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Irrlicht
Der Schnee stürzte herunter wie eine weiße Flut. Himmel und Erde verschmolzen zu einer grau-weißen Masse. Als Klaus stolperte und der Länge nach in das weiße Nass fiel, begriff er, dass er nicht mehr auf der Straße sondern querfeldein marschierte. Dichte Flocken bedeckten Haare und Schultern, drängten sich zwischen Kragen und Hals, durchweichten seine Schuhe, und tränkten Kleider und Haut mit eisigem Wasser. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte er sich nach jedem Sturz wieder hoch und stapfte weiter und weiter durch Nacht und Schnee. Lena hatte angerufen und erklärt, sie sehe keine gemeinsame Zukunft, es sei eine nette Zeit gewesen, aber nicht das was sie sich wünschte. Klaus brachte nichts als „Warum?“ heraus und begriff nichts, von dem was sie sagte. Er fühlte sich, als stürze er ins Bodenlose. Am liebsten hätte er sich in eine Kneipe verkrochen. Statt dessen trieb ihn sein verfluchtes Pflichtgefühl dazu, meilenweit über Land zu fahren, bloß weil Tante Agnes sich auf seinen Besuch freute, und er sie an ihrem Geburtstag nicht enttäuschen wollte! Und nun das! die letzten paar Kilometer vor ihrem Dorf blieb sein Wagen einfach stehen. Alle Versuche, ihn wieder zu starten blieben erfolglos, ebenso die Suche nach seinem Handy. Wohl oder übel musste er seinen Weg zu Fuß fortsetzen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit funkelte in der Ferne ein winziges Licht. Er verdoppelte seine Anstrengung und betete, das Licht möge nicht erlöschen. Und dann rieb er sich verwundert die Augen: In einem gläsernen, achteckigen Gebäude loderte ein gewaltiges Feuer und erhellte die Nacht wie eine riesige Laterne. Klaus wusste nicht ob er wachte oder träumte. Da
öffnete sich eine gläserne Türe, und eine Frau in einem langen, weißen Gewand trat heraus.
„Guten Abend“, sagte Klaus. „Mein Auto hat den Geist aufgegeben. Ich wollte ins nächste Dorf laufen, aber offensichtlich habe mich verirrt und weiß nicht, wo ich gelandet bin. Darf ich Ihr Telefon benutzen?“
Die Frau musterte ihn. „Mit einem Telefon kann ich dir nicht dienen“, erwiderte sie. „Komm herein und sei willkommen in meinem Haus.“
Umgeben von einem Kreis aus Feldsteinen lohte ein offenes Feuer inmitten des Gebäudes und verbreitete herrliche Wärme.
„Wie heißt du?“
„Klaus.“
„Ich bin Alvara, die Hüterin des heiligen Feuers.“
Verwirrt starrte Klaus sie an. Nie zuvor war ihm eine schönere Frau begegnet. Dichte, schwarze Locken umrahmten ein Antlitz, fein und ebenmäßig, wie das einer Göttin der Antike. In ihren großen, dunklen Augen spiegelte sich der Feuerschein, das tiefe, samtige Rot ihrer Lippen erinnerte an eine Rose. Sie lächelte.
„Nun Klaus, ich denke du hast keine Wahl. Also tritt näher und lege deine nassen Kleider ab.“
Sie reichte ihm eine Tunika aus weißer Wolle. Dann wandte sie sich ab und verschwand auf die andere Seite des Feuers. Schwarze, unebene Steinfliesen bedeckten den Boden der gläsernen Behausung. Die spartanische Einrichtung bestand aus ein paar dunklen, hölzernen Möbeln und hellen, grob gewebten Teppichen. Ein rundes Wasserbecken war nahe dem Feuer in den Boden eingelassen. Bilder, Zimmerpflanzen oder anderer Zierrat fehlten und waren auch überflüssig: Das hoch lodernde Feuer verlieh dem Raum Farbe, Licht und Wärme. Klaus fühlte sich, als sei er zu Hause angekommen. Gleichzeitig wusste er, er befand sich außerhalb er Realität. Er mühte sich diesen sonderbaren Traum abzuschütteln.
Die Bewohnerin des gläsernen Hauses lud ihn zu einem einfachen Mahl, einem feingewürzten Eintopf aus Gemüse und Fleisch ein. Klaus aß und konnte den Blick nicht mehr von ihr lösen.
„So weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Elfenbein,“ ging es ihm durch den Sinn.
„Jetzt lass uns den Abend mit einem Glas Wein beenden.“
Sie brachte zwei edle Gläser und eine Karaffe mit dunkelrotem Wein.
„Auf deine Gesundheit, Klaus!“
Der Wein entfaltete ein Aroma, leicht und süß wie Sommerfrüchte, und dabei doch stark, dass er Klaus rasch zu Kopfe stieg. Ein Gefühl von Freude und Glück erfüllte ihn.
„Ich komme mir vor wie im Märchen. Wer bist du? Und wo bin ich?“
Sie lachte. „Ich bin Alvara, die Hüterin des Feuers. Du bist in meinem Haus, im Heiligtum der Taneba. Du hast nie von ihr gehört? Gut, ich erzähle dir von ihr:
„Vor undenklich langer Zeit gab es auf der Erde kein Feuer. Die Menschen jagten Tiere und sammelten Wurzeln, Beeren und Pilze. Sie verzehrten ihre Nahrung roh, eine andere Möglichkeit kannten sie nicht, manchmal wurden sie davon krank, denn viele Pflanzen sind roh nicht bekömmlich, einige sogar giftig, und das Fleisch ist zäh. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versank, irrten sie in der Finsternis umher. Bei Kälte hüllten sie sich in Tierfelle und drängten sich in Höhlen frierend aneinander. Sie fürchteten sich vor dem Winter, der sie mit Kälte, Eis und Schnee, Hunger und Krankheit peinigte. Sie mussten von ihren kargen Vorräten an Nüssen und Wurzeln zehren, denn häufig erschwerte tiefer Schnee die Jagd. Oftmals überlebten Kinder, Alte und Kranke die eisigen, dunklen Wochen nicht. Schmerzlich sehnten sie das Frühjahr herbei, sie flehten zu den Göttern, der Sonne Kraft zu verleihen, damit sie wieder Wärme spendete.
Eines Tages erbarmte sich Taneba, die Göttin des Feuers, der Not der Erdbewohner. Sie sandte einen Blitz herab und entzündete einen abgestorbenen Baum. Anfangs ängstigten sich die Menschen vor den lodernden Flammen. Schließlich fasste der älteste und weiseste von ihnen Mut und näherte sich dem Feuer. Sogleich spürte er, wie wohltuende Wärme seine eisigen Glieder durchströmte. Als er sich ganz nahe heranwagte, schrak er ob der Hitze zurück. Aufmerksam beobachtete er das hell leuchtende, prasselnde, knisternde Ding. Es erschien ihm wie ein lebendiges Wesen. Allmählich verbrannte der Baum, dem Feuer ging die Nahrung aus, es schrumpfte, die Wärme ließ nach. Taneba erfüllte seinen Geist mit Wissen, sie lenkte seinen Blick auf einige dürre Äste. Er legte sie auf die restliche Glut, und erneut lohten die wunderbaren Flammen zum Himmel.
Die Menschen gerieten ausser sich vor Freude und Glück über das göttliche Geschenk. Sie dankten den Göttern und hegten und pflegten das Feuer. Sie bewachten es Tag und Nacht und beteten, es möge nicht wieder von der Erde verschwinden. Eines Nachts erschien Taneba dem weisen Ältesten und offenbarte ihren Willen: Sie verlangte ein Opfer - ein Mensch sollte den Flammen übergeben werden, und zwar derjenige, den sie erwählte. Am anderen Morgen versammelte der Weise die Bewohner der Höhle und verkündete ihnen den Befehl der Göttin. Und die Menschen erwiesen sich bereit, für dieses Lebenselixier das geforderte Opfer zu bringen. Demütig baten sie um ein Zeichen, auf wen die Wahl Göttin fiel. Taneba sah ihren Gehorsam mit Wohlgefallen. Am Abend des folgenden Tages trat eine junge Frau vor und schritt auf das große Feuer inmitten der Wohnhöhle zu. Sie fühlte, Taneba hatte sie erwählt. Stolz über die Auszeichnung zu Ehren der Göttin zu sterben, nahm sie Abschied und stieg umhüllt von den Gesängen ihres Volkes in die Flammen.
Immer besser lernten die Menschen den Umgang mit dem Feuer, und viele Jahrhunderte vergaßen sie nicht, der Göttin den schuldigen Tribut zu erbringen. An besonderen Orten unterhielten Priesterinnen und Priester beständig ein heiliges Feuer, und jährlich feierten sie mitten im Winter zum Gedenken an die Ankunft des Feuers ein großes Fest und brachten ihr das erwählte Opfer dar.
Später verbreiteten sich neue Religionen, die Menschenopfer verboten, und Könige und Priester überwachten dieses Verbot und bestraften die treuen Kinder der Göttin mit dem Tode. Dennoch loht das heilige Feuer verborgen vor den Augen der Ungläubigen weiter, und Jahr um Jahr wählt Taneba ein Opfer. Und bald ist es wieder soweit.“
„Ein seltsames Märchen“, meinte Klaus. „Ein bisschen grausam.“
„Was ist daran grausam? - Das erwählte Opfer geht freudig in den Tod, im Bewusstsein, seiner Bestimmung zu folgen. Die Flammen behandeln es zärtlich, es leidet keine Qualen.
Ganz anders als die armen Menschen, die von den Verblendeten als Ketzer verbrannt wurden.“
Alvara schenkte ihm Wein nach und lächelte. Sie war schöner als sämtliche Prinzessinnen in den Märchen. Klaus erlebte eine Liebesnacht, wie er es nie erträumt hatte. Bevor der Morgen graute, erwachte er. Dunkel erinnerte er sich an Alvaras Geschichte.
„Sie sagt, sie ist die Hüterin des Feuers, dem bald ein Opfer dargebracht wird“, grübelte er, und ein banges Gefühl erfasste sein Herz. Vorsichtig kroch er aus dem Lager, betrachtete die schlafende Alvara. Schöner als der wunderbarste Traum. Er starrte hinaus auf die weiße Einöde. Flammendes Morgenrot ließ den Schnee aufleuchten. „Ich sollte jetzt gehen“, dachte er. „Es ist alles so unwirklich. Ich träume, oder sie ist verrückt.“
Alvara richtete sich auf.
„Komm“, murmelte sie. „Ich freue mich, dass du da bist. Manchmal fühle ich mich ein bisschen einsam.“
Als sie später am Tisch saßen, sagte Klaus: „Du hast mir gestern ein seltsames Märchen erzählt.“
„Oh nein, es ist kein Märchen. In drei Nächten ist Neumond. Dann findet die heilige Zeremonie statt.“
„Und das Opfer für Taneba?“
„Sie wählt es und führt es hier her. So wie dich. Ob du der Erwählte bist wird mich die Göttin wissen lassen und dich auch. Wenn du es nicht bist, darfst du bei dem Fest nicht anwesend sein.“
Klaus suchte nach seinen Kleidern.
„Es ist schade, wenn du jetzt gehst. Wir werden uns nie wieder sehen, denn nach jeder Opferung bestimmt sie für das heilige Feuer einen neuen Ort, damit möglichst viele ihrer Kinder einmal am heiligen Ritual teilnehmen können.“
Klaus blieb, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er sich besser aufmachen sollte, fort von dieser verrückten, verführerischen Frau, die sich als heidnische Priesterin gebärdete. Die nächsten drei Tage erlebte er als reines Glück. Sie liebten sich, dazwischen schlief er oder aalte sich im Bad. Er vergaß alles, was bisher wichtig für ihn gewesen war. Indessen bereitete sich Alvara mit Meditation und Gebeten auf die Opfernacht vor.
Am Nachmittag des dritten Tag sagte Alvara: „Heute wird Taneba ihr Opfer ausersehen.“
Klaus starrte sie ungläubig an. „Falls du glaubst, dass ich es bin, würdest du mich wirklich - verbrennen!“
„Ich führe die Erwählten in die heiligen Flammen, wie ich es schon seit ewigen Zeiten tue. Und sieh, ich bin unversehrt. Du würdest zu der Göttin aufsteigen. Und wenn einst mein Dienst beendet ist, sehen wir uns wieder.“
„Nein!“ rief Klaus entsetzt. „Ich will nicht sterben!“
Er warf die Tunika ab und suchte seine Kleider. Er stürmte durch den tiefen Schnee, rannte und rannte, nur fort von dem trügerischen Haus. Wie aus einer anderen Welt drang ein vertrautes Geräusch an seine Ohren - dicht vor ihm fuhr ein Auto vorbei. Er befand sich auf der Straße. Ein Wagen hielt neben ihm. Der Fahrer kurbelte die Scheiben herunter und fragte, ob er Hilfe benötige. Klaus schlüpfte in das warme Fahrzeug und spürte wie er zitterte. Er merkte, wie der freundliche Mann ihn musterte und stellte fest, dass er ohne Jacke, nur im Hemd fortgelaufen war. Der Mann erkundigte sich jedoch nur, wohin er ihn bringen solle.
„Ich habe es nicht weit - nur ins nächste Dorf.“
Als sie kurze Zeit später das erste Gehöft erreichten, sah Klaus plötzlich Alvaras Gesicht vor sich, und es erschien ihm unmöglich, sich weiter von ihr zu entfernen. Die Vorstellung, sein gewohntes Dasein weiter zu führen, erfüllte ihn mit Grauen. Neben der Begegnung mit Alvara verblasste alles in seinem Leben was ihm zuvor wichtig und gut dünkte. In Gegenwart und Zukunft herrschte nur noch fades, freudloses Grau.
„Hier sind wir schon! Bitte halten Sie an!“, rief er.
Inzwischen brach die Dämmerung herein. Klaus stapfte querfeldein, durch Schnee, über Hügel, durch Gräben. Mit unbarmherziger Klarheit wusste er, ihm blieb keine Wahl. Sein altes Leben lag hinter ihm, er konnte nicht mehr zurück. Nie würde er Alvara vergessen, und so lang er lebte umher irren auf der Suche nach dem gläsernen Haus. Er hatte ein unvergleichliches Glück erlebt, danach konnte nichts mehr kommen. Ob er Tanebas Opfer war oder nicht, sein Schicksal war vorgezeichnet. Seine Beine fanden wie von selbst den Weg. Erstaunt bemerkte er, dass noch ein Wanderer in seine Richtung marschierte. Nein, nicht nur einer, von allen Seiten pilgerten Menschen durch den Abend. Manche trugen Fackeln, andere Taschenlampen, die meisten verzichteten auf ein Licht. Eine tiefe Ruhe senkte sich in sein Herz, er spürte weder Kälte noch Angst. Er folgte seiner Bestimmung. Als er sich den lodernden Flammen näherte, scharten sich bereits viele Anhänger der Feuergöttin um ihr Heiligtum. Ein Murmeln ging durch die Gläubigen. Während Alvara ihm entgegen ging und ihn hinein führte, stimmten sie ein Lied an, einen fremdartigen, dunklen Gesang, der eine Sehnsucht aus Urzeiten verströmte.