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Ironie

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03.01.2001
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Ironie

Daniel Polster

Ironie

"Die schlimmsten Despoten sind ehemalige Sklaven, denn sie kennen die Kunst des Leidens."

Eine sanfte Brise zeichnete feine Muster in den Schmutz der Straße. Der Himmel war wolkenverhangen und verschluckte jedwedes Licht, das aus den Fernen des Alls die Dunkelheit der Nacht hätte durchbrechen können. Düster ragte am Rand der Straße eine schwarzlackierte Palisade auf. Ein schwaches Klimmen auf einem der Beobachtungstürme der Mauer zeugte von der Anwesenheit von Menschen - lauernd und beobachtend.

Ein leises Knacken durchbrach die Stille, und versetzte die Wachen in höchste Alarmbereitschaft. "Was war das?", flüsterte einer der Soldaten und schaute seinen Kameraden fragend an.

"Du bist am Scheinwerfer, du Depp!", fuhr ihn der andere an und versetzte ihm einen leichten Schlag gegen den Kopf.

"Schon gut!", zischte der erste und brachte den Lichtkegel in Position. Deutlich hob sich die Silhouette eines Mannes von der Wand des nahen Begrenzungszaunes ab. "Ein Jude!", flüsterte er mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme.

"Wo?", fragte der andere und schwenkte blutdürstig sein MG ins Zentrum des Strahlenkreises. "Ich schieß ihm in die Beine", meinte er kichernd.

"Bist du verrückt?", raunte sein Partner am Scheinwerfer. "Wir müssen ihn erstmal auffordern, zurück ins Ghetto zu gehen."

"Unsinn", winkte der andere ab. "Ich verstehe sowieso nicht, wieso der Führer diese Parasiten weiterhin auf deutschem Boden toleriert. Unser Volk erkämpft sich seinen - von Gott gegebenen - Lebensraum mit Schweiß und Blut, und wir richten diesem elenden Pack ganze Städte ein, in denen sie ihrem dreckigen Dasein nachgehen können." Er drückte ab, und sah befriedigt zu, wie sein Opfer auf der Stelle zusammen brach.

"Du hast ihn umgebracht!", schrie der erste Soldat. "Du... du hast ihn umgebracht!"

"Er hat sich bewegt", meinte der Schütze trocken und lächelte hämisch.

"Du bist ein Monster!", stammelte der andere.

"Ach, beruhige Dich. Wenn es nach mir ginge, würde ich das ganze Ghetto platt machen, und dem Deutschen Volk endlich seinen verdienten Raum zurück geben. Parasiten müssen herausgeschnitten werden - ansonsten wuchern sie und breiten sich weiter aus."

Schweigend blickte ihn der Deutsche am Scheinwerfer mit großen Augen an.

Wie sich zeigte, war der Schütze mit seiner Meinung leider nicht allein. Eine Woche später traf der Befehl ein, die Wachtürme und die nahe Garnison zu räumen.

Das Militär hatte die Order erhalten, die Judenstadt mitsamt ihren Einwohnern großflächig zu "räumen".

***

Bedächtigen Schrittes lief der Mann eine der wenigen Straßen entlang, welche die Stadt mit dem Rest der Welt verbanden. Am Stadtrand angekommen, entdeckte er seine dritte Enkelin in den Armen des Nachbarsohnes. Schmunzelnd beobachtete er die beiden eine Weile, ehe er weiterging und seinen Rundgang fortsetzte. Weder er noch die beiden Liebenden wussten, dass sie von noch jemandem observiert wurden. Verborgen vor den Augen der Bewohner stand ein Soldat auf einer fernen Erhöhung und sondierte die Gegend mit einem Feldstecher.

Plötzlich explodierte die Fassade des Hauses, an dem die Liebenden gelehnt hatten. Steine fielen herab und begruben die beiden innerhalb von Sekunden. Staub drang in ihre Lungen und machte ihrem Leben ein kurzes, aber schmerzhaftes Ende.

"Bei Gott, was war das?", rief der Mann.

Weitere Projektile schlugen in der Stadt ein und zerstörten Straßen und Gebäude. Hinter der äußersten Häuserfront waren dreißig schwere Panzer aufgetaucht und hatten die Siedlung unter Beschuss genommen. MG-Schützen mähten Menschen nieder, Sturmtruppen drangen in Wohnhäuser ein und zerrten die erschrockenen Einwohner auf die Straßen.

Fassungslos starrten die Palästinenser auf den blauen Davidsstern, der düster auf den Flanken der M1-Abrahams-Panzer prangte.

 

Hallo Visek!
Deine Geschichte hat mir wahnsinnig gut gefallen. Der Titel und das Vorwort sind perfekt auf den Text abgestimmt - auch wenn dadurch die Handlung leicht vorhersehbar wird.

Auch sprachlich uns stilistisch gesehen, fällt mir nichts auf, was ich Dir zu verbessern raten würde.

Du hast es geschafft über ein brisantes Thema zu schreiben, ohne dabei in´s Kitschige oder Moralische abzurutschen und damit die Atmosphäre zu zerstören.

Ich weiß gar nicht, was ich noch zur Story sagen soll, sie ist einfach gut. Bedrückend, wahr und gut.

Ugh

 

Hallo Visek,

die Darstellung des Wandels bezüglich der - mal vorsichtig ausgedrückt - Macht- und Positionsumdisponierung und die parallele Deutung auf den identischen Gebrauch derselben ist dir wirklich gut gelungen.
Die treffende Auswahl des einleitenden Zitats zum Anfang der Geschichte läßt zwar im Vorhinein einigen Interpretationsspielraum eingrenzen, doch wider Erwarten wird die Offensichtlichkeit des Schlusses - Pointe zu sagen, käme mir etwas zu verherrlicht, in Bezug auf die beschriebene Situation, vor - unterdrückt.
Die nüchterne Schreibweise hält trotz aller Gefühlsschwankungen bis zum Schluss an und hindert somit die Abschweifung ins (kitschig) Dramatische.

Hat mir sehr gut gefallen. :thumbsup:

Gruß, Hendek

 

Hi Visek!

Dir ist eine hervorragende Geschichte über ein brisantes Thema der Gegenwart gelungen, die sehr zum Nachdenken, Verweilen und noch einmal darüber Nachdenken anregt.
Ich schließe mich Bib und Hendek vorbehaltlos an.

Auch finde ich den Perspektivenwechsel sehr gut, vor allem, weil es Dir gelungen ist, zum einen den Text aus der Sicht der Täter nicht mit dem moralischen Zeigefinger auszustatten, und Du es zum anderen geschafft hast, nach dem Perspektivenwechsel hin zu den Opfern, nicht in tränentreibenden Kitsch zu verfallen.

Und auch obwohl gerade die große Diskussion lief, ob auf kleine "Fehler" im Text hingewiesen werden darf, ich bleibe dabei, aufzuzeigen, was mir auffällt. ;)

Ein schwaches Klimmen
Glimmen.
Die bedrückende, düstere und lauernde Stimmung im ersten Absatz hast Du mE sehr gut eingefangen.

Was Du noch ändern könntest:

und versetzte die Wachen
und wenige Zeilen später

und versetzte ihm
Da Dein Stil und Deine Wortwahl durchgehend sehr durchdacht und ausgefeilt erscheinen, stört diese Wortwiederholung.

Noch mal: :thumbsup:

Alles Liebe,
Sylvia

 

Hey.

Wirklich gelungen, den Perspektivwechsel gut rausgearbeitet, dem Leser am Ende eine Aussage 'untergeschoben' und gleichzeitig genug Spielraum für Interpretation gelassen.

Nur sprachlich habe ich etwas zu meckern; Deine wörtliche Rede liest sich ME etwas steif, mich hat folgendes gestört:

...flüsterte einer der Soldaten und schaute...
...fuhr ihn der andere an und versetzte...
...zischte der erste und brachte...
...fragte der andere und schwenkte...
...meinte der Schütze trocken und lächelte...

zu oft gleiche Struktur, zumal du fast bei jeder wörtlichen Rede 'Zusätze' wie flüsterte er, meinte er, raunte, winkte ab, schrie, stammelte etc benutzt. Würde hier mehr variieren, vielleicht an zwei oder drei Stellen anhand der gesprochenen Worte klarmachen, dass geflüstert und geschrieen wird.

Einziger Punkt, an dem noch gefeilt werden muss, ansonsten guter Text.

San

 

Hi,
hab sie mal überflogen...
Zwei Dinge sind mir aufgefallen.

"Ich verstehe sowieso nicht, wieso der Führer diese Parasiten weiterhin auf deutschem Boden toleriert. Unser Volk erkämpft sich seinen - von Gott gegebenen - Lebensraum mit Schweiß und Blut, und wir richten diesem elenden Pack ganze Städte ein, in denen sie ihrem dreckigen Dasein nachgehen können."
Etwas dick aufgetragen, oder?
Fassungslos starrten die Palästinenser auf den blauen Davidsstern, der düster auf den Flanken der M1-Abrahams-Panzer prangte.
Falsch! Die richtige Bezeichnung ist M1 Abrams, benannt nach irgendeinem Bürgerkriegsgeneral und nicht nach Vater Abraham.
Ist aber egal, denn die Israelis haben die Teile nicht ( kurioser Weise aber die Ägypter... ).
Die Dinger, die du immer in Tagesschau etc. siehst, sind israelische Eigenproduktionen namens Merkava ( jüd.: Streitwagen )
Gut Nacht!

 

Öhm... danke! Das mit den Abrams-Panzern ist tatsächlich nur ein Tipp-Fehler meinerseits. Passiert, wenn falsche Neuronenkreise interagieren.
Dass die Israelis aber gar keine haben, wusst ich ehrlich nicht. Ich dachte, deren gesamte Bewaffnung stammt aus amerikanischen Quellen bzw. entsprechenden Vorbildern. Und wieso haben die Ägypter welche? Von den Sowjets bestimmt nicht. Naja, aber danke der Aufklärung.

Greetings, Daniel

P.S.: Deinen erstzitierten Absatz halt ich nicht für zu dick aufgetragen. Solchen Schwachsinn hör ich sogar heutzutage noch von diversen Leuten. Ich glaub, das war damals bestimmt nicht besser.

 

Hey Daniel!
Israel bekommt nur so um die zwei Milliarden Dollar pro Jahr Militärhilfe aus den USA. Ihre Rüstung ist recht eigenständig, was die Produktion von Panzern etc. angeht, aber über Kooperation und Einzelteillieferungen eng mit anderen Ländern wie Deutschland verbunden.
Warum die Ägypter Abrams haben? Wohl, weil sie als einziges arabisches Land einen Friedensvertrag mit Israel haben und sich nach Westen hin orientieren.
Grüße,
para

 

Hi Visek!

Ich finde Deine Geschichte auch sehr gut, von den Waffen habe ich nicht so viel Ahnung wie Paranova, daher sind mir diese Sachen nicht störend aufgefallen. Im Großen und Ganzen möchte ich mich den VorrednerInnen anschließen, da ja eigentlich alles schon gesagt ist. ;)

Liebe Grüße
Susi

 

Tut mir leid, aber ich bin absolut nicht Eurer Meinung. Ich finde der Vergleich hinkt. Der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern ist schließlich einer, an dem beide Parteien als Aggressoren beteiligt sind. Soll heissen: Auf beiden Seiten werden Zivilisten vom Gegner einfach so umgebracht, während die Juden im dritten Reich doch einfach nur in Deutschland gelebt haben und umgebracht wurden.

Ich bin auch dagegen den Nationalsozialismus überspitzt zu sehen, aber ich finde die beiden Arten des Tötens sind einfach nicht vergleichbar, weil im dritten Reich Juden vollkommen unprovoziert umgebracht wurden, während sich hier beide Parteien GEGENSEITIG umbringen. Der Palästina-Konflikt ist ein, so dumm sich das auch anhört, "normaler" kriegerischer Konflikt, aber kein Völkermord.

 

Oh ja, deshalb machen die Israelis auch jedesmal, wenn sich EIN geisteskranker palästinensicher Attentäter (ohne von seiner Regierung "entsandt" worden zu sein) in die Luft sprengt, ein ganzes unschuldiges Dorf dem Erdboden gleich. Schöner Krieg...

Im übrigen sollte der Vergleich mit dem Dritten Reich auch darauf abzielen, dass in beiden Fällen eine Großmacht ungerechtfertigter Weise fremdes Land annektiert, mit Panzern besetzt, und Zivilisten tötet.

Was mich aber besonders erschreckt hat, ist die Tatsache, dass Israel (sich seiner Taten wohl bewusst) bei jeder nur möglichen (auch völlig unpassenden) Gelegenheit verhöhnend die Vorzüge und Wichtigkeit des Friedens auf der ganzen Welt betont. Das hat Deutschland bis 1939 auch gemacht!

 

Trotzdem kommt der Hass aber von beiden Seiten. Natürlich ist es vollkommen unangemessen und zutiefst verurteilungswürdig, wenn für die Tat eines Einzelnen ein gesamtes Dorf plattgewalzt wird, trotzdem fehlt aber das Element, dass im Nationsozialismus vorhanden war: Der vollkommen unprovozierte und nur aus Neid und eigenen Minderwertigkeitsgefühlen erwachsene Hass auf ein Volk, in Falle des dritten Reiches "die Juden", einfach weil es "Die Juden" sind, nicht weil sie der anderen Partei, "dem deutschen Volk", irgendetwas getan hätten.

Natürlich hast Du mit der Grundaussage Deiner Geschichte auch recht, das einzige was mich stört ist der erste Satz:

"Die schlimmsten Despoten sind ehemalige Sklaven, denn sie kennen die Kunst des Leidens."
Auch die USA haben einen Luftangriff auf Afghanistan gestartet weil dort die Al-Qaida-Führung vermutet wurde. Dabei wurden zwar Zivilisten nicht vorsätzlich umgebracht, aber doch wurde ihr Tod in Kauf genommen. Amerika ist aber noch nie in einer unterdrückten Position gewesen - am ehemaligen Sklavendasein kann es also nicht unbedingt liegen.

[ 09.08.2002, 16:13: Beitrag editiert von: MisterSeaman ]

 

Hallo Visek,

deine Geschichte ist spannend - die Wendung war mir nicht von vorneherein klar - und sprachlich sehr schön geschrieben, aber inhaltlich denke ich nicht zeitgemäß. (Kritik ist hier ja erwünscht - ich nehme mir das einfach mal raus, weil ich denke, dass ein so guter Stil einen besseren Inhalt verdient hat)

Natürlich ist an der Darstellung Wahres dran. Der Geist der Revanche ist beiden gemeinsam, ein alttestamentarisches: Auge um Auge, Zahn um Zahn. verbunden mit dem nationalistischen Denken, dass wir (unser Volk) den anderen (das andere Volk) überlegen, mehr Wert etc. sind.

Und genau das Denken verlässt du mit deiner Geschichte auch nicht, nur scheinbar. Du konstruierst wieder ein Gut-Böse-Szenario und nutzt dabei die Sympathien, die immer automatisch für den Schwächeren aufkommen. Z.B. sympathisiert man ja auch immer mit einer Ehefrau, die geschlagen wird, eher als die Sache erst einmal genau anzuschauen (ich will damit weder sagen, dass man Ehefrauen schlagen, noch dass man Liebende an einer Mauer mit einem Panzergeschoss ermorden soll). Ein solches Szenario bedeutet aber immer die Konstruktion: Ich, der Autor, gehöre zu den Guten und das da (hier die Deutschen und die Israelis) sind die Bösen. Das ist gleiche Denken.

Der Grundgedanke: wir sind etwas Besseres und die anderen machen etwas falsch, der muss überwunden werden - meines Erachtens.

Ich hoffe es war nicht zu sehr aus der Hüfte geschossen, weil ich hier noch nie etwas gesagt habe, aber ich meine das ganz ernst und es ist mir wichtig.

Viele Grüße,
Dein Michael

 

Hallo Visek, ich bin erst durch den letzten diskussionsbeitrag überhaupt auf deine geschichte gestossen - und das ist gut so. der zurückhaltende erzählstil gefällt mir gut. allerdings stimme ich Mr.Seaman in seiner argumentation zu: der vergleich hinkt. im konflikt palästina<>israel gibt es doch völlig andere beweggründe, als damals in deutschland. damit kann ich mich also grundsätzlich nicht mit dem inhalt deiner story identifizieren. beste grüße ernst.

 

Was ihr sagt, hat eindeutig Hand und Fuß, das möcht ich keinesfalls abstreiten. Was mich persönlich aber an dem Konflikt Israel und Palästina so sehr stört, ist folgendes: Von allen Völkern auf der Welt, müssten da nicht gerade die Israelis, die über Jahrhunderte gejagt und vertrieben worden, wissen, was sie den Palästinensern antun? In gewisser Hinsicht ist dieser "Krieg" (blödes Wort, weil nur eine Seite eine richtige Armee hat) doch ein wenig ähnlich zu '39-'45. Der Schwächere wird einfach überrannt und abgeschlachtet, nur weil er "anders" ist (sprich: einen anderen Glauben hat) und "rechtmäßigen" Raum des Angreifers bewohnt. Meines Erachtens sind die Aggressionen schon von Israel begonnen worden, denn für irrsinnige Terroristen im Land können weder die Palästinenser noch irgend wer anders etwas.

An den Anschlägen in N.Y. waren schließlich auch deutsche Terroristen beteiligt. Trotzdem bomben die Amis nicht einfach einige unserer Städte platt.

Jedenfalls hatte ich den Vergleich nicht deshalb gewählt, weil es das gleiche Szenario ist, sondern das selbe Volk, das seine gewonnene Freiheit einsetzt, um nun ihrerseits Schwächere zu unterdrücken.

Greetings, Daniel

 

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