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Iris
Iris
Ich saß in einem Café und las in der Tageszeitung. Zwei Tische weiter fiel mir eine zierliche kleinere Frau auf. Kurzer Haarschnitt, rötlich-braune Haare, eine altmodische dunkelbraune Hornbrille, weißes Kleid mit großen roten Tupfen – alles in allem: Die Frau kam mir vor, als wäre sie den 50iger Jahren entsprungen. Ich will ehrlich sein: Genau genommen machte sie auf mich den Eindruck eines Mauerblümchens. Ein Typ Frau, an dem ich mich normalerweise flach an die Wand gedrückt vorbeischleiche.
Die Dame bestellte sich Tee. Keinen normalen Tee mit Zitrone oder so, nein – sie bestellte sich mit der größten Selbstverständlichkeit Kamillentee.
Die Kellnerin meinte: „Tut mir leid, wir haben nur normalen schwarzen Tee.“
Meine Tischnachbarin dachte angestrengt nach. „Gut, dann bringen Sie mir bitte schwarzen Tee.“
Die Bedienung wollte gerade wieder gehen, als ihr die zierliche Dame nachrief: „Ich hätte bitte dazu gerne ein Croissant – wenn möglich, ziemlich trocken.“
Das passt genau zu ihrem Typ, dachte ich mir. Ich warf der Frau einen mitleidsvollen Blick zu. Hätte ich nicht tun sollen.
„Ich hab´s mit dem Magen“ sprach sie mich an.
„Oh, das tut mir leid.“
„Ja“, meinte sie weiter, „wissen Sie, bei mir schlägt sich immer alles sofort auf den Magen.“
„Was verstehen Sie unter >alles<?“
„Ach, ich habe gerade ein paar private Probleme“. Die Frau machte den Eindruck, als wollte sie reden. Sie weckte irgendwie meine Neugier und gleichzeitig aber auch meinen männlichen Beschützerinstinkt.
„Nun – Probleme haben wir ja fast alle“. Ich war wieder einmal so richtig geistreich.
„Ja, aber wissen Sie, bei anderen Menschen schlägt sich das nicht gleich auf den Magen.“
„Da haben Sie recht, doch jeder hat eine andere Schwachstelle. Bei mir zum Beispiel schlagen sich Probleme eher auf den Darm.“ Ich hätte das nicht sagen sollen – diese Bemerkung war Wasser auf ihre Mühlen.
„Sie sind aber ziemlich schlank – eigentlich müssten Sie auch ein Magentyp sein.“
„Bin ich aber nicht“, entgegnete ich. “Ich bin ein tausendprozentiger Darmtyp.“ Normalerweise langweilen mich Gespräche dieser Art fürchterlich, aber heute eigenartigerweise amüsierte ich mich.
„Haben Sie was dagegen, wenn ich zu Ihnen rüberkomme? Dann unterhält es sich besser.“ Meine schlimmsten Befürchtungen wurden Wahrheit. Natürlich hatte ich etwas dagegen, doch wer kann einer Magenkranken schon so einen kleinen Wunsch abschlagen? Schließlich hat man der Gesellschaft gegenüber nicht nur Rechte, sondern auch Verpflichtungen. Und dazu noch ich, ein Ritter alter Garde, Gentleman durch und durch bis ins Mark...
„Gerne“ hörte ich mich sagen.
Sie stand auf, nahm ihre Tasse und ihr ausgetrocknetes Croissant und stellte es auf meine gegenüberliegende Tischseite. Dann ging sie wieder zurück an den Tisch, an dem sie gesessen hatte und holte ihre Handtasche, ein braunes Etwas, das mich an die Einkaufstasche meiner Großmutter erinnerte, wenn sie Samstag Vormittag zum Bäcker ging, um Brot, Semmeln und Brezen fürs Wochenende zu kaufen.
Sie setzte sich mir gegenüber. Nein, dachte ich, als Fotomodell völlig unbrauchbar...
Manchmal ist es eigenartig, was einem als Mann so durch den Kopf geht. Man bildet sich oft machomäßig ein Urteil über Frauen, obwohl es einem eigentlich nicht zusteht und trotz der Tatsache, dass man sie doch überhaupt nicht kennt. Aber zugegeben: Ich bin nun mal ein typischer Vertreter meines Geschlechts. Nicht dass ich ein Macho wäre – nein, niemals. Und wenn, dann höchstens ein klitzekleiner und nur rein äußerlich. Im Kern fühle ich eher wie ein Softie – doch als Softie gehst du unter, du bist den Frauen hilflos ausgeliefert, fühlst dich als Waschlappen und solltest du dich beim Rasieren schneiden, kommen dir bereits am Morgen die Tränen. Damit lockst du doch kein Weib hinter dem Ofen hervor. Es ist ein ständiger Kampf: Macho – Softie. Man hat als Mann oft Tage, das wüsste man selbst gerne, was und vor allem: wer man nun eigentlich ist. Denn wer da meint, dass ein Mann über 40 wüsste, wer er ist, der irrt. Und wenn man als Mann glaubt, sich endlich selbst zu kennen, ist es für alles bereits zu spät... Vielleicht hätte ich ein Zwischending wählen sollen: Nicht Macho, nicht Softie, sondern – Patriarch! Ja, Patriarch, das wär´s. So ein ganz gütiger mit einer natürlichen Autorität wie dereinst Professor Ferdinand Sauerbruch und mit einer väterlichen ruhigen Ausstrahlung wie Papst Johannes Paul II, als er noch in Form war.
„Ich heiße Iris“
„Jürgen“ antwortete ich knapp.
„Sind Sie öfter hier?“
„Nö, heute das erste Mal und auch das ist purer Zufall“. Eigentlich eine blöde Frage, dachte ich – aber immer noch besser als eine Magengeschichte.
„Also das mit meinem Magen“, fuhr sie fort, „ist so eine Sache.“
Oh – Gott, Jürgen, dachte ich, die macht dich jetzt auch noch magenkrank. Dein sensibler Darm ist doch bereits genug. Ich zündete mir eine Zigarette an, damit wenigstens meine Hände beschäftigt waren.
„Sie rauchen?“
„Ja, aber nur ganz wenig. So zwischen zwanzig und dreißig Stück am Tag.“
„Das geht ja noch. Mein Großvater hat so zwischen 40 und 60 Stück geraucht. Er ist an einem Herzinfarkt gestorben.“ Durch die Hornbrille Baujahr 1962 schauten mich zwei braune Augen strafend an.
„Tja – irgend ein Laster braucht der Mensch. Man hat ja sonst nichts vom Leben.“ Diesen Satz finde ich nicht gut; ich habe ihn mal von irgend einem Blödmann gehört – aber manchmal passt er. Hier passte er. Obwohl heute ja hinlänglich bekannt ist, dass Rauchen mit Leben eigentlich wenig zu tun hat.
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Redakteur“, antwortete ich.
„Ist ja toll! Sie schreiben also...“
„Das haben Redakteure so an sich“, meinte ich etwas sarkastisch.
„Ich schreibe auch, wissen Sie.“ Ihre Augen begannen zu strahlen wie zwei Sterne am klaren Nachthimmel.
„Was schreiben Sie denn Schönes?“ Meine Frage kam mehr aus Höflichkeit denn aus Neugierde.
„Lyrische Gedichte.“ Sie lächelte verzückt. Dabei kam ein weißes, makelloses Gebiss zum Vorschein. Ich war angenehm überrascht. Das hatte ich ihr nicht zugetraut. Ich stehe nämlich auf weiße, makellose Gebisse bei Frauen. Aber das kann ich natürlich keinem Menschen erzählen, man würde mich ja für total bescheuert halten. Die meisten Männer stehen laut Statistik bekanntlich auf volle Brüste, knackige Hintern und all so was. Ich nicht. Ich stehe auf makellose weiße Gebisse. Das hebt mich von andern Männern auch gewaltig ab und macht mich so total anders...
„Das könnte ich nie – ich glaube, dazu braucht man ein sehr subtiles Seelenleben“, meinte ich.
Man muss fremden Frauen ja nicht unbedingt gleich auf die Nase binden, dass man selbst so was auch könnte. Denn auch Männer haben ein subtiles Seelenleben, dessen Tiefe normale Frauen kaum zu erfassen in der Lage sind. Wie sonst wäre es möglich gewesen, dass damals ein Oswald Kolle einen Film mit dem Titel drehen konnte: „Dein Mann, das unbekannte Wesen“?
„Ich habe zufällig mein Gedichts-Heft dabei“.
Iris griff nach ihrer Vorkriegs-Handtasche und begann, im Unergründlichen zu suchen.
Schon als Kind, wenn Tante Erika zu Besuch kam, wurde mir eine grenzenlose Bewunderung eingeimpft, was Damenhandtaschen betrifft. Die Sicherheit, mit der Tante Erika jeden gewünschten Gegenstand aus ihrer Handtasche zaubern konnte, verblüffte und beeindruckte mich schon damals immer wieder aufs Neue. Selbst heute noch, als Erwachsener, bin ich immer noch hin und her gerissen, wenn ich sehe, wie sich Frauen in ihren Handtaschen blind so sicher bewegen, als hätten sie ein eingebautes Navigationssystem im Gehirn. Ich gebe es zu: Die Frauen sind uns in gewissen Dingen einfach haushoch überlegen. Für einen Mann wird so etwas immer ein Rätsel bleiben...
Iris zog ein etwas abgenutztes Schulheft aus ihrem Damenhandtaschenchaos. „Soll ich Ihnen mal etwas vorlesen?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, schlug sie wahllos eine Seite auf, schaute kurz ins Heft und meinte: „Das, ja genau – das ist eine wunderschöne Stelle. Da hatte ich fast schon eine Inspiration.“ Sie begann zu lesen:
„Der Ast beugt sich dem Winde,
im Wind wiegt sich die Linde.
Ein Blatt dreht sich im Kreise,
geht mit dem Winde auf die Reise.
Es kommt der Herbst, bald ist es Winter –
Und die Natur weint leise."
„Donnerwetter“, sagte ich.
„Wie finden Sie´s?“. Ihre Augen sahen mich an, als wollten Sie sagen: >Sag jetzt bloß nichts Falsches...<
„Ehrlich gesagt, ich finde es gut. Es ist zwar nicht ganz mein Stil, aber wirklich – gut.“
Ich sah auf meine Armbanduhr. „Jetzt muss ich aber schön langsam, die Pflicht ruft.“
„Schade“, meinte Iris, „mit Ihnen kann man sich sehr gut unterhalten.“
„Stimmt“, entgegnete ich, „ich unterhalte mich meistens auch sehr gut mit mir.“
„Haben Sie am Wochenende schon was vor?“. Ihre Frage traf mich wie ein Keulenschlag.
„Ja – eigentlich, wissen Sie...“
„Wir könnten doch Samstag abend Essen gehen. Dann bringe ich Ihnen einige Artikel von mir mit. Ich schreibe auch Artikel und so.“
Ich überlegte kurz. Eigentlich hatte ich Samstag nicht viel vor. Ich sagte also zu und sie gab mir Ihre Telefonnummer.
So begann meine Bekanntschaft mit Iris...