Ironie des Schicksals
Es war 7:00 Uhr morgens. Bianca fuhr vom schrillen Klang des Weckers hoch. Sie hatte zwar nicht mehr geschlafen, war aber vollkommen in Gedanken versunken. Sie schlief kaum noch. Jede Nacht wälzte sie sich verzweifelt von einer Seite auf die andere. Und wenn sie dann doch einschlief, schreckte sie meistens Minuten später, schweißgebadet von Alpträumen, wieder auf.
Die Augen fest verschlossen lag sie nun da. Sie wollte nicht aufstehen.
Ein zweiter Wecker schrillte. Ein ausdrucksloser Blick der jungen Frau ging in die Richtung des nervenden Geräusches. Es half alles nichts. Sie musste aufstehen! Sie musste sich zwingen aufzustehen!
Müde schälte sie sich aus dem Bett und ging langsam ins Badezimmer. Mit beiden Händen stützte sie sich am Waschbecken ab. Sie wagte einen Blick in den Spiegel. Ihr Spiegelbild zeigte eine Frau, die Bianca völlig fremd schien. Die Haare waren unordentlich. Ihr Gesicht blass. Viel zu blass. Als ob kein Tropfen Blut in ihm wäre. Warum ihre Augen immer noch gerötet waren, konnte sie sich nicht erklären. Sie hatte bestimmt eine Woche nicht mehr geweint. Sie hatte keine Tränen mehr.
Verbittert schloss Bianca die brennenden Augen. Sie hörte noch die Stimme des Polizisten, als er ihr mitteilte, dass ihr Mann Roger tot sei. Das war jetzt zwei Monate her. Irgend ein Idiot hatte Krach mit seiner Freundin gehabt und lief danach in einem Kaufhaus Amok. In dem Kaufhaus, wo ihr Mann gerade war, um ihr einen Ring zum fünften Hochzeitstag zu kaufen.
"Mein Gott, wie konntest du das nur zulassen?!", schrieen Biancas Augen verzweifelt in den Spiegel.
Sie hatte ihn so sehr geliebt! Ihre Hände verkrampften sich um den Waschbeckenrand.
Ein schmerzvolles Stöhnen drang aus ihrem Inneren und erschütterte den ganzen Körper. Es war so als würde jemand ihr Herz fest umklammern, um es zu zerquetschen.
Bianca nahm alle Kraft zusammen und richtete sich auf. Sie musste sich zusammenreißen.
Ihr Hausarzt hatte ihr empfohlen, wieder zur Arbeit zu gehen. Nicht nur, um ihren Job nicht zu verlieren, sondern auch um sich abzulenken. Um wieder langsam ins Leben zurückzukehren.
Zwei lange Monate hat sie es nicht gekonnt. Doch heute sollte es soweit sein. Sie würde es schaffen. Sie wollte es schaffen!
Bianca richtete sich auf und nach einem weiteren, gleichgültigen Blick in den Spiegel ging sie zurück ins Schlafzimmer. Es dauerte nicht allzu lange sich anzuziehen und herzurichten. Es war ihr sowieso egal wie sie aussah. Zum Frühstücken hatte sie auch keine Lust, keinen Appetit. Die junge Frau zog sich eine Jacke über und trat auf die Strasse.
Das Wetter an diesem Tag passte zu ihrer Stimmung. Dicke, schwarze Wolken hingen am regnerischen Himmel. Früher mochte sie es, wenn sie das Gesicht zum Himmel hob und die Regentropfen ihre Haut kühlten. Ja, vor zwei Monaten, als das Leben noch in Ordnung war.
Bianca schüttelte den Kopf, so als könne sie damit alle traurigen Gedanken abwerfen. Ein seufzender Blick auf die Uhr zeigte ihr, sie musste sich beeilen. Das Büro war nur zwei Straßen weiter - also los.
Plötzlich hörte sie ein lautes, quietschendes Geräusch. Gleich darauf spürte sie einen heftigen Stoß an der Hüfte. Im nächsten Moment dann Stille.
Nach einiger Zeit konnte Bianca die Augen etwas öffnen. Nur einen Spalt breit. Warum nur? Was war geschehen? Warum blickten so viele fremde Gesichter zu ihr hinunter.
Bianca spürte den nassen, kalten Boden unter sich. Doch sie fror nicht. Regnete es noch? Komisch - sie konnte es nicht erkennen. Die junge Frau spürte etwas Warmes an ihrer Schläfe herunterlaufen. Doch sie hatte keine Schmerzen. Sie versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht. Sie versuchte zu sprechen. Auch das ging nicht. "Himmel, warum klappt das denn nicht", hämmerte es in ihrem Kopf. Sie hörte aus weiter Ferne eine aufgeregte, verzweifelte Stimme: "Sie lief mir genau vors Auto. Ich habe gebremst, aber..." Die Stimme brach ab. In noch weiterer Ferne hörte Bianca Sirenen. Jetzt, ganz langsam, begann sie zu begreifen. Angst erfüllte ihre Gedanken, jede Faser ihres bewegungslosen Körpers. Die Sirenen kamen immer näher. "Lieber Gott", flehte es in ihrem Inneren, "bitte lass mich nicht sterben. Nicht hier, nicht heute und nicht so. Ich will doch weiterleben. Ich will es doch versuchen!" Ihre Augenlider begannen zu flattern. Sie sah noch wie sich jemand zu ihr hinunterbeugte und hörte verächtliche Worte: "Die macht es nicht mehr lange".
Auf einmal fühlte Bianca sich ganz leicht und sie wurde ganz ruhig. Dann verstummten die Stimmen und es wurde dunkel um sie herum.