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Isabella oder "Das letzte Streichholz"
Isabella
oder
"Das letzte Streichholz"
Der schwarze Mercedes hielt auf der Hofeinfahrt.
Peter Lohmann stieg aus und lief trotz des strömenden Regens nur widerstrebend auf die Villa zu, die er sein Eigen nannte.
Als er den Schlüssel in das Schloss steckte, vernahm er die Stimme, die in seinen Ohren schmerzte und die er im Laufe der Jahre zu hassen gelernt hatte.
„Peter, bist Du es?“
Seine linke Hand zitterte, er krampfte sie darum zu einer Faust zusammen.
Wer um alles in der Welt hätte es sonst sein sollen?
Wer?
Sie hatten doch seit Jahren keinen Besuch mehr gehabt!
Wortlos betrat er das Haus und schloss hinter sich.
Seine Frau kam langsamen Schrittes auf ihn zu.
„Ich habe so lange auf Dich gewartet!“
Sie nahm seine rechte Hand, führte sie zu ihrem Gesicht.
Dann rieb sie ihre Wange an seiner Handinnenfläche.
Angewidert ließ er diese Prozedur, die immer stattfand, wenn er nach Hause kam, über sich ergehen.
Er hasste sie!
Dabei hatte er sie einmal geliebt!
Damals war sie eine bildhübsche junge Frau gewesen. Sie hatten sich in Italien kennen gelernt, wo sie als Dolmetscherin tätig gewesen war.. Er hatte sie dann zu sich nach Deutschland geholt, wo bald darauf die standesamtliche Trauung stattfand.
Er glaubte damals die Liebe seines Lebens gefunden zu haben.
Sie war in der Tat eine treue Seele, niemals musste er sich Gedanken machen, dass sie ihn betrügen würde, obwohl die Männer ihr damals hinterhergestarrt hatten. Sie wollte nur mit ihm zusammen sein, ging fast nie aus und war so anhänglich, dass es ihm manchmal schon beinahe unangenehm war.
Nach fünf Jahren geschah etwas, dass diese Liebe zu einem niemals endenden Alptraum werden ließ.
Isabella wurde schwanger, ein Wunschkind.
Die Geburt verlief problemlos, es war ein Junge, gesund und munter wie es schien.
Peter Lohmann war bei der Geburt dabei gewesen und Isabella hatte vor Glück geweint, als sie das Kind zum ersten Mal in ihren Armen hielt.
Wenige Stunden darauf starb das Baby.
Isabella schrie so lange, bis man ihr ein Beruhigungsmittel injizierte.
Als sie wieder erwachte, fiel sie eine Krankenschwester an, die ihr Kopfkissen aufschütteln wollte.
Der Arzt hatte ihm nachher erklärt, dass sie immer wieder geschrieen hätte:
„Er ist nicht tot! Gebt mir meinen Jungen zurück!“
„Peter, warum warst Du so lange fort?“
Ihre Stimme holte ihn zurück ins Jetzt.
Müde entgegnete er:
„Ich war doch gerade mal eine Stunde weg, und das auch nur, um die Wocheneinkäufe zu erledigen!“
„Lass mich nie wieder so lange allein!“, flüsterte sie.
Er hätte sie am liebsten erwürgt! Gönnte sie ihm nicht einmal mehr diese eine Stunde pro Woche, in der er für sich sein konnte?
Seit vierzehn Jahren kümmerte er sich jetzt um sie. Er hatte seinen Job gekündigt, nur um für sie da zu sein.
Finanzielle Probleme gab es dennoch nicht. Geld war da im Überfluss, wofür hätten sie es ausgeben sollen?
Sie hatten seit dieser Zeit nichts mehr unternommen, kein Urlaub, keine Restaurant- oder Theaterbesuche, keine Hobbies, der gesamte Freundeskreis war weggebrochen, sie hatten nur einander.
Er wusste, es war nicht fair, aber von Tag zu Tag hasste er Isabella dafür mehr.
Nach dem Angriff auf die Krankenschwester wurde seine Frau auf Anraten des Arztes in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, wo man sie ein halbes Jahr therapierte.
Als er sie wieder nach Hause holte, war sie nicht mehr dieselbe.
Sie konnte gar nicht mehr allein sein, fragte jedes Mal voller Angst, wohin er ginge, sobald er sich nur in Richtung Tür bewegte.
Sie selbst verließ das Haus von da an nicht mehr, es war zu ihrem beschränkten Reich geworden, seit nunmehr vierzehn Jahren!
Erschöpft ließ er sich in seinen Ohrensessel sinken. Er führte seine gestopfte Pfeife zum Mund und holte die Schachtel mit den extra langen Zündhölzern aus der Hemdtasche.
Es waren nur noch sechs Hölzer darin. Er musste dringend neue kaufen.
Das Rauchen war die einzige Abwechslung, die er sich noch gönnte.
Er inhalierte den Rauch tief in die Lungen und ließ ihn genüsslich wieder ausströmen.
Isabella trat von hinten an ihn heran und legte ihre Arme auf seine Schultern.
Es machte ihn krank von ihr berührt zu werden!
Der Psychiater hatte ihm damals gesagt, dass er unendlich viel Geduld für Isabella aufbringen müsse. In den Sitzungen habe sie preisgegeben, dass sie als Kind von ihrem Vater oft in den dunklen Keller gesperrt worden sei.
Daher rührten auch ihre starken Ängste vor dem Alleinsein, vor dem Verlassenwerden, vor der Dunkelheit.
Wegen des Todes ihres Kindes sei sie zusätzlich schwer gemütskrank geworden.
Damals hatten Lohmann die Worte des Arztes sehr mitgenommen. Isabella hatte ihm unendlich Leid getan.
Nun nicht mehr! Mit den Jahren hatte er verlernt, noch Mitgefühl für diese Frau aufzubringen, die durch ihr Verhalten sein Leben zerstörte. An sein Gemüt, daran, dass er an dieser Situation zugrunde ging, dachte niemand!
Musste er wirklich sein ganzes eigenes Leben für sie opfern? War es fair, dies von einem Menschen zu erwarten?
„Peter?“
„Was?“, schrie er.
Verängstigt zuckte Isabella zusammen.
„Ich .. ich .. wollte nur fragen, ob Du mir beim Einmachen helfen kannst. Ich brauche den großen Topf aus dem Keller.“
„Natürlich, Du würdest ja um keinen Preis in den Keller gehen, nicht wahr? Dafür jagst Du lieber mich hinunter!“
Sie begann zu weinen.
Peter Lohmann verdrehte die Augen im Kopf.
„Reiß Dich zusammen!“
Genervt sprang er aus seinem Sessel auf, ging in den Flur, öffnete die Kellertür und stieg die große, lange Steintreppe hinab.
Sie hatte nie etwas besseres zu tun als irgendwelche Dinge einzumachen! Der ganze Keller stand voll mit Weckgläsern, deren Inhalt eh nie gegessen wurde!
Wenigstens ließ sie ihn in Ruhe, wenn sie mit dem Einkochen beschäftigt war.
Der Keller war riesig, er lief unter der kompletten Villa entlang. Die verwinkelten Räume, die vielen Regale, die Mauerdurchbrüche zu den weiteren Räumen ließen ihn noch größer erscheinen.
In gewisser Weise konnte er Isabella sogar verstehen, selbst er verspürte hier ein unangenehmes Gefühl.
Den schweren Einkochtopf vor sich tragend stieg er mühsam die Treppe hinauf. Einmal wäre er auf den glitschig-nassen Steinen beinahe ausgerutscht.
Wenn es draußen viel regnete, wie jetzt, lief das Wasser manchmal von den Wänden hinab.
Fluchend konnte er eben noch das Gleichgewicht halten und schlug wütend die Kellertür hinter sich zu.
„Danke Schatz!“
Er erwiderte nichts, stellte den Topf auf den Küchenboden und ging zurück in das Wohnzimmer, wo er die Pfeife zurückgelassen hatte.
Peter Lohmann griff zur Tageszeitung. Der Himmel war so wolkenverhangen, dass er die Deckenlampe einschalten musste.
Plötzlich verlöschte das Licht.
„Peter? Komm schnell, ich hab’ Angst!“
„Was ist denn nun schon wieder?“, rief er wütend.
Er lief in die Küche, wo Isabella, auf dem Boden kauernd, weinte.
„Plötzlich hat’s geknallt! Dann ging das Licht aus!“
„Wie oft habe ich Dir gesagt, dass Du nicht die Steckdose neben dem Kühlschrank benutzen sollst? Wie oft?“
Sie weinte noch mehr.
„Jetzt ist die Hauptsicherung rausgeflogen!“
„Machst Du sie bitte wieder rein?“, fragte sie ängstlich. Es ist so dunkel hier!“
Oh, er hasste sie!
Er dachte kurz nach, dann sagte er barsch:
„Du bist Schuld daran, also wirst Du auch die Sicherung wieder eindrehen!“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
„Bitte, Peter! Du weißt, dass ich nicht in den Keller gehen kann!“
„Doch, das wirst Du!“, schrie er.
„Nein!“, rief sie ängstlich.
„Jetzt ist Schluss! Ich mache das nicht mehr mit! Ich lasse mich nicht von Dir schikanieren, Du verrücktes Miststück! Du gehst in den Keller!“
Die angestaute Wut von vierzehn Jahren entlud sich: er ohrfeigte seine Frau und packte sie so heftig an ihrer Bluse, dass der Stoff zerriss. Dann schleifte er sie hinter sich her, durch den Flur und auf die Kellertür zu.
Sie schrie wie von Sinnen.
Sollte sie doch schreien! Weit und breit gab es keine Nachbarn, die sie hätten hören können.
Er riss die Kellertür auf.
„Geh!“
Das Schreien klang ab zu einem Wimmern. Isabella klammerte sich an den Stoff seiner Hose.
„Bitte, Peter ...“
„Steh auf, Isabella ...“
„Bitte ...“
„Steh auf!“
Vorsichtig erhob sie sich.
Am ganzen Körper zitternd ergriff Isabella seine rechte Hand, führte sie langsam zu ihrem tränenüberströmten Gesicht und schmiegte sich an sie.
„Lass das!“, schrie er angewidert und stieß sie zurück.
Sie torkelte zwei Schritte zurück, durch die offene Kellertür, strauchelte und stürzte die lange Steintreppe ins Dunkel hinab.
Peter Lohmann stand unter Schock. Fassungslos starrte er minutenlang in die schwarze Leere, dann schloss er wie in Trance die Kellertür, schloss ab, ging ins Wohnzimmer, setzte sich in seinen Sessel und zündete sich eine Pfeife an.
Nach einer halben Stunde begann er wieder halbwegs klar zu denken.
Isabella war tot. Es war ein Unfall gewesen.
Hatte er aber nicht schon lange ihren Tod gewollt? Hatte er sie nicht so sehr gehasst, dass er ihr den Tod gewünscht hatte.
Ja, das hatte er!
Nun war sie tot und er war frei! Nach vierzehn Jahren!
Er würde einfach einen Krankenwagen rufen und erzählen, dass sie auf den glatten Stufen ausgerutscht und dann die Treppe hinuntergestürzt sei.
Er griff zum Telefon, als er plötzlich ein Geräusch vernahm.
Er horchte angestrengt. Nichts.
Dann plötzlich eine weinerliche Stimme:
„Peter?“
Seine Augen weiteten sich vor Schreck.
„Bitte, wo bist Du?“
Gott, sie lebte noch!
Er konnte ihre Stimme unten aus dem Keller hören!
„Bitte, Peter. Es ist so dunkel! Ich habe Angst! Ich habe mir die Beine gebrochen! Peter, es tut so weh!“
Ein schmerzvolles Stöhnen war zu vernehmen.
Wie in Zeitlupe ließ er den Hörer wieder auf die Gabel gleiten.
Sie lebte noch ...
Er nahm eine angebrochene Flasche Weinbrand aus der Hausbar, lehnte sich zurück in seinem Ohrensessel, nahm einen großen Schluck, der im Hals brannte und starrte vor sich hin.
Wenn er ihr jetzt half, begann sein altes Leben, das man seit Jahren nicht mehr als solches hatte bezeichnen können, von vorn.
Sie musste sehr schwer verletzt sein, nach solch einem Sturz! Er sah zur Uhr. Viertel nach sechs. Er würde noch fünf Minuten warten, sicher würde sie jetzt gleich sterben ...
Er nahm einen weiteren großen Schluck. Dann noch einen.
Aus den fünf Minuten wurden zehn, dann zwanzig.
Nach einer halben Stunde endlich hörten die Hilferufe auf.
Endlich war es vorbei!
Die ausgetrunkene Flasche ließ er achtlos zu Boden gleiten.
Als er aufstand wurde ihm schwarz vor Augen.
Er torkelte ins Bad und übergab sich. Dann brach er zusammen.
Orientierungslos erwachte er von einem Geräusch. Sein Kopf schien zerspringen zu wollen.
Im ganzen Haus war es dunkel. Er schaltete die Beleuchtung seiner Armbanduhr an, es war kurz nach Mitternacht.
Ein plötzlicher Schrei ließ ihn zusammenfahren.
„Peter! Komm, hier sind Ratten! Peter, bitte! Ich habe Angst! Peeeteeeer!“
Isabella kreischte wie eine Wahnsinnige.
Er rappelte sich auf, lief hinaus auf den Flur, auf die Kellertür zu und hämmerte dagegen.
„Halts Maul, Du blöde Kuh! Halts Maul!“
Wie eine Besessener schlug er mit seinen Fäusten auf die schwere Kellertür ein.
„Stirb endlich! Verdammt noch mal, Du Miststück! Stirb!“
Weinend sackte er zusammen und blieb mit dem Rücken an die Tür gelehnt sitzen.
„Stirb doch endlich ...“
Es wurde wieder still.
Es schien endlich vorbei zu sein.
Was sollte er tun?
Er brachte es nicht fertig jetzt in den Keller zu gehen.
Den Notruf wählen konnte er auch nicht mehr! Sicher würde herauskommen, dass Isabella nach dem Sturz noch eine gewisse Zeit gelebt hatte.
Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er verließ das Haus, schloss ab, stieg in seinen Wagen und fuhr ziellos durch die Gegend.
Nach zwei Stunden Fahrt hielt er vor einem Hotel. Er hatte einen Entschluss gefasst, der nicht genial war, aber eine bessere Lösung wusste er nicht. Er würde sich die nächsten zwei Wochen hier einquartieren, dann nach Hause zurückkehren, die Leiche verschwinden lassen, den Keller säubern und seine Frau als vermisst melden.
Sollte man ihm Fragen stellen, würde er aussagen, dass er nach einem heftigen Ehestreit das Haus verlassen und seine Frau nach seiner Rückkehr nicht mehr da gewesen sei.
Nach vier Tagen kamen ihm erste Zweifel, ob dies wirklich ein Plan sei, der ein gutes Ende für ihn bereithalten könnte.
Wäre es nicht gut möglich, dass eine Hausdurchsuchung bei ihm durchgeführt würde?
Selbst wenn er die Leiche loswurde und alles säuberte, würden eventuelle Untersuchungen nicht ergeben, dass im Keller jemand zu Tode gekommen war?
Kämen vielleicht sogar Leichenspürhunde zum Einsatz?
Dutzende Fragen begannen ihn zu quälen.
Es wurde jeden Tag schlimmer.
Er hatte stets wiederkehrende Alpträume, in denen er in seinem Schlafzimmer lag, die Türklinke langsam niedergedrückt wurde und eine Gestalt ins Dunkel des Zimmers trat. Immer wenn er kurz davor war, das Gesicht dieser Gestalt erkennen zu können, wachte er schweißgebadet auf.
Am Abend des zehnten Tages brach er den Aufenthalt in dem Hotel ab und fuhr zurück.
Er hielt es nicht mehr länger aus.
Auf dem Rückweg begann Lohmann darüber nachzudenken, wie es sein würde, in den Keller zu gehen. Wie es sein würde, seiner toten Frau in die gebrochenen Augen zu sehen, ihren steifen Körper die Kellertreppe hinaufzutragen und das Blut aufzuwischen.
Er riss das Steuer nach rechts und hielt mit quietschenden Reifen auf dem Standstreifen.
Dann hastete aus dem Auto und übergab sich.
Eine Viertelstunde später hatte Peter Lohmann sich gefangen und fuhr weiter.
Mit zitternden Händen führte er den Haustürschlüssel in das Schloss.
„Peter? Bist Du es?“
Schreckensbleich erstarrte er in der Bewegung.
War das die Stimme seiner Frau?
Nein, seine Nerven mussten ihm einen Streich gespielt haben.
Er betrat die Wohnung und drückte den Lichtschalter. Es tat sich nichts.
Die Sicherung!
- Tja, alter Knabe, jetzt kommst Du eh nicht mehr drum rum, in den Keller zu gehen. Pass auf, dass DU nicht stolperst-
Ihn schauderte bei diesem Gedanken, deshalb verdrängte er ihn schnell wieder, ging in die Abstellkammer und holte eine Taschenlampe heraus.
- Jetzt oder nie -
Zögernd arbeitete er sich durch den dunklen Hausflur und schloss die Kellertür auf.
Der Schein der Taschenlampe reichte nicht weit. Lohmann verfluchte sich dafür, dass er nicht ein paar neue Batterien besorgt hatte.
Vorsichtig stieg er die ersten, nassen Stufen ins Dunkel hinab.
Übler Geruch schlug ihm entgegen. Er wusste nicht, wie ein bis zwei Wochen alte Leichen rochen, aber es verursachte ihm Brechreiz.
Nun stand er im Keller und versuchte mit gemischten Gefühlen den Boden abzuleuchten, hier irgendwo musste sie schließlich liegen.
Auf den ersten Blick sah er sie nicht. Hatte sie sich möglicherweise noch irgendwo in eine Ecke geschleppt, wo sie dann gestorben war?
Er bekam starke Beklemmungen! Er musste hier wieder raus! Der Geruch, die Dunkelheit, die Erinnerung an Isabella und ihr Stöhnen und Schreien, das alles war zuviel auf einmal!
Nur noch dort hinten einmal um den Mauervorsprung. Dort befand sich der Sicherungskasten! Langsam kämpfte er sich durch die Dunkelheit, in die seine Taschenlampe kaum mehr als ein kleines Loch reißen konnte.
Ein Geräusch!
Ein schlimmer Gedanke schoss ihm durch den Kopf!
Wäre es möglich, dass Isabella noch lebte und ihn beobachtete?
- Sei nicht so ein Dummkopf! - versuchte er sich selbst zu beruhigen.
- Es sind fast zwei Wochen vergangen! Sie war immer zierlich und fast untergewichtig. Wenn sie auch nicht unbedingt in dieser Zeitspanne verhungert wäre, verdurstet ganz bestimmt! Überhaupt hat sie nach diesem Sturz sicher keinen Tag mehr gelebt! –
Er hörte wieder ein Geräusch, das er weder orten noch definieren konnte!
Vorsichtig ging er weiter, bis plötzlich etwas unter seinen Füßen knirschte.
Mit einem unguten Gefühl leuchtete er auf den Boden.
Dort war Blut!
Und zerbrochenes Glas!
Mit den Glasscherben vermischt entdeckte er Reste von eingelegten Früchten!
Peter Lohmann drehte sich um und hastete auf die Kellertreppe zu.
Dabei stieß er mit dem Kopf gegen einen tiefliegenden Balken.
Er fiel auf den Rücken. Blut strömte aus einer Platzwunde und sickerte unaufhörlich in sein linkes Auge. Er presste die Hand darauf, rappelte sich auf und lief weiter.
Die Taschenlampe hatte durch den Sturz endgültig ihren Geist aufgegeben. Er warf sie fort und gelangte nun auf die Treppe, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend.
Viele Male gelang ihm das. Als er sie schon fast bewältigt hatte, glitschte er seitlich mit dem rechten Fuß weg. Er fiel nach hintenüber, schlug hart mit dem Hinterkopf auf den Stein, überschlug sich und schlitterte die restlichen Stufen auf dem rechten Bein liegend nach unten.
Leider war sein Schicksal nicht so gnädig, ihn einer Ohnmacht zu überantworten, die ihm die Schmerzen genommen hätte. Alles war dunkel. Er spürte, wie ihm sein Blut warm in den Nacken lief und übergab sich, halb liegend, halb sitzend, auf seinen Oberkörper.
Das Bein tat ihm so unwahrscheinlich weh!
Er versuchte sich auf den Rücken zu drehen.
Wenn er doch nur Licht gehabt hätte!
Seine Zündhölzer fielen ihm ein. Vorsichtig griff er in seine Hemdtasche und holte die Schachtel heraus. Vier Stück waren noch darin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er in den letzten zehn Tagen keine einzige Pfeife mehr geraucht hatte.
Er nahm eines der Hölzer und führte es mit zitternden Fingern an der Reibfläche entlang.
Es brach entzwei und der längere Teil mit dem Zündkopf verschwand in der Dunkelheit.
Er griff nach dem nächsten. Diesmal klappte es!
Vorsichtig führte er die Flamme in die Nähe seines Beines. Was er sah, ließ ihn aufstöhnen.
Das rechte Bein war gebrochen. An einer Stelle ragte ein Stück Knochen durch den zerrissenen Stoff seiner Hose.
- Oh Gott! Verdammte Scheiße! –
Er führte das Streichholz weiter an seinem Körper entlang. Sein Hemd war durchtränkt von Blut, gemischt mit den Resten von Erbrochenem.
Fluchend ließ er das Holzstäbchen fallen, als es ihm die Fingerspitzen versengte.
Das Blut rauschte in seinen Ohren. Ihm war übel und er fror.
Ein Geräusch, als würde etwas über den Steinfussboden schleifen, ließ ihn die Luft anhalten.
Irgendetwas war hier im Keller!
- Bitte lieber Gott! Mach dass es nur die Ratten sind! –
Hatte sich da etwas im Dunkel bewegt?
Stoßweise atmend griff er wieder zur Schachtel und holte das vorletzte Zündholz heraus.
Die Flamme leuchtete auf, hatte aber gegen die Dunkelheit kaum Chancen.
Vorsichtig führte er das Licht von links nach rechts und starrte in die schwarze Leere.
Seine Blicke führten hektisch über die Schemen von Regalen und Einmachgläsern, bis sie vor einem dunklen Etwas innehielten, das auf dem Boden lag.
Dieses Etwas kroch nun langsam weiter auf ihn zu. Dabei verursachte es ein schleifendes Geräusch auf dem Steinfußboden.
Er vernahm ein krächzendes Husten, das in Röcheln überging!
Mit einem Schrei, der jeweils zur Hälfte aus Panik und Schmerz bestand, ließ er das Hölzchen fallen.
Dunkelheit.
Das Geräusch schien schon viel näher!
Er bekam nun nicht mehr genug Luft und atmete nur noch stoßweise ein und aus.
Der Geruch! Das war kein Leichengeruch gewesen, sondern die Ausdünstungen von Krankheit, Fäkalien und Urin!
Mit letzter Kraft fingerte er das verbliebene Streichholz aus der Schachtel und brachte es zum Brennen.
„Bitte Isabella, nein!“
Das dunkle Etwas starrte ihm in die Augen! Es waren dieselben Augen, die ihn stets so liebevoll angeblickt hatten, wenn sie den seinen begegnet waren.
Nun hatte der Wahnsinn von ihnen Besitz ergriffen.
Er vernahm Isabellas krächzende Stimme:
„Ich habe so lange auf Dich gewartet! Lass mich nie wieder so lange allein!“
Ihre Hand krallte sich in sein zerschmettertes Bein.
Peter Lohmann begann zu schreien.
Das letzte Streichholz verlosch ...