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Irlahöll
Ozzy Osbourne
Life's a bitter shame
I'm going off the rails on a crazy train
Er hatte sich das immer anders vorgestellt. Ein hell eingerichtetes Büro mit impressionistischen Gemälden, und nicht dieses sterile Einzelzimmer. Und auf einer Couch lag er auch nicht. Es war nicht wie im Film. Stattdessen saß er im Schlafanzug auf einem normalen Bürosessel und wartete auf den Arzt.
Als sich die Tür des Gesprächszimmers öffnete, blickte er nur kurz auf. Er kannte Doktor Bauer. Ende 40, Bauchansatz, ein Vollbart in dem sich die ersten grauen Haare zeigten. Eigentlich war er nicht unsympathisch, aber Frank hätte jedem Therapeuten den gleichen Empfang bereitet.
„Hauen Sie bloß ab!“, fuhr er ihn an.
Der Therapeut blieb gelassen. So etwas erlebte er nicht zum ersten Mal.
„Herr Wagensonner, bitte...“
„Ich brauche Sie nicht. Sie können wieder verschwinden!“
Der Psychiater setzte sich an den Schreibtisch und öffnete Franks Patientenakte.
„Wissen sie, wo Sie sind, Herr Wagensonner?“
Franks Augen funkelten. „Klar. Ich werde mit Tabletten vollgepumpt, sitze in Einzelgesprächen, es gibt eine Akte über mich – Wo sollte ich wohl sein? Warum kriege ich eigentlich keine Gummizelle?“
„Bitte, Herr Wagensonner. Ich bin nur hier um mit Ihnen zu reden.“
„Es gibt nichts zu reden. Ich bin nicht krank.“
„Das habe ich auch nicht behauptet.“
„Dann lassen Sie mich gehen!“, Franks Fingernägel bohrten sich in die Lehne des Stuhls.
Doktor Bauer schüttelte den Kopf. „Das ist noch nicht möglich. Wir sollten zuerst herausfinden, was passiert ist.“
„Ich weiß, was passiert ist.“
„Warum erzählen sie es dann nicht?“
„Ach, ich weiß wie das läuft. Sie denken ohnehin, dass ich krank bin. Aber Sie können mir ihre ganzen standardisierten Fragen stellen, und Sie werden mich als gesund einstufen. Ich weiß, dass ich Frank Wagensonner heiße, als Architekt arbeite und 47 Jahre alt bin.“
Der Arzt blickte ihn skeptisch an, seine Augen verengten sich leicht.
"Was ist?", wollte Frank wissen.
Doktor Bauer brummte in seinen Bart und notierte sich hastig etwas.
"Nichts", antwortete er, "Fahren Sie bitte fort."
Frank zog die Augenbrauen zusammen und sprach weiter.
„Ich weiß auch, dass ich vor vier Tagen mein Büro verlassen habe, und in den Zug gestiegen bin. Insofern bin ich völlig klar und nicht psychisch krank.“
„Aber...“, er beugte sich plötzlich weiter über den Schreibtisch und sah dem Psychiater ins Gesicht. „Ich weiß, dass alles was danach passiert ist, ebenso real ist. Aber Sie glauben mir nicht, und deshalb bin ich hier.“
Doktor Bauer strich über seine Halbglatze. Stumm hakte er einige Punkte auf seinem Zettel ab und blickte wieder auf.
„Es geht nicht darum, was ich glaube. Auch die Polizei hat ein berechtigtes Interesse an Ihrem Fall. Wenn Sie sich erinnern was vorgefallen ist, dann...“
Jetzt lachte Frank. „Das ist jetzt der größte Witz! Die Polizei und die Sanitäter haben mich doch hierher gebracht!“
Der Therapeut nickte. „Hauptsächlich aber wegen Ihres Schockzustands. Sie waren desorientiert.“
„Und wenn ich Ihnen jetzt die ganze Geschichte erzähle, halten Sie mich immer noch für desorientiert.“
„Das würde ich nicht sagen. Was ich davon halte, kann ich erst sagen, wenn Sie es erzählt haben.“
Frank strich sich über seine unrasierte Wange. „Na schön, aber ich kann mir Ihre Reaktion schon denken. Ich bin gegen 18 Uhr aus dem Büro raus. Ich hatte es eilig. Da war ja noch der Termin in München. Am Bahnhof hätte ich am liebsten meine Aktentasche in die Ecke geknallt, weil der ICE natürlich Verspätung hatte. Ich meine, eine halbe Stunde muss man da ja schon fast einkalkulieren, aber der verspätete sich um eineinhalb Stunden. Waren wahrscheinlich wieder irgendwelche Kälteschäden. Naja, ich wollte jetzt nicht ewig im Bahnhof sitzen, also bin ich in den Regionalexpress gestiegen. Der fährt zwar zwei Stunden, aber die hätte ich im ICE auch gebraucht. Wenn er überhaupt noch angekommen wäre.
Besonders voll war der Zug nicht. Da war so ein BWL-Typ, der sich ein Bier nach dem anderen genehmigt hat. Dabei hat er sich dann immer ekelhaft über die Lippen geleckt. Ein widerlicher Typ. Dann ein Heavy Metal Fan. Auch nicht viel besser. Hatte so lange verfilzte Haare, dass er seine Kappe fast nicht mehr drüber brachte. Und eine Frau. Die war der einzige Lichtblick. Ende Zwanzig, dunkle Haare, nicht unattraktiv. Die drei saßen in meinem Abteil, mehr nicht. War ja auch schon spät, da ist´s im Regionalexpress nicht mehr so voll.“
„Sonst ist niemand mitgefahren?“
„Doch. Aber in meinem Abteil war sonst niemand mehr. Darauf komm ich noch. Wollen Sie das jetzt hören, oder nicht?“
Der Therapeut hob entschuldigend die Hände. „Tut mir leid. Erzählen sie weiter.“
„Gut. Wie gesagt, es waren nur wir vier im Abteil. War mir da aber auch egal. Ich hab versucht es mir auf diesen Sesseln im Zug einigermaßen bequem zu machen. Wer so was gebaut hat, muss echt bekloppt gewesen sein. Ich mein, da kann ich mich genauso gut auf den Boden legen. Aber ich war an dem Tag ziemlich geschafft. Mit dem gleichmäßigen Rütteln bin ich dann doch irgendwann eingeschlafen. Dann... Ich...."
Frank wurde von einem plötzlichen Hustenanfall geschüttelt. Als er wieder Luft bekam, standen Tränen in seinen Augen.
"Wissen sie...", setzte er wieder an, "wenn einem so etwas passiert - das hinterlässt Spuren. Ich bin vielleicht traumatisiert. Das werden Sie am besten wissen. Dann bin ich vielleicht doch nicht grundlos hier.“
Franks Gesicht verzerrte sich zu einem zornigen Ausdruck und er klopfte mit der Faust auf den Schreibtisch. "Ich weiß einfach, dass es wirklich passiert ist, und das macht es ja gerade so schlimm“, rief er. „Hätte mir vor vier Tagen jemand erzählt, was ich ihnen jetzt erzähle, hätte ich ihm auch kein Wort geglaubt. Ich verstehe sie gut, aber vielleicht versuchen Sie mich auch zu verstehen."
"Natürlich versuche ich das. Wenn es für sie zu schwer ist, können wir jetzt aufhören."
Frank schüttelte den Kopf und lächelte gequält. "Nein", sagte er. "Ich werde alles erzählen, vielleicht geht´s mir dann besser."
Er räusperte sich. "Ich bin also eingeschlafen", fuhr er fort. "Wie lange, weiß ich nicht. Aber ich bin dann wach geworden, weil der Zug auf einmal so einen Ruck gemacht hat. Vor meinem Fenster war es stockdunkel. Ich hab erst mal versucht, meinen Rücken wieder zu entspannen. Auf meiner Uhr war es 21:40 Uhr, es war also noch eine Stunde zu fahren. Ich hab zuerst gar nicht gemerkt, dass wir stehen geblieben waren. Im Abteil waren immer noch dieselben drei. Der Heavy Metal Fan hatte seinen Mp3-Player so laut gestellt, dass ich bequem mithören konnte. Crazy Train von Ozzy Osbourne. Das kannte ich noch. Haben wir damals rauf und runter gehört, als ich mit dem Studium angefangen hab. Kennen Sie den Song?"
Der Arzt schüttelte den Kopf.
"Der passt perfekt. Crazy Train. Irgendeinen verrückten Sinn muss das haben."
Frank knetete sein Kinn und überlegte ein wenig. "Nicht so wichtig", beschloss er und fuhr fort.
"21:40 Uhr war es jedenfalls, und demnach mussten wir im Irlahülltunnel feststecken."
"Woher wussten sie das?"
"Ich bin die Strecke nicht zum ersten Mal gefahren. Ich hab den Fahrplan im Kopf. Und um die Uhrzeit mussten wir gerade Kinding verlassen haben. Nach dem Kindinger Bahnhof fährt man direkt in den Irlahülltunnel. Über sieben Kilometer. Der fünftlängste Tunnel in Deutschland. Als Architekt weiß ich sowas."
Doktor Bauer nickte.
"Ich hab mich da nicht drüber gefreut. Wenn ein Regionalexpress stehen bleibt, und das dann noch mitten im Tunnel, dann kann das länger dauern. Ich hab mich schon seelisch auf die übliche Bahndurchsage vorbereitet, aber es kam nichts. Da der BWL-Typ wegen seinen achtzig Flaschen Bier mittlerweile eingeschlafen war, und der Metaller sein Gehör ruinierte, hab ich die Frau gefragt was los ist. Die wusste aber auch nichts. Es hatte keine Durchsage gegeben, der Zug war einfach stehen geblieben. Ich hab dann schnell bemerkt, dass sie auch nicht so erfreut darüber war. Wahrscheinlich hätte ich da sogar ein wenig flirten können, aber ich hatte keine Lust. Später hab ich dann erfahren, dass sie Eva hieß. Eva Schwaiger.“
Er verstummte einige Sekunden und blickte auf die Schreibtischplatte.
„Ist schon lustig, wie oft man mit dem Zug fährt und sich nicht für die Leute interessiert“, sagte er. „Aber wenn man zusammen so einen Alptraum erlebt, schweißt einen das sofort zusammen.“
„Das ist eine normale Reaktion auf ein belastendes Ereignis“, antwortete der Therapeut.
Frank holte tief Luft und schloss die Augen. "Belastend. Ja. Der BWler war ein Herr Dabrowski, und der Metal-Fan hieß Tom. Als ich in den Zug eingestiegen bin, waren die drei nur namenlose Gestalten. Konnte das nicht so bleiben?“
Seine Augen waren feucht.
Der Therapeut kratzte sich am Kinn. „Was war mit den anderen Fahrgästen?“
„Ja, das kommt jetzt. Lassen Sie mich fertig erzählen.“
Doktor Bauer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „In Ordnung“, sagte er.
„Eine Stunde, eine ganze Stunde saßen wir schon in dem Tunnel fest. Dabrowski schlief immer noch, Eva war genauso sauer wie ich, und Tom erfreute sich an seinem Krach. Der war wahrscheinlich der einzige, dem das nichts ausmachte. Mir war´s nach einer Stunde ohne Durchsage wirklich zu dumm, also bin ich aufgestanden um den Schaffner zu suchen. Die Heizung funktionierte auch nicht mehr und es war schon ziemlich kalt. Das kam mir noch nicht komisch vor, in diesen alten Bummelzügen funktioniert ja nie was. Und es war auch nicht das erste Mal, dass sich die Bahnbeamten nicht blicken lassen. Wenn man wissen will, was los ist, muss man denen manchmal ein wenig auf die Pelle rücken.
Der Wagon vor unserem war leer aber ich hab so einen sonderbaren Geruch bemerkt. Erst gestern ist mir eingefallen, was es war. Eisen. Blut riecht so, das wissen sie als Mediziner sicherlich."
Frank zog seine Beine auf den Bürostuhl und murmelte in seinen Schlafanzug.
"Ich hab das da aber noch gar nicht so wahrgenommen. Die Züge riechen ja immer komisch. Ich war deshalb auch nicht gefasst auf diesen Anblick. Aber wer wäre das schon?
Als ich die Schiebetür zum nächsten Wagen aufgemacht habe, ist der Geruch schlimmer geworden. Diese Wagons haben in den Zwischenstücken ja immer zwei Schiebetüren. Ich habe nicht so genau in das Abteil gesehen, sonst hätte ich die zweite Tür nicht aufgeschoben. Aber dann war es schon zu spät. Ich stand in der Hölle.
Der Zugteil war im Gegensatz zum vorherigen ziemlich voll besetzt gewesen.
Gewesen. Denn von den Leuten war niemand mehr am Leben. Es sah aus wie in einem Schlachthaus. Einem alten Mann hatte man die ganze Brust aufgerissen, es war nur noch ein riesiges rotes Loch darin. Irgendwelche Organe hingen raus, ich weiß nicht welche.
Einer Frau war das halbe Gesicht weggerissen worden, man konnte bis auf den Schädel sehen. Weil ihre Lippe irgendwie weg…, weggefressen worden war. Es sah es so aus, als würde sie grinsen.
Das Blut der Opfer war überall verspritzt worden. Die Decke war fast komplett rot, von den Fenstern lief es herab und die Sitze hatten sich vollgesaugt.
Dann sah ich was noch schlimmeres: Einem Kind - man konnte nicht mehr erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen war - hatte man den Kopf abgerissen. Er war auf den Boden gerollt, die Augen waren weit aufgerissen. Die Schädeldecke war aufgebrochen und das Hirn lief heraus. Es wurde aufgeschleckt von... von... ihm!"
"Wer?" Der Arzt war sichtlich erschüttert, und tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch.
Frank hatte sich in einer embryonalen Haltung zusammengerollt. Sein Murmeln war fast nicht verständlich. "Das Tier", erwiderte er. "Der Hund."
"Es war ein Hund?" Doktor Bauer strich wiederholt über seinen Bart.
"Nein, nicht wirklich. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Hund. Aber eigentlich sah es schlimmer aus. Ungefähr wie ein Doberman. Aber es war viel muskulöser. Hatte längere Zähne und war ansonsten komplett schwarz. Und am Rücken hatte es noch so komische Stacheln.
So hatte ich mir immer den Cerberus, den Höllenhund vorgestellt. Und hier war er." Er schluchzte. Der Psychiater wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. "Ich glaube, wir hören für heute auf", sagte er.
"Nein. Ich will es heute ganz erzählen. Und danach nie wieder."
Der Therapeut nickte. "Gut. Wie sie wollen", forderte er auf.
"Ich konnte mich kaum bewegen. Mir war schlecht und ich wollte nur weg. Aber dann hat es mich gehört. Der Hund, meine ich. Er hat den Kopf gehoben und mich direkt angesehen. Seine Augen waren auch total dunkel. Sahen aus wie schwarze Murmeln. Das Licht hat sich darin gespiegelt. Sein Maul war ganz feucht von dem Blut und den anderen Sachen, die er gefressen hatte.
Zuerst hat er mich nur angesehen, aber dann bleckte er die Zähne und fing an zu knurren. Ich wollte die Tür wieder schließen, aber diese blöden Automatiken im Regionalexpress brauchen so lange. Ich bin langsam nach hinten gegangen, der Hund ist mir gefolgt und die Tür hat sich zwischen uns wie in Zeitlupe zugeschoben.
Dann ist das Vieh plötzlich los gesprungen. Als hätte er das mit der Tür begriffen. Aber sie war schon fast ganz zu und da ist er nur noch gegen die Glasscheibe geprallt. Er hat darauf blutige Schlieren hinterlassen. Da musste ich fast kotzen.
Ich bin los gerannt, zurück in unser Abteil. War natürlich total panisch. Hab wie blöd an dem Griff für die Tür-Automatik gerüttelt, damit sie zu geht. Ich hab rumgeschrien und wollte sofort meinen Koffer vor die Tür wuchten. Dabrowski ist vom meinem Geschrei aufgewacht und Tom hat seine Stöpsel aus dem Ohr gezogen. Eva hat mich nur angesehen, als wäre ich nicht ganz dicht. Ist ja auch normal. Was würde ich denken, wenn irgendwer wie ein Wahnsinniger ins Abteil stürmt und wirres Zeug erzählt?
Unser BWLer war der erste, der nachsehen wollte. Irgendwie hatte ich das erwartet. Der wirkte wie ein totaler Wichtigtuer und durch den Alkohol fühlte er sich wahrscheinlich noch toller. Er hat lauter Blödsinn gelabert. Das ich mich beruhigen soll, es werde schon alles in Ordnung kommen und so weiter. Wahrscheinlich war er es gewohnt, alles unter Kontrolle zu haben. Und die anderen beiden waren froh, dass jemand die Führung übernimmt. Wie das eben so geht. Wir Menschen sind eben doch Rudeltiere. Wir wollen dem Leitwolf bereitwillig folgen. Und er fühlte sich wirklich wohl in dieser Rolle. Er konnte natürlich nicht wissen, was ich gerade gesehen hatte, aber dieses Geltungsbedürfnis war schon enorm. Ich versuchte wirklich, ihn abzuhalten. Erzählte von dem Hund, den Toten, alles. Er hat mir gar nicht zugehört.
Aber das ist ja auch menschlich. Wir glauben vieles nicht, bis wir es selbst sehen. Ist bei mir ja auch nicht anders. Ich hab am Ende nur gehofft, dass er dem Hund genauso entkommen kann, wie ich. Aber so war´s nicht."
"Der Hund hat ihn angegriffen?"
"Mehr als das. Es hat nur ein paar Sekunden gedauert, bis wir Dabrowski schreien hörten. Seitdem weiß ich, wie unterschiedlich unsere Schreie klingen können. Zuerst war es nur ein erschrecktes Ausrufen. Dann musste ihn der Hund angefallen haben, denn es waren Panik- und Schmerzensschreie. Und nach ein paar Sekunden kreischte er nur noch. Er schrie um Hilfe, gurgelte irgendwie und dann war es still.
Eva hat gezittert und hatte ganz große Augen. Ich dachte immer, das wäre ein Klischee, aber die Augen sind wirklich weit aufgerissen, wenn man Angst hat. Meine waren es bestimmt auch.
Tom stand nur noch still da und kaute auf seinem Daumen. Oder vielleicht lutschte er auch dran. Sah ein bischen aus wie ein Kleinkind. Das hört sich jetzt lustig an, aber ich mache da niemandem einen Vorwurf. Wir hatten alle die Hosen voll, da ist´s egal wie sich jemand benimmt. Und Dabrowski war tot, das wussten wir alle."
Er wischte sich mit dem Handrücken über seine Augen. "Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Dass er widerlich war und so. Ich meine, er war mir unsympathisch, und er war ein „Macher“-Typ. Solche Leute mag ich nicht, aber so ein Ende hat er deswegen noch lange nicht verdient."
Ein vorbei fahrendes Auto hupte. Beide blickten kurz zum Fenster, und konzentrierten sich wieder auf das Gespräch.
"Wir sind ewig so dagestanden. Keiner wusste, was er machen sollte. Und dann hörten wir, wie an die Tür geschlagen wurde. Ein gleichmäßiges Schlagen, als würde jemand ständig einen Tennisball dagegen werfen. Die anderen haben mich nur angesehen. Jetzt sollte ich der Leitwolf sein, obwohl ich es gar nicht wollte.
Tom konnte das nicht. Er machte einen auf harten Typen, mit seinem ganzen Metal-Outfit, aber in Wirklichkeit war er ein wirklich feiger Hund. Ich hatte ja auch Angst, wir alle hatten Angst. Aber bei ihm war das noch ein bischen anders. Fast ein Komplex. Deswegen hat er sich auch so vor Eva aufgespielt. Es kam mir immer so vor, dass er sie beschützen wollte, um von seiner eigenen Angst abzulenken. Und dass er nicht zur Tür gehen konnte, zeigte nur, das hinter seiner ganzen Schauspielerei nicht wirklich viel dahinter steckte.
Eva war schon deutlich stärker. Ich glaube, die hätte auch ohne weiteres nachsehen können. Aber unsere Gesellschaft hat bei ihr Spuren hinterlassen. Wir leben immer noch in einer Männerdomäne. Auch wenn viele Frauen mittlerweile Führungspositionen übernehmen, war sie das scheinbar nicht gewohnt. Sie erwartete einen Mann als Anführer. Ich wollte nicht, aber was blieb mir schon übrig?
Ich konnte mich auch kaum bewegen, aber irgendwie hab ich es doch geschafft, bis zur Tür zu gehen. Das Geräusch kam von dem Hund. Er war jetzt in dem Abteil vor uns und warf sich immer wieder gegen die Tür. Aber sie hielt stand. Gott sei dank. Aber ich sah was Schlimmeres.
Er war nicht der einzige. In dem Zugteil standen mittlerweile sieben oder mehr Hunde. Ich weiß nicht, woher die kamen, sie waren einfach da. Dann hab ich Dabrowkski gesehen.
Er lag auf dem Boden, total zerfleischt und einer der Hunde kaute an seinem Handgelenk. Dabei riss er Sehnen aus dem Arm.
Das war dann zu viel für mich. Ich hab mich umgedreht und auf den Boden gekotzt. Vielleicht bin ich auch kurz ohnmächtig geworden, denn ich kann mich nicht erinnern, wie sie mich in den Stuhl gelegt haben und mir die Tempos und das Wasser gegeben haben.
Die zwei sind dann zur Tür gegangen. Ich war der Anführer gewesen, und ich war in die Knie gegangen. Jetzt mussten sie selbst sehen, was los war.
Tom wollte Eva´s Hand nehmen, aber sie wimmelte in ab. Er wollte der starke Mann sein, aber sie ließ ihn nicht. Als sie durch die Tür gesehen haben, war es sowieso umgekehrt. Wie ich es vorhin gesagt habe.
Eva war die stärkere. Tom hat nur was vorgespielt. Er hat wie ein kleines Kind geschrien und ist in die Knie gegangen. Eva musste ihn dann wegziehen. Sie war wirklich angewidert von ihm.
Als es mir wieder besser ging, haben wir drei unser Gepäck vor der Tür aufgebaut. Die Viecher kamen noch nicht durch, aber irgendwie war klar, dass sie das nicht ewig aufhalten würde. Tom versuchte zu telefonieren, aber im Tunnel hatten wir keinen Empfang. Und dann haben wir uns getrennt."
"Wie?" wollte der Arzt wissen.
"Die Hunde kamen nur von vorn. Da war es logisch, das wir die andere Seite des Wagons überprüfen mussten. Wir wussten ja nicht, ob das Abteil leer war, oder ob da auch alles voller Tiere war. Freiwillig wollte niemand gehen. Also haben wir Streichhölzer gezogen. Eva hat das kurze erwischt.
Fair hat sie das nicht gefunden. Sie wollte, das Tom geht. Das konnte ich irgendwie verstehen. Der hat sich fast in die Hose gemacht, als wir die Zündhölzer genommen haben. „Bitte nicht, bitte nicht“, hat er immer wieder gefleht. Es war wirklich erbärmlich. Wenn wir Männer das starke Geschlecht sein sollen, war er wirklich ein Negativbeispiel. Als er gesehen hat, dass Eva das kurze Holz gezogen hat, ist er wieder in seine Verkleidung des starken Mannes gefallen. „Laß mich gehen“, hat er gesagt. Wie irgendein Held in einem Actionfilm.
Eva war dann ziemlich cool. Sie hat den Spieß umgedreht. „Dann geh doch“, hat sie gesagt. Jetzt war er in der Zwickmühle. Wenn er weiter Schwarzenegger spielen wollte, musste er gehen. Oder er musste seine Feigheit eingestehen. Und irgendwie war klar, was Eva und ich dachten.
Wir wollten ihn los werden. In so einer Situation bestimmt scheinbar der reine Instinkt das Handeln. Wir beide konnten überleben, aber Tom war nur ein Klotz am Bein. Das Rudel lässt das schwächste Tier zurück. Ziemlich pervers, aber es ist so.
Er hat uns ein paar Sekunden angesehen. Man konnte richtig sehen, wie es in ihm arbeitete. Dann hat er die Maske fallen lassen. „Ich kann nicht“, hat er gesagt und sich in einen Sessel fallen lassen. Wenigstens war er ehrlich.
Jetzt lag es an uns, einen Ausweg zu finden. Wir mussten natürlich sehen, ob wir durch den anderen Wagon fliehen konnten. Aber was war, wenn dort auch Hunde warteten? Eingepfercht in einer übergroßen Konservendose, auf der einen Seite von Höllenhunden belagert und auf der anderen Seite vielleicht noch etwas schlimmeres.
Das war eine grauenvolle Vorstellung. Ich war deswegen der Meinung, wir sollten einfach die Fenster einschlagen und durch den Tunnel laufen. Da hat Tom wieder angefangen zu flennen. Er hat geglaubt, dass die Hunde aus dem Tunnel gekommen sind, und dass wir sterben, wenn wir rausgehen. Wir haben ihm nicht wirklich zugehört. Er hatte seine Position in der Gruppe schon lange verspielt.
Wir haben beschlossen beide Möglichkeiten zu versuchen. Ich sollte durch das Fenster und Eva durch den Wagon. Wenn einer der Wege sicher war, sollten wir uns nach zehn Minuten wieder treffen. Das war abgemacht. Aber ich hab´s nicht eingehalten.
Das tut mir jetzt am meisten leid, aber ich hab kopflos reagiert. Wegen Tom, diesem Arschloch.
Eva hat die Schiebetür geöffnet, und gleich danach wieder den Hebel gedrückt. Dann schließt sie sich gleich wieder. Wir wollten ja nicht, dass ein Hund durch die Tür springt. Dann war sie weg, und ich war dran.
Ich hab den Nothammer genommen und wollte die Scheibe einschlagen. Da hat Tom mich auf einmal von hinten angesprungen. Das war nackte Panik bei ihm. Er hat mich festgehalten wie in einem Schraubstock. Ich hab kaum noch Luft bekommen. Und als er mir in die Augen gedrückt hat, bin ich selber panisch geworden. Ich hab ihm mit dem Nothammer auf den Kopf geschlagen. Immer wieder, bis er endlich los gelassen hat.
Als ich aufgestanden bin, hab ich total gezittert. Toms Kappe war weggerutscht und sein Kopf hat geblutet. Da bin ich ausgetickt. Ich weiß nicht, ob er noch lebte. Wissen sie das? Lebt er noch?“
Der Therapeut wirkte verwirrt. „Es gibt eine Dinge, die ich noch klären muss“, sagte er. „Er hieß Tom, sagten Sie?“
„Ja.“
Er blätterte in den Akten und brummte. „Thomas Bauhuber, ja. Er wird vermisst.“
„Wie vermisst?“ Frank wippte hin und her.
„Herr Wagensonner, wie sind sie aus dem Tunnel gekommen?“
„Warum? Was ist hier los?“
„Ich habe ein paar dringende Fragen, und...“
„Sie glauben mir nicht. Das ist es doch? Ich wusste, dass Sie mir nicht glauben.“
„Herr Wagensonner, ich weiß nicht was ich glauben soll. Ich werde es Ihnen gleich erklären. Sagen Sie mir nur kurz, wie sie aus dem Tunnel gekommen sind.“
„Ich weiß es nicht mehr genau. Ich bin eigentlich nur gerannt. Jeden Moment hab ich damit gerechnet, dass mich einer der Hunde anspringt und ich sterben muss. Der Irlahülltunnel ist nicht durchgehend beleuchtet. Ich war deswegen froh über jede Lampe, die ich erreicht habe. Hab mich jedes Mal umgedreht, um zu sehen, ob mir nicht irgendwas folgt. Aber hinter mir war nichts. Den Rest kennen Sie ja. Die Bahnarbeiter haben mich vor dem Notausgang gefunden. Ich war panisch. Die Sanitäter und die Polizei hielten mich für verrückt und ich wurde hierher gebracht. Aber ich bin nicht verrückt. Die Geschichte ist so passiert, wie ich sie erzählt habe."
Doktor Bauer nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. "Herr Wagensonner, ich muss sie noch auf etwas hinweisen. Das tue ich deshalb, weil ich sie für aufnahmefähig halte. Sie haben recht, sie sind nicht krank. Aber der ganze Vorfall ist merkwürdig. Ich bin hier, um ihnen zu helfen, und wenn Sie verstehen, dass..."
"Was soll ich verstehen?" Frank fuhr auf. "Und auf was wollen Sie mich hinweisen? Mir ist das sowieso egal. Ich glaube an das, was ich gesehen habe."
"Das verstehe ich, Herr Wagensonner. Vielleicht stimmt es auch. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Bitte hören Sie mir zu. Sie haben vorhin erwähnt, sie seien 47 Jahre alt?"
"Ja, was tut´s zur Sache?"
"Herr Wagensonner, Sie sind älter. Seit dem Zeitpunkt Ihres Verschwindens sind drei Jahre vergangen. Jetzt sind sie 50. Der Zug..."
„Was sagen Sie da?“ Er fiel zurück in den Stuhl und starrte den Arzt mit offenem Mund an.
„Sie haben wohl damals ihr Büro verlassen, so wie Sie es erzählt haben. Aber der Regionalexpress in den sie gestiegen sind, ist vor drei Jahren im Irlahülltunnel verschwunden. Der Vorfall war weltweit in der Presse. Es gab unzählige Spekulationen und Verschwörungstheorien. Aber von dem Zug hat man nichts mehr gefunden. Diese Eva Schweiger und der Herr Dabrowski werden seitdem ebenfalls vermisst. Auch sie hat man nicht mehr gesehen. Suchaktionen blieben erfolglos. Und jetzt sind Sie beim Notausgang des Irlahülltunnels plötzlich wieder aufgetaucht.“
Frank wimmerte. „Nein, nein das kann nicht sein!“
„Es ist die Wahrheit. Wir haben in den letzten drei Tagen versucht, Sie von jeder Aufregung fernzuhalten. Draußen vor der Klinik wimmelt es von Reportern. Jeder will wissen, was passiert ist.“
Frank verdrehte die Augen. „Nein, lassen Sie mich in Ruhe!“, schrie er. Ich werde wahnsinnig. Was ist hier los?“
Der Psychiater griff zum Telefon und alarmierte die Pfleger. Frank schlug währenddessen wild auf den Bürostuhl ein.
Das Quietschen hatte ihn geweckt. Werner rieb sich verschlafen die Augen. Der Zug war stehen geblieben. Wo, war nicht zu erkennen, denn vor den Fenstern war es dunkel. Alles war still.