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Irreversibel
Ihre Haut ist faltig geworden in den letzten drei Jahren, in denen sie äußerlich mindestens zehn gealtert ist. Der Geruch von abgestandenen Kippen und schimmligen Käse- und Brotresten lag quellend in der Luft, der graue Dunst wurde von der Sonne erhellt, dass Staub und Rauchpartikel zu unterscheiden waren. Sie saß dort, den ganzen Tag am Küchentisch der Zweizimmerwohnung, die einst drei hatte, nur war eines nicht mehr zu verwenden, stand es mit dem Kram ihres Ex-Mannes voll, der mein Vater sein oder gewesen sein sollte.
„Mein Sohn“, sie lächelte. Das konnte nur ich als solches identifizieren, aber sie lächelte, ein Hauch von Glückseligkeit lag in ihrer gebrochenen, krächzenden Stimme. „Wie geht es dir, Mutter?“, ich schaute sie möglichst nett an, doch ich konnte in ihrer Nähe nichts fühlen, niemals, soviel hat sie mir genommen. Trotz allem kam ich zu ihr, blieb einige Stunden, trank aus ihrer ranzigen Tasse den kalkversifften, billigen Restkaffee, der seit den Morgenstunden vor sich hin dünstete. Sie schaute mir in die Augen und ich wusste was sie sagen würde. „Das weißt du doch, was soll ich schon tun, so alleine wie ich bin, wie soll es mir da gehen.“ Ich hörte ihr nicht zu, nie höre ich jemandem zu, denn das wollen sie doch nur. Sie sagen immer das gleiche, das gleiche stupide Gefasel, die Familie, das Wetter, die kleinen Probleme, der Sport. „Ich kann mir bald nicht mal mehr die Kippen leisten, weißt du.“ Sie begann wieder einmal zu schnorren, zweimal habe ich ihr Geld gegeben, nicht weil diese Frau meine Mutter ist, nein weil sie die Schnauze halten sollte. Es war kaum zu ertragen und nicht zu erklären wieso ich dieses Etwas besuchte in ihrem elendigen Heim. Wir saßen dort, sie redete, ich dachte, dachte an nichts bis ich die herumliegenden Gegenstände fixierte, bis auf die kleinste Schimmelspore die sich am frischsten Apfel befand, bis auf das Staubkorn, welches am Porzellanteller hängen blieb, nachdem es wie in Zeitlupe durch den Raum schwebte. Nach einer Stunde stand ich auf, mit pochendem Kopfschmerz, beinahe traditionell. „Ich gehe jetzt, wir sehen uns, Mutter.“ Ich betrachtete mich einen Moment mit leerem Blick im staubigen Spiegel, ich war blass und ging mir einmal durch die Haare, ein zweites mal und es war mir egal. Das war nicht immer so. Jetzt mit 25, wenn es auch nicht am Alter lag, war mir mein Aussehen sehr wenig wert. In meinem Zustand muss ich sowieso erschreckend aussehen für Außenstehende. Sie stand nicht einmal mehr auf, wusste selbst, dass es keinen Zweck hatte zu versuchen, mich länger in ihrem Haus zu halten. Als ich aus der Tür trat, mich nicht mehr umdrehte, wusste ich noch nicht, dass ich sie zum letzten mal nicht angesehen hatte. Der Anruf kam bereits am nächsten Morgen, ich wunderte mich, dass sie so schnell gefunden wurde, doch ihr Nachbar hatte gehört, dass jemand schrie, sie schrie scheinbar während oder nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Ein Grummeln durchquerte meinen Magen, scheinbar berührte es mich ein wenig, oder ich hatte Hunger,
gefrühstückt habe ich jedenfalls noch nicht. Einige Stunden später fuhr ich wieder zu ihrer Wohnung. Seit seinem Tod bin ich nicht mehr zwei Tage hintereinander dort gewesen. Nun stand ich vor der Tür, teilnahmsloser denn je, einige Personen gingen ein und aus, beachteten mich nicht oder grüßten, sprachen beiläufig ihr Beileid aus oder ließen nur einen vorwurfsvollen Blick auf mich wirken, der mich nicht gänzlich kalt ließ. Ich wartete, dass sie zu mir kamen, sie mussten zu mir kommen, ich war unvorbereitet und durcheinander, doch sie wollen nur einige Fragen stellen. Wieso in meiner Gegenwart die Menschen sterben, ich weiß es nicht, ob ich ein schlechtes Verhältnis zu ihr hatte, ja, wieso, ich kann es nicht. Keiner wollte mich ansehen, wenn ich den Blick hob, sie dachten alle dasselbe, er war es, er trieb die Frau in den Ruin, dieser Junkie, sicherlich ist er ein Junkie, sie war früher so hübsch. Meine Gedanken spielten verrückt. „Mutter!“, ich flüsterte. „Entschuldigung..“, sie kamen, doch ich beachtete sie nicht, ihre Uniformen, nein die ganze Situation wirkte aufgesetzt, spielerisch, wie sie dort ernsten Blickes standen, warum lacht ihr denn nicht, es ist ein schöner Tag. Meinen Blick ließ ich durch die Gegend schweifen, es war wirklich schön, vertrauenswürdig warm, aber sehnsüchtig fern. Da sah ich ihn, er stand etwas abseits auf einer Wiese und starrte abwesend auf das Haus. Unglaublich, dass er hier ist, woher sollte er von ihrem Tod wissen. Ich hatte ihm gesagt, ich möchte ihn nie wieder sehen, aber welcher Vater hört auf seinen eigenen Sohn.