagen wolltest...?
Auch die Hitze der Sommer.


Auch der Folgesatz ist mE kein Deutsch und erschließt sich mir demnach nicht völlig.

Niemand wird uns sehen wenn wir in den Wald eintauchen.
Komma nach "wenn"?
Seine Zunge ist wie eine Schnecke.
Bisher dachte ich - unbegründet -, du schreibst von einem Jungen.
Üüüberraschung!
;)
Ich hinter her.
Schreibt man das nicht noch zusammen?
Er sieht mich mit einem „hab keine Angst Blick an“.
Wirkt ungelenk im Vergleich zum restlichen Stil.
Außerdem sind die Anführungszeichen falsch gesetzt, aber an deiner Stelle würde ich umformulieren.
Dunkles Dunkel dahinter
Die Wiederholung finde ich etwas plump. Wie wäre es mit "Zähes Dunkel" ö.Ä.?
Ein wenig Furcht sagt mein Herzklopfen.
Ebenfalls gewöhnungsbedürftig.
Fast bis in den Himmel steigt es hoch
Punkt fehlt.
Mit blanken Augen stehen wir vor dem Stahlgerüst..
Ach, da ist er ja... :D
Es war so. als würde eine Erinnerung zu einem Bild werden.
"Als"

 

Hallo Paranova,
danke erstmal für dein aufmerksames Lesen.
Ich habe mich sehr gefreut, dass du dich so mit dem Text auseinander gesetzt hast. Einige Nachbesserungen habe ich sofort vorgenommen. Den Rest, meist Formulierungen muß ich noch überdenken.
Allein den Titel "Isegrim" kann ich nicht ändern, das hat aber nur mit meiner persönlichen Erinnerung zu tun.
Die muß ich berücksichtigen, sonst verliert die Geschichte, zumindest bei mir.
Danke aber
und alles liebe
*************merlinwolf***********

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,
wie immer, sind meine Anmerkungen betreffs Stil, Titel usw. natürlich subjektiv. Deshalb verlange ich auch gar keine hundertprozentige Befolgung...
Darf ich fragen, warum "Isegrim", oder ist das zu intim?
para

 

Hallo Merlinwolf,

eigentlich habe ich Deine Geschichte nur gelesen, weil ich nicht nur schreiben wollte: "Isegrim schreibt man nur mit einem m." Jetzt bin ich froh darüber, daß mir der Fehler ins Auge gestochen ist, denn die Geschichte ist wirklich schön. Ich konnte mich sehr in die Protagonistin hineinversetzen - ich hab Sport auch immer gehaßt. ;)

Sehr schöner Stil, wunderbar lebendig gemalte Bilder. Wirklich hübsch.
Muß mehr von Dir lesen.

Sav

Ach ja: Photo schreibt man schon lang nicht mehr so. -> Foto.

 

Liebe Leser
@ para - nochmals danke für deine Anmerkungen, es hatte zur Folge, dass ich den Text nachbesserte. Das kommt recht selten vor, kann aber Ansporn sein, die anderen Texte auch nachzusehen .
Isegrim kann ich so nicht erklären, würde viel zu weit führen. Alte Wölfe haben flockiges Fell und trübe Augen.
@ raven - das zweite "m" war ein kapitaler Fehler und wurde sofort berichtigt (schäm)
Danke auch dir für dein Lesen. Ich freue mich wenn dir meine Worte gefallen haben.
Alles liebe für Euch
***Merlinwolf**********

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom