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Isabell
19.23 Uhr. Isabell steht am Wohnzimmerfenster und schaut in den dunklen Novemberabend. Wo bleibt er nur? Er hat doch schon vor über drei Stunden Feierabend gehabt. Aus den Fenstern ihrer Parterrewohnung kann sie die kleine Straße nur ein winziges Stück einsehen. Die Straße macht einen leichten Linksknick, so dass sie nicht erkennen kann, wann er mit seinem Auto um die Ecke biegt. Isabell wartet schon seit Stunden. Carl hat heute früh sein Handy auf dem Küchentisch vergessen. Zu erreichen ist er also nicht. Den Tag über hat sie das auch nicht gestört, auch wenn sie sonst kurz texten in seiner Mittagspause. Aber jetzt? Jetzt macht sie sich dann doch Gedanken. Ihm wird doch wohl nichts passiert sein? Warum meldet er sich nicht? Er wird doch wohl irgendwie eine Möglichkeit haben, um sie zu erreichen. Sein Kollege hat doch auch immer ein Handy dabei. Das er Überstunden macht, das kennt sie. Aber so viele? Sie bekommt Angst. Isabell tigert in der Wohnung auf und ab. Im Büro seines Chefs wird sie jetzt auch niemanden mehr erreichen. Da hätte sie vor 18 Uhr anrufen müssen. Das hat sie schon einmal gemacht und danach von Carl nur verständnislose Blicke geerntet. „Spinnst Du? Willst du mich kontrollieren?“, waren seine Vorwürfe „ich muss halt viel Arbeiten, das weißt Du doch.“
„Ich habe mir doch nur Sorgen gemacht, dass dir etwas passiert ist. Ich konnte dich nicht erreichen und du hättest mir wenigstens kurz eine Nachricht schicken können“. Mit Tränen in den Augen hörte sie sich seine Vorwürfe an. Natürlich wollte Isabell, Carl nicht kontrollieren. Sie hatte wirklich Angst um ihn und immer dann, wenn er sich verspätet, malt sie sich die schlimmste Horrorgeschichte aus, was ihm passiert sein könnte.
Heute ist wieder so ein Tag. Je dunkler der Abend draußen wird und je weiter die Zeit voranschreitet, umso ungeduldiger und ängstlicher wird sie. Wie oft hat sie schon die Szenarien durchgespielt. Wen soll sie zuerst anrufen? Die Polizei? Oder doch die Krankenhäuser? Würde sie nicht sofort Bescheid bekommen, wenn er mit dem LKW einen Unfall gehabt hätte?
Ja. Klar doch. Doch diese Gewissheit löst eine neue Panikattacke in ihr aus. Vielleicht hat er sie auch verlassen. Eventuell ist er durchgebrannt. Oder noch schlimmer…er hat eine Affäre und vergnügt sich grade an anderer Stelle. Sie überlegt. Gab es Hinweise in letzter Zeit? Hat er sich anders verhalten als sonst? Nein. Sollte sie sein Handy kontrollieren? Schließlich liegt es noch in der Küche. Vielleicht findet sie dort Hinweise.
„Ok, wenn ich nichts im Handy finde, dann muss ihm etwas passiert sein“
Isabell setzt sich an den Küchentisch und streicht über Carls Handydisplay. Das Foto, das sie zwei im letzten Italienurlaub zeigt, erscheint. Er schaut sie glücklich an, während sie seine Wange streichelt. Das perfekte Selfie. Er hat es seit dem letzten Frühjahr als Hintergrundbild. Auf Isabells Gesicht zeigt sich ein kurzes Lächeln. Soll sie wirklich seine WhatsApp Chats ansehen? Würde sie ihm das verzeihen, wenn er in ihr Handy schauen würde? Wahrscheinlich nicht. Doch sie braucht jetzt Gewissheit. Es ist fast 20 Uhr und Carl ist noch immer nicht da. Sie muss sich beruhigen.
Isabell entdeckt natürlich nichts. Keine unbekannten Namen, keine auffälligen Chats. Schon nach kurzer Zeit legt sie sein Handy zurück. Erleichtert. Und im selben Augenblick wieder voller Angst.
Isabell geht zurück ans Wohnzimmerfenster. Plötzlich hört sie Carls Schlüssel in der Tür.
„Hallo Schatz, ich bin da! Tut mir leid, dass es so spät geworden ist, aber unser letzter Kunde war echt kompliziert“, Carl stapft in die Wohnung, schießt seine schweren Arbeitsschuhe in die Ecke und schmeißt den Rucksack hinterher. „Sorry, dass ich Trottel heute früh wieder mein Handy hab liegen lassen. Ich war irgendwie noch nicht ganz fit. Aber Tom war so nett und hat mir seins geliehen, so konnte ich dir hier wenigstens auf en Anrufbeantworter sprechen.“
Er hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen? Isabell wird heiß und kalt zugleich. Sie geht in die Diele und tatsächlich. Das kleine rote Lämpchen am Telefon blinkt. Sie hat es nicht bemerkt, weil der Ärmel ihrer Jacke an der Garderobe die Telefonstation bedeckt hat.
Ihr wird schlecht. All ihre Ängste hätte sie sich heute ersparen können, wenn sie doch nur etwas aufmerksamer gewesen wäre und das Wahrscheinliche in Betracht gezogen hätte, statt ihren Ängsten neues Futter zu geben.
„Ich muss Etwas ändern“, denkt sie sich.“ So kann das nicht weiter gehen. Ich muss mich besser unter Kontrolle haben.“
Isabell schaut Carl an. Müde sieht er aus und geschafft.
„Was gibt es zu Essen, Schatz, ich verhungere…“