Ironie
Daniel Polster
Ironie
"Die schlimmsten Despoten sind ehemalige Sklaven, denn sie kennen die Kunst des Leidens."
Eine sanfte Brise zeichnete feine Muster in den Schmutz der Straße. Der Himmel war wolkenverhangen und verschluckte jedwedes Licht, das aus den Fernen des Alls die Dunkelheit der Nacht hätte durchbrechen können. Düster ragte am Rand der Straße eine schwarzlackierte Palisade auf. Ein schwaches Klimmen auf einem der Beobachtungstürme der Mauer zeugte von der Anwesenheit von Menschen - lauernd und beobachtend.
Ein leises Knacken durchbrach die Stille, und versetzte die Wachen in höchste Alarmbereitschaft. "Was war das?", flüsterte einer der Soldaten und schaute seinen Kameraden fragend an.
"Du bist am Scheinwerfer, du Depp!", fuhr ihn der andere an und versetzte ihm einen leichten Schlag gegen den Kopf.
"Schon gut!", zischte der erste und brachte den Lichtkegel in Position. Deutlich hob sich die Silhouette eines Mannes von der Wand des nahen Begrenzungszaunes ab. "Ein Jude!", flüsterte er mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme.
"Wo?", fragte der andere und schwenkte blutdürstig sein MG ins Zentrum des Strahlenkreises. "Ich schieß ihm in die Beine", meinte er kichernd.
"Bist du verrückt?", raunte sein Partner am Scheinwerfer. "Wir müssen ihn erstmal auffordern, zurück ins Ghetto zu gehen."
"Unsinn", winkte der andere ab. "Ich verstehe sowieso nicht, wieso der Führer diese Parasiten weiterhin auf deutschem Boden toleriert. Unser Volk erkämpft sich seinen - von Gott gegebenen - Lebensraum mit Schweiß und Blut, und wir richten diesem elenden Pack ganze Städte ein, in denen sie ihrem dreckigen Dasein nachgehen können." Er drückte ab, und sah befriedigt zu, wie sein Opfer auf der Stelle zusammen brach.
"Du hast ihn umgebracht!", schrie der erste Soldat. "Du... du hast ihn umgebracht!"
"Er hat sich bewegt", meinte der Schütze trocken und lächelte hämisch.
"Du bist ein Monster!", stammelte der andere.
"Ach, beruhige Dich. Wenn es nach mir ginge, würde ich das ganze Ghetto platt machen, und dem Deutschen Volk endlich seinen verdienten Raum zurück geben. Parasiten müssen herausgeschnitten werden - ansonsten wuchern sie und breiten sich weiter aus."
Schweigend blickte ihn der Deutsche am Scheinwerfer mit großen Augen an.
Wie sich zeigte, war der Schütze mit seiner Meinung leider nicht allein. Eine Woche später traf der Befehl ein, die Wachtürme und die nahe Garnison zu räumen.
Das Militär hatte die Order erhalten, die Judenstadt mitsamt ihren Einwohnern großflächig zu "räumen".
***
Bedächtigen Schrittes lief der Mann eine der wenigen Straßen entlang, welche die Stadt mit dem Rest der Welt verbanden. Am Stadtrand angekommen, entdeckte er seine dritte Enkelin in den Armen des Nachbarsohnes. Schmunzelnd beobachtete er die beiden eine Weile, ehe er weiterging und seinen Rundgang fortsetzte. Weder er noch die beiden Liebenden wussten, dass sie von noch jemandem observiert wurden. Verborgen vor den Augen der Bewohner stand ein Soldat auf einer fernen Erhöhung und sondierte die Gegend mit einem Feldstecher.
Plötzlich explodierte die Fassade des Hauses, an dem die Liebenden gelehnt hatten. Steine fielen herab und begruben die beiden innerhalb von Sekunden. Staub drang in ihre Lungen und machte ihrem Leben ein kurzes, aber schmerzhaftes Ende.
"Bei Gott, was war das?", rief der Mann.
Weitere Projektile schlugen in der Stadt ein und zerstörten Straßen und Gebäude. Hinter der äußersten Häuserfront waren dreißig schwere Panzer aufgetaucht und hatten die Siedlung unter Beschuss genommen. MG-Schützen mähten Menschen nieder, Sturmtruppen drangen in Wohnhäuser ein und zerrten die erschrockenen Einwohner auf die Straßen.
Fassungslos starrten die Palästinenser auf den blauen Davidsstern, der düster auf den Flanken der M1-Abrahams-Panzer prangte.