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Irritationen
Die Menschen im Kinosaal waren fassungslos, als der Todesstern explodierte. Manche fragten sich, wie schnell wohl all die die Hinterbliebenen von dem Unglück erfuhren. Andere mutmaßten, dass es ein schrecklicher Tod sein müsse, plötzlich am Arbeitsplatz zerfetzt und anschließend in den Weltraum hinaus geschleudert zu werden. In der siebten Reihe, fast ganz rechts, saß Franz S. und kämpfte mit sich selbst. Seine Freundin hielt ihm die Hand, drückte sich an ihn, um ihm Kraft zu geben.
Die Ewoks auf der Leinwand tanzten. Eine besorgte Dame äußerte, dass man das auch verstehen müsse. Franz drückte sich die Hände vors Gesicht. Er atmete gepresst und zählte innerlich bis zehn. Endlich überwältigte es ihn, als die Raumschiffe wieder ins Bild sausten und aufmunternde Musik ertönte und er lehnte sich zurück und lachte: „Hahahahahaha!“
Rings erhob sich abfälliges Gemurmel. Seine Freundin legte den Arm um ihn, wie um ihn zu beschützen, flüsterte in sein Ohr: „Komm, wir gehen raus!“
Mit gesenkten Köpfen drängten sie sich an Knien und Popcorn vorbei bis ans Ende der Reihe und schlichen aus dem Saal. Es war heute nicht das erste Mal, dass das passierte! Franz kam eben immer wieder in diesen Zustand, der ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter machte.
„Sei nicht traurig!“, sagte seine Freundin, als sie eingehakt durch die Fußgängerzone gingen.
„Ich bin froh, wenn wir nach Hause kommen. Meine Muschi ist hungrig.“
Er stutzte. Wieder so ein seltsamer Moment. Natürlich meinte sie die Katze. Er hatte ewig auf sie eingeredet, dass es vielleicht keine gute Idee sei, die Katze Muschi zu nennen. Sie hatte völlig unbefangen geantwortet: „Wieso denn das?“
Sie kamen in die Wohnung, machten Licht. Franz hängte den Mantel auf, da sah er das Plakat!
„Gefällt es dir?“, fragte sie.
Auf dem Plakat war ein Bild von ihr im Dirndl mit breitem Lächeln, die Klarinette in der Hand und darunter der Schriftzug: Zum Blasen geboren.
Er murmelte nur: „Sehr schön!“
Noch schlimmer war es in der Arbeit: „Was ist denn nun schon wieder?“
Sein Abteilungsleiter Ernst merkte, dass er sich bemühte, die Fassung zu bewahren, als sie das Bildmaterial für die neue Kampagne sichteten. Ein Bild zeigte eine Fabrikhalle, mit Gabelstaplern und LKWs davor und auf dem Dach gab es einen Schriftzug mit metergroßen Buchstaben: NÜLLEN KÄSEPRODUKTION!
Franz hauchte: „Geht schon.“
„Vielleicht bist du mit den anderen beiden Klienten schon ausgelastet und ich sollte diesen Auftrag alleine übernehmen?“
„Neinnein, alles kein Problem!“
Ernst schaute ihn durchdringend an. Dann nickte er kurz und betrachtete die Fotos. Die anderen Klienten, die Franz bearbeitete, waren die Fa Kmi Trading in Hongkong und ein skandinavischer Telekom-Anbieter namens Talk. Beide riefen ihn die ganze Zeit an, aber seit Franz die Praktikantin hatte, eine englische BWL-Studentin namens Joanna, war es leichter. Schon wieder stand sie mit gerötetem Gesicht in der Tür: Daumen am Mund, Zeigefinger am Ohr. Sie wollten offenbar, dass er ans Telefon ging.
„Wer ist dran?“
„Both of them.“
„Eins nach dem anderen. Also: One after the other!“
„Fa Kmi now, Talk later?“
Das traf ihn unvermittelt. Er brach einfach nieder. Ernst packte ihn am Kragen: „Hör auf, Mann!“
Außer in seiner Feundin hatte Franz in Pater Peter eine Stütze. Mindestens einmal im Monat ging er in das nahe gelegene Kloster, um sich Beistand zu holen: „Ich freue mich immer so, an einen Ort zu kommen, wo diese Sache keine Rolle spielt und ich echte Anteilnahme finde“, sagte er.
Pater Peter war ein lebhafter kleiner Mann, der ständig lächelte: „Der Apostel Paulus belehrt uns im zweiten Teil der Römerbriefe, dass die Nächstenliebe an erster Stelle kommt. Hier im Kloster ist diese Herzenswärme im Umgang mit den Menschen so weit in den Vordergrund gerückt, dass wir schon darüber diskutieren, ob wir nicht eine neue Kongregation begründen sollen ...“
(Oh bitte, lieber Gott! Lass es ihn nicht sagen!)
Aber Pater Peter sagte natürlich trotzdem: „Die Kongregation der Warmen Brüder.“
Franz begann zu weinen. Begütigend legte ihm Pater Peter die Hand auf die Schulter und erklärte, wie sehr er sich über die Anteilnahme freue.
„Du machst aus allem einen schlechten Witz!“
„Tue ich nicht.“
„An jeder Information, auch wenn sie noch so banal ist, findest du etwas Lächerliches. Sogar hier: mein Namensschild! Dr. Ernst Lustig. Das findest du witzig, oder?“
„Nein“, log er.
„Nun gut… Ich habe einen Neurologen gefunden, der sich spezialisiert hat auf dein Problem. Willst du dir mal einen Termin geben lassen?“
Der Mann hieß Dr. Schniedel. Einer von diesen übrig gebliebenen Achtundsechzigern. Franz hatte den Impuls gespürt, gleich wieder umzudrehen, als er den Namen auf dem Messingschild gesehen hatte: F. Schniedel. Alle Kassen.
Dann kam er an die Reihe:
„Was führt Sie zu mir?“
„Ich finde es sehr irritierend.“
„Was meinen Sie?“
„Alles, Herr Doktor…“
„Nicht so förmlich, junger Freund! Diese Dinge sind alle sehr persönlich. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie mich mit dem Vornamen anreden können? Nennen Sie mich also ruhig Friedel!“
Medikamente halfen, behauptete der Arzt. Seine Tochter, man kannte sie aus der Klatschpresse, seit sie in die Familie des Pharmaproduzenten Wutz eingeheiratet hatte, spezialisierte sich gerade auf diese Therapie. Er gab Franz die Visitenkarte mit dem Doppelnamen und verabschiedete ihn mit einer Umarmung: „Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen! Trinken Sie ein Bier! Lesen Sie die Financial Times!“
„Glauben Sie denn, dass mir das helfen könnte, wieder normal zu werden?“
„Hahahahaha!“
Vollgepumpt mit Medikamenten erlebte Franz ein Jahr später die erste Bewährungsprobe nach der Therapie. Ganz alleine machte er sich auf den Weg zu einem neuen Klienten in den USA, machte brav seine Atemübungen, als der Charterflug in Butthole, Indiana landete. Das Firmengebäude war futuristisch, die Mitarbeiter schienen auf Erfolg getrimmt zu sein. Ein Bentley holte ihn vom Flughafen ab. Kurz vorher hatte er noch mit seiner Freundin telefoniert: „Ich weiß, du schaffst das! Wir sind alle stolz auf dich.“
Natürlich litt er an Lampenfieber, aber er war der Meinung, dass im fernen Ausland schon die Sprachbarriere einen gewissen Schutz darstellte. Er fragte sich auch, ob ein zweireihiges Sakko mit gepunkteten Boxershorts und Badeschlapfen eine zu gewagte Kombination für so einen Besuch sei. Aber um das zu ändern, war es nun zu spät.
Die Rezeptionistin brachte ihn persönlich in den sechsten Stock. Er atmete tief durch.
Dort erhob sich eine Sekretärin, reichte ihm die Hand: „Mr. Pimperman erwartet Sie!“