Was ist neu

Irgendwie, irgendwo, irgendwann in Wien (V 2.0)

Mitglied
Beitritt
22.03.2001
Beiträge
50

Irgendwie, irgendwo, irgendwann in Wien (V 2.0)

Kurze Anmerkung: Die alte Fassung dieser Geschichte ist unter http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?s=&threadid=10607&highlight=1980+in+Wien zu finden - ja, es ist ewig her ;-) Hier sind insbesonders jene Textstellen die ursprünglich von einer gewissen Inge Höller geschrieben wurden durch meine eigenen ersetzt.


Es war im Sommer des Jahres 2003 als sich Markus dann doch zu einem kleinen Wandertag entschloß. Mit dem Autobus wären es zu diesem Badeteich am Stadtrand von Wien von hier aus nur noch ein paar Minuten gewesen, aber er wollte lieber durch den Wald gehen. Der Weg hier war nicht unbedingt allgemein bekannt, nur ein schon längst verrosteter Wegweiser an einem Zaun deutete darauf hin. Auf dem Waldweg war es war angenehm kühl. So wie fast immer kam ihm auch nach ein paar Minuten absolut niemand entgegen.

Der dichte Wald lichtete sich jetzt etwas und grelles Sonnenlicht durchflutete die Umgebung. Als Markus auf die Anzeige seines Handys blickte um nach der Zeit zu sehen, bemerkte er daß hier überhaupt kein Empfang war. Momente später sah er plötzlich den Namen eines ihm unbekannten Mobilfunknetzes, um gleich darauf wieder in sein übliches Netz eingebucht zu sein. Ihm kam daraufhin in den Sinn daß ja gestern auch das Licht eine halbe Minute lang so seltsam geflackert hat, aber das hier war wohl einfach ein Funkloch.

Wenig später lag ein Ast quer über dem Weg. Markus beschloß einfach drüberzuspringen. Er nahm sogar einen kurzen Anlauf. Im Moment wie er zum Sprung ansetzte überkam ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Ja, er spürte daß hier irgendetwas passierte, etwas Mächtiges, unerklärliches, aber da wurde ihm auch schon schwarz vor den Augen.

***

Er fand sich auf dem weichen Waldboden liegend wieder. Er überlegte etwas wie er in diese Lage gekommen war und hatte momentan keine Erinnerung daran was passiert war. Doch, natürlich, der Sprung, der Ast. War er gestolpert, hängengeblieben, ist er so schlimm gestürzt daß er gleich das Bewußtsein verloren hatte? Er blickte sich um. Wo war überhaupt der Ast?

Er konnte aber problemlos aufstehen und hatte sich scheinbar auch nicht verletzt, gerade daß ein Knie voller Erde war. Markus putzte sich notdürftig ab und ging weiter.

Einige Zeit später lichtete sich schließlich der Wald und er sah auch schon den Badestrand am Rande der Lobau. Doch wie er näher kam wurde Markus den Eindruck nicht los, daß hier irgendetwas seltsames vorgeht. Er ging erst einmal auf den Imbißstand zu der dort war und stellte sich hinter zwei Wartenden an.

Plötzlich fiel ihm bei genauerer Betrachtung der Preistafel auf, daß alle Preise noch in Schilling angeschrieben waren. Ja, vielleicht haben die das immer noch nicht ausgetauscht und irgendwo anders hang die richtige, aber das war nicht alles. Auch auf der Eiskarte sah er ein Logo das er schon lange nicht mehr gesehen hatte, wie lange die wohl schon hier montiert war?

Wie er als nächster an die Reihe gekommen wäre und schon gefragt wurde was er gern hätte sagte er nur halblaut "Danke - doch nichts!" und machte ein paar Schritte zurück. Er versuchte einfach nur seine Gedanken zu ordnen und überlegte was es nur war das hier irgendwie nicht stimmte. Von einem spontanen Gedanken getrieben ging er ein Stück weiter. Er kam zur Raffineriestraße, hinter der sich die...

Markus blieb erstarrt stehen. Gegenüber, dort wo die Donauinsel sein sollte, tat sich eine riesige Baustelle vor ihm auf. Auch die Neue Donau, das Entlastungsgerinne, wirkte irgendwie anders, wie wenn das Flußbett gerade erst ausgebaggert worden wäre. Sonst sah alles wie eine Schottergrube aus und auf der staubigen Donauinsel konnte man ein paar Bagger und Lastwagen sehen.

Nach einigen Momenten mit einer Gänsehaut am ganzen Körper begriff er langsam was mit ihm passiert sein könnte oder zumindest wonach es aussah. Natürlich wollte er es nicht wahrhaben und versuchte immer noch eine rationale Erklärung zu finden. Er griff nach seinem Handy und wollte erst einmal... Er suchte sämtliche Taschen ab, wo war es denn nur?

Na toll, es wäre ja nicht das erste Mal gewesen daß Markus es irgendwo verloren hätte. Taschendiebe gab es hier wohl nicht so viele obwohl diese ja im Laufe der Zeit auch schon zweimal bei ihm zugeschlagen hatten. Weit konnte es ja nicht sein, er hatte es ja gerade noch in der Hand.

Als Markus so überlegte, ging ihm die Großbaustelle vor seinen Augen einfach nicht aus dem Kopf. Genauso mußte es hier vor über zwei Jahrzehnen ausgesehen haben wie das Jahrhundertprojekt Donauinsel schön langsam einigermaßen fertig wurde. Aber was das hier darstellen sollte war ihm einfach nur schleierhaft und er versuchte erst garnicht es wirklich zu realisieren.

Er glaubte kaum daß vielleicht jemand sein Telefon bei diesem Imbißstand abgegeben hatte, genausogut könnte es jetzt auch irgendwo im Dreck oder mitten im Unterholz liegen. Trotzdem konnte es ja nicht schaden einmal zu fragen auch wenn man ihn dort vielleicht jetzt komisch anschauen würde.

Wie Markus etwas gedankenverloren ein Stück weitergegangen war, überlegte er ob ihm diese Gegend hier bekannt vorkam oder doch nur an irgendetwas erinnerte. Er konnte sich zwar schon daran erinnern, aber alles war einfach etwas anders als es sonst immer war. Andererseits kam er ja auch höchstens ein paarmal im Jahr hier her, da konnte es schon sein daß sie in der Zwischenzeit dieses und jenes etwas umgebaut hatten.

Er war jetzt wieder auf einen in die Lobau führenden Waldweg eingebogen von dem er glaubte daß er ihn früher oder später zurück zu diesem Badestrand führen würde. Er begann jetzt ein bißchen zu laufen und wurde auch zunehmend nervös, aber wenn das Handy weg ist und noch dazu alle möglichen persönlichen Daten drauf dann ist das ja ganz natürlich.

Markus blieb kurz stehen weil er einfach eine kurze Pause machen mußte. Ja, er war hier schon einmal gegangen, aber irgendwie sah jetzt nichts mehr so aus wie es eigentlich aussehen sollte. Er ging noch ein Stück weiter und hatte immer weniger eine Ahnung wo er jetzt eigentlich gerade war. Das Schlimmste war aber daß langsam aber sicher schon die Abenddämmerung hereinbrach. Er hatte ja momentan keine Uhr, war er wirklich schon so lange unterwegs?

Irgendwie tat sich jetzt so etwas wie eine Lichtung auf und ein paar kleine Wohnhäuser waren zu sehen. Entweder war Markus noch in Wien, vielleicht weitläufig in der Gegend von Eßling oder das hier war womöglich schon Großenzersdorf oder der kleine Ort Mühlleiten. Ja, er hatte momentan echt völlig die Orientierung verloren.

"Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?", kam plötzlich ein älterer Mann auf Markus zu. Noch bevor dieser, leicht erschrocken und etwas verwundert, überhaupt antworten konnte riet er ihm einfach in Richtung dieses kleinen Hauses an der übernächsten Straßenkreuzung weiterzugehen. Markus bedankte sich nur kurz ohne die Sache näher zu erläutern und ging weiter. Vermutlich kamen hier öfters Leute vorbei die eigentlich ganz woanders hin wandern wollten und dort vorne war wahrscheinlich eine größere, gut beschilderte Weggabelung oder sonst ein markanter Punkt.

Hier war eigentlich nur so etwas wie eine abgelegene Wohngegend in der die meisten Gärten ziemlich verwildert waren und die Häuser doch eher schäbig aussahen. Von einer Leitung die die schmale Straße entlang führte hing sogar ein Kabel hinunter. Das Haus das der Mann von vorhin erwähnt hatte war das einzige bei dem Licht brannte. Es sah zwar auch recht verträumt aus, aber zumindest so aus wie wenn hier tatsächlich jemand wohnen würde.

Markus hatte sich etwas umgesehen, aber Wegweiser, vielleicht eine Bushaltestelle oder irgendeinen Anhaltspunkt der ihm weiterhelfen würde schien es hier nicht zu geben, dafür wurde es immer dunkler und er immer müder. Vielleicht würde ihm hier ja jemand weiterhelfen können, fragen konnte er ja.

Irgendwie war diese jüngere Frau die wenige Sekunden nach seinem Läuten aus dem kleinen Haus mit dem leicht moosüberzogenen Dach kam nicht so ganz was Markus jetzt erwartet hatte. Er sagte nur kurz guten Abend und wurde gleich freundlich hereingebeten. Er wußte auch nicht was es war, irgendwie war ihm nicht so gut aber andererseits war es fast eher diese gewisse Müdikeit die jetzt immer mehr über ihn kam. Auch die ganze altmodische Einrichtung bemerkte er noch und bekam dann noch zu hören daß er sich besser ein bißchen hinlegen sollte.

Einerseits war sein Kopf ziemlich klar, er schien sich jetzt sogar von den unnötigen Gedanken befreit zu haben die ihn zuvor noch belasteten. Andererseits kam Markus die ganze Situation wieder ein bißchen unwirklich vor und ihm war auch nicht danach gleich wieder aufzustehen. Die Frau brachte ihm jetzt ein Glas Wasser, oder was immer da drin war.

"So, du hast dir also unter anderem immer schon gewünscht eine - Zeitreise zu machen, habe ich recht?", sagte sie. Markus war momentan einfach nur in den Bann ihrer Worte gezogen und konnte nicht so recht etwas erwidern. "Nur alles mit der Ruhe, früher oder später wird das alles einen Sinn ergeben", sagte sie noch bevor er viel darauf sagen konnte. "Aber überlege dir gut was du tust, ich kann nicht immer auf dich aufpassen", ergänzte sie noch. Dann wurde es langsam immer dunkler um ihn.

***

Es war wohl schon ein paar Stunden hell, als Markus die Augen öffnete. Er mußte erst kurz überlegen, als er die ungewohnte Umgebung sah. Ja, jetzt fiel ihm wieder alles ein, der Wald, die junge Frau, was sie alles gesagt hat... Wo war sie denn nur?

Markus sah sich um. Er war noch immer in diesem Haus, aber er war allein. Er streckte sich, und tausende Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Nach einigen Minuten sprang er dann spontan auf. Er erforsche die nähere Umgebung, die ihm immer noch reichlich seltsam vorkam, aber da war niemand außer ihm. Wenigstens stand da ein Gefäß, ein verbeulter alter Metallbecher. Nach kurzem Zögern ging Markus davon aus daß dort klares Wasser drin war und trank daraus.

Nachdem er den noch etwas an seiner kurzen Hose haftenden Schmutz und Staub abgeklopft hatte ging er schließlich einfach durch die halb offen stehende Tür nach draußen und den Waldweg hinter dem Haus entlang. Zuvor hatte er noch ein paarmal "Hallo?" gerufen aber wer auch immer gestern bei ihm war, sie war weg.

Markus ging vielleicht ein paar Kilometer weiter. Er versuchte sich zu erinnern ob ihm etwas bekannt vorkam und irgendwelche Indizien dafür zu finden was jetzt wirklich hier vorging. Doch er stand mitten im Wald, und außer diesem Pfad gab es keine Anzeichen von Zivilisation. Nun ja, in den Donauauen oder im Wienerwald gibt es endlose Kilometer von Wanderwegen die kaum jemand alle kennen kann. Wenigstens hatte er unterwegs ein paar Sträucher entdeckt die zwei, drei Hände voll Brombeeren hergaben.

Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm war eine Holzbank am Wegrand, darauf lag eine Zeitung. Schlagartig bekam Markus wieder eine Gänsehaut und rief sich die Szene an der Neuen Donau in Erinnerung.

"Donnerstag, 26. Juni 1980" stand auf der Zeitung. Er erinnerte sich daß er einmal auf einem Schulwandertag eine Zeitung gefunden hatte die schon mehrere Jahre alt war, aber diese sah noch sehr druckfrisch aus. Nach einigen Momenten lösten sich seine verkrampften Finger, und er begann darin zu blättern. Einiges das da drin stand kam ihm bekannt vor, das war vor über zwanzig Jahren. Nein, es war gerade erst jetzt... ach, es war überhaupt nichts.

Markus legte die Zeitung weg und blickte kurz um sich herum. Es sah jetzt irgendwie etwas anders aus, auch der Weg war etwas breiter und von einer dünnen Schicht Kieselsteinen bedeckt. Er ging weiter, und als ihm an einer Biegung ein paar Leute entgegenkamen, kam ihm bald alles immer bekannter vor.

Ein paar Minuten später wußte er schon wieder wo er war. Es sah zwar immer noch etwas seltsam aus, aber er erkannte jetzt den Badestrand und den Imbißstand wieder. Doch wieder sah er diese seltsame Preistafel, und noch bevor jemand glauben könnte daß er etwas kaufen wollte ging er wieder ein Stück weiter.

Am anderen Ende der Wiese war eine Telefonzelle. Nein, Markus wunderte sich nicht mehr über die uralte Tür, aber wie er dann von einem Mindesteinwurf von einem Schilling las, hatte er ein Problem. Dann überlegte er kurz und kramte in seiner Geldbörse. Ja, die war noch da und komplett, nur dieses verdammte Handy war wohl wirklich verschwunden. Er nahm den großen schwarzen Telefonhörer ab und warf ein 20-Cent-Stück in den Münzeinwurf. Er spürte eine große Erleichterung, wie es offenbar angenommen wurde. Er wählte auf der Wählscheibe einmal so die Telefonnummer seines eigenen Handys. Doch es kam nur eine Hinweis-Tonfolge daß diese Nummer nicht existierte. Die Münze kam wieder heraus, er probierte es mit einer Nummer von jemand die er gerade im Kopf hatte, aber auch diese Telefonnummer gab es ganz einfach nicht.

Er hängte den Hörer auf und ging hinaus. Draußen wartete ohnehin schon jemand und wollte telefonieren. Er ging wieder in die Nähe des Imbißstandes, wo sich irgendwo "Video killed the radio star" aus einem Lautsprecher quälte. Jemand quatschte über das Ende und es folgte nach einer kurzen Pause die "Österreich 3"-Senderkennung die er wohl mindestens zehn Jahre nicht mehr gehört hatte, dann kamen nach einem deutlich hörbaren Gong die Nachrichten. "Hier ist der Österreichische Rundfunk..."

Wie er nach der langen und konservativen Einleitung etwas zuhörte wurde nur noch bestätigt was ohnehin schon lange offensichtlich war. Wie auch immer es passiert ist, alles deutete darauf hin daß sich Markus tatsächlich wieder im 20. Jahrhundert, im Wien der frühen Achtziger Jahre befand. Er dachte daran daß es irgendein rätselhaftes Naturphänomen sein könnte, er dachte an diese Theorien über Zeitverzerrungen, schwarze Löcher und an das ganze Zeug in der Richtung - und dann fielen ihm wieder die Worte der Frau in diesem Haus ein. Warum war er gerade in dieser Zeit, konnte es sein daß es kein Zufall war und eine tiefere Bedeutung hatte? Markus überlegte sich daß er im Jahr 1980 doch erst kaum über fünf Jahre alt war, er war aber 28. Könnte es sein daß sofort eine Narbe bei ihm erscheint wenn er sein fünfjähriges Ebenbild mit einem Messer attakieren würde? Was wäre wenn er sich selbst dazu bringen würde an diesem bestimmten Tag im Jahr 2003 garnicht erst in die Lobau zu gehen?

Bevor Markus tiefere Überlegungen anstellen wollte warum jetzt alles so war wie es war oder sich daran machen konnte die Stadt so wie sie jetzt war zu erkunden stand er vor einem elementaren Problem. Möglicherweise würde es ja noch ein paar Automaten geben die Euro- nicht von Schillingmünzen unterscheiden konnten, aber die gezählten fünfundneunzig Euro und ein paar Cent die er noch hatte würden wohl nur verwunderte Blicke hervorrufen. Er konnte sich ja nichteinmal irgendetwas zu essen kaufen. Selbst wenn es noch Schilling gäbe würde ihm niemand die modernen Scheine abnehmen.

Markus war inzwischen ein Stück weitergegangen und konnte in nicht allzu großer Entfernung schon die Ostbahnbrücke über die Donau sehen. Er folgte er dort dem Wegweiser zur Schnellbahnstation und versuchte auf dem Weg seine Gedanken etwas zu ordnen. Der Zug würde zum Südbahnhof fahren, von dort aus würde er einfach zu Fuß durch die Stadt weitergehen. Es mußte ja alles unglaublich interessant sein, noch kaum Häuser über acht oder neun Stockwerke, keine Einkaufszentren und Multiplex-Kinos in fast jedem Bezirk, Straßenbahnlinien die es zu seiner Zeit schon lange nicht mehr gab und sogar noch die Stockautobusse auf dem 13A und das alles jetzt nicht aus der mit-den-Eltern-mitgeh-Perspektive. Er hatte ja schon einige Texte über die Stadtentwicklung gelesen und genug Fotos von früher gesehen, aber jetzt lag die Geschichte zum Greifen nah vor ihm.

Als er nach kurzer Wartezeit auf dem recht einsamen Bahnsteig im Schnellbahnzug war und es eine Fahrausweiskontrolle gab wurde Markus bewußt daß er gerade einen Einzelfahrschein aus seiner Zeit verwendet hatte. Plötzliche Panik erfaßte ihn, doch der Schaffner warf nur kurz einen prüfenden Blick auf den Fahrschein, machte einen seltsam lächelnden Gesichtsausdruck und ging kommentarlos weiter.

Es waren jetzt sicher ein, zwei Stunden die Markus durch die Stadt gegangen war. Alles völlig zugeparkt mit Autos wie alten Mercedes, ein paar VW-Käfern oder Opel Asconas. Überall waren mehr oder weniger knallig gelbe Bodenmarkierungen und sogar die Mistkübel am Straßenrand waren so wie er sie aus seiner frühesten Kindheit in Erinnerung hatte.

Das recht zeitlose Billa-Logo hat wohl schon immer so ausgesehen. Geöffnet von Montag bis Freitag 8 bis 18 Uhr, Samstag bis 12 Uhr. Zwischen den jahrzehnealten Wohnhäusern schien eher der zweckorientierte, schmucklose Betonstil zu dominieren. Dazwischen gab es ein paar etwas verträumt wirkende Lebensmittelgeschäfte und einige detailverliebt gestaltete Auslagen mit fein säuberlich angeschriebenen Preisen auf kleinen Kärtchen. Taschenrechner mit Leuchtziffern und mechanische Schreibmaschinen, in einem anderen große, eckige Kassettenrecorder und Plattenspieler. Der nächste Häuserblock war dann eine etwas angegraute Wohnhausanlage mit einer Konsum-Filiale an der Ecke.

Zwischendurch war Markus auch eine absolut wahnwitzige Idee gekommen, aber gerade nach diesem Erlebnis in der Schnellbahn wollte er es einfach drauf ankommen lassen und sehen was passiert.

Er stand vor dem Gebäude der Nationalbank, nach kurzem Zögern ging er durch die jedenfalls nicht abgeschlossene Tür und sah sich drinnen etwas um. War das überhaupt der richtige Raum für Bankgeschäfte? Er sah in seine Geldbörse und zählte noch einmal die Scheine nach. Es war absolut verrückt daß er mit einer an den Haaren herbeigezogenen Geschichte versuchte diese Banknoten umzutauschen, es wäre besser wieder zu gehen und sich etwas Besseres zu überlegen. Auf einmal sprach ihn eine Dame an ob sie ihm weiterhelfen könne. Markus war kurz etwas erschrocken, doch dann kam sie ihm irgendwie bekannt vor. Wie er stotterte daß er da ein kleines Problem hätte forderte sie ihn nur auf ihr zu folgen, als ob sie wußte worum es ging.

Sie gingen noch an zwei Schaltern vorbei an denen ein paar Leute warteten, bis sie in einen Nebenraum kamen. Es war etwas dunkel, das Tageslicht fiel nur recht gedämpft duch ein kleines Fenster in den hohen Raum. Die Frau ging durch eine kleine Tür, bis sie hinter dem Bankschalter stand. Markus beschloß einfach, ihr die Euroscheine hinzulegen und abzuwarten was passieren würde.

Für einige Sekunden herrschte Stille, dann sah er bei ihr genau dieses seltsame Lächeln das er schon bei dem Kontrolleur gesehen hatte. Auf einmal zuckte auch wieder das Bild dieser Frau aus dem seltsamen Haus durch seinen Kopf. Ja, das war doch, das mußte...

"So, das wären dann...", nannte sie ihm einen Betrag, nahm sein Geld und zählte ihm einen Haufen Hundertschillingscheine und ein paar Münzen hinunter. Sie legte noch eine Visitenkarte dazu, falls er noch irgendetwas brauchen würde. Als Markus den Text überflogen hatte, war sie schon längst irgendwo nach hinten gegangen. Inge irgendwas hieß sie und es stand auch eine Telefonnummer und eine genaue Adresse drauf.

Markus steckte das Geld ein und ging hinaus auf die Straße. Wenigstens hatte er jetzt keine Schwierigkeiten etwas zu essen zu besorgen. Es kam ihm dann in den Sinn, einfach einmal diese ganzen Zeitreisetheorien nachzulesen, was sollte er denn momentan sonst tun? Es mußte doch genug wissenschaftliche Abhandlungen und Spekulationen darüber geben auch wenn es sogar in seiner Zeit pure Science Fiction war. Er könnte es ja auch im Internet nachlesen. Ja toll, im Jahr 1980 gab es das Internet oder zumindest irgendwie vernetzte Computer zwar auch schon, aber höchstens bei großen Firmen oder Universitäten. Es war auch noch ganz anders aufgebaut als dann in den späten Neunzigern und es würde sicher um ein Vielfaches schwieriger sein an brauchbare Informationen zu kommen, aber einen Versuch war es wert. Ja, vielleicht sollte er es hier in der Stadt an der Uni probieren und zumindest müßte es an dieser auch irgendwo eine riesige Bibliothek geben.

Fast schon etwas müde kam er nicht allzu lange später bei dieser vorbei und sah sich in Ruhe etwas um. Er war ja nie Student gewesen und wußte deshalb auch nicht wie hier alles so läuft. Irgendwann war er einmal im Eigangsbereich der TU in der Gegend vom Karlsplatz gewesen wo es sowas ähnliches wie ein Internet-Cafe gab. Hier gab es auf den ersten Blick nichts dergleichen, auch keine an Wunderkugeln erinnernde grüne Monitore mit sperrigen Tastaturen wie es sie zu dieser Zeit vielleicht gab. Er fragte dann vorsichtig jemand der ihm gerade über den Weg lief ob es hier vielleicht einen Internetzugang gäbe. Nach kurzem Überlegen was Markus meinte sagte dieser daß der Zugang nur für Angehörige der Universität möglich wäre und überhaupt würde die Verbindung gerade nicht funktionieren.

Draußen stieß er dann, gedankenverloren wie er war und eigentlich nach so etwas wie einer Parkbank suchend, plötzlich mit jemand zusammen. Natürlich, es war seine Schuld, er wollte sich auch nur kurz vergewissern daß auch nichts passiert war und dann möglichst schnell weitergehen. Aber Moment, war das nicht...

"Entschuldigung, aber kann es sein daß wir uns heute schon in der Bank gesehen haben?", fragte er.
"Ja", schien sie fast etwas überrascht, "und gestern abend auch."
"Also Inge heißt du, richtig? Was geht hier überhaupt genau vor und was wird am Ende noch einen Sinn ergeben? Warum warst du immer so schnell wieder weg?", überhäufte er sie mit Fragen.

Während ringsherum der Straßenlärm töste, herrschte zwischen den beidem für einen Moment Stille.

"Du hast dir ja schon immer insgeheim gewünscht einmal durch die Zeit reisen zu können."
"Aber..."
"Vielleicht findest du hier ja soetwas wie eine Zeitmaschine, aber vielleicht ist das ja nicht alles das du für die Rückkehr in deine Zeit brauchst wenn du überhaupt so schnell dorthin zurück willst."
"Hör einmal, was willst du überhaupt von mir?", war Markus irgendwie leicht verärgert.

Ja, was wollte die komische Tussi überhaupt von ihm? Verarschte sie ihn die ganze Zeit? Andererseits - eigentlich wirkte sie ja sonst ganz nett. Er beschloß für den Moment, einfach nicht mehr darüber nachzudenken. Schließlich war er lange genug durch die Gegend gelaufen und wollte sich erst einmal etwas auf der Bank dort drüben ausruhen. Er hatte für einen Moment nicht auf Inge geachtet, und als er sich dann wieder zu ihr hinüberdrehen wollte war sie - wie vom Erdboden verschluckt.

Irgendwie war das alles momentan etwas zuviel für Markus. Eigentlich wollte er ursprünglich ja schwimmen gehen und faßte somit den Entschluß den Nachmittag in einem Freibad zu verbringen. Das Wetter war ja zumindest danach und seine kurze Hose würde schon auch als Badehose etwas taugen.

***

An sich hätten sie ihn mit seinem Ausweis umsonst hereinlassen müssen, dachte sich Markus - naja, Spaß beiseite. Er hatte sich gerade erst ein bißchen auf der Liegewiese des Ottakringer Bades ausgebreitet, einem Schwimmbad in dem er als Kind öfters mit seinen Eltern oder auch mit Kindern aus der Schule war. Es war eher unterdurschnittlich gut besucht, vielleicht würden die großen Massen ja erst im Laufe des Nachmittags herkommen. Außer ein paar Kindern war auch momentan niemand im Wasser.

Markus genoß die Sonnenstrahlen auf seiner Haut und überlegte ob er sich lieber bald in den Schatten setzten oder doch eine Sonnencreme kaufen sollte. Er wollte aber sowieso noch fühlen wie warm denn das Wasser war. Bis auf zwei Kinder waren jetzt alle wieder aus dem Wasser gegangen. Ihm war bei den beiden Kindern im Schwimmbecken neben ihm, noch dazu im tieferen Teil, nicht ganz wohl. Im Kinder-Planschbecken wären die zwei wohl besser aufgehoben, aber wahrscheinlich hatten sie schon schwimmen gelernt. Er legte sich erst einmal zurück und blickte mit geschlossenen Augen Richtung Sonne.

Was war das, hatte er grade jemand schreien gehört? Ja - es sah doch nicht so aus als ob die beiden Kinder wirklich schwimmen konnten, sie schienen sich übermütig ins tiefe Wasser gewagt zu haben und plötzlich verzweifelt um sich zu strampeln. Markus sah sich nervös um, es mußte doch schon jemand aufgefallen sein. Doch irgendwie war niemand in der Nähe des Schwimmbeckens und der Bademeister war auch nicht zu sehen. War das jetzt ein Test oder was?

Er ging schnell Richtung Beckenrand, nein, er rannte hin und sprang nach einem kurzen zögernden Moment ins Wasser. Eines der Kinder konnte schon den Kopf nicht mehr über Wasser halten während das andere jetzt nur noch hysterisch kreischte. Markus packte beide so schnell er konnte, versuchte sie über Wasser zu halten als er mit ihnen schwamm und war wahnsinnig erleichtert als er den Beckenrand erreichte.

Verdammt, es mußte ihm doch jemand helfen. Ja, als er sich gerade in Erinnerung gerufen hatte was man in so einem Notfall alles tun sollte kam auch schon der Bademeister angelaufen. Er war wohl noch nervöser als Markus gerade, es wäre ja seine Schuld gewesen wenn etwas passiert wäre. Nachdem dieser realisiert hatte was genau geschehen war brachte er ein atemloses "Sie waren gerade noch rechtzeitig!" heraus. Die zwei Kinder sahen sich recht ähnlich und schienen Brüder zu sein, sie husteten zwar gerade ziemlich wegen dem verschluckten Wasser aber sonst schien ihnen nicht viel passiert zu sein.

Die Frau die jetzt auch angerannt kam war anscheinend ihre Mutter. Sie machte fast einen etwas verwahrlosten Eindruck, fast wie wenn ihr ihre Kinder eigentlich egal wären. Trotzdem sah man ihr an daß sie mit einem Mal wirklich sehr erleichtert war. Markus erklärte kurz was passiert war, gab ihr dann noch einen langen Händedruck und wollte jetzt ohne langes Gerede einfach nur weg von hier. Es wäre ihm unangenehm gewesen sich jetzt groß als Retter feiern zu lassen oder immer mehr Schaulustigen gegenüberzustehen. Vielleicht sollte er wieder in die Stadt fahren.

***

Als Markus um eine Ecke bog, wehte ihm auf einmal ein kalter Windstoß ins Gesicht. Er hatte auch wieder dieses Gefühl wie wenn etwas Rätselhaftes mit ihm geschehen würde, wie wenn ihm für einen unendlich kurzen Augenblick schwarz vor den Augen gewesen wäre. Das hier war die innere Mariahilfer Straße und mit einem Mal schien es so als ob es viel kälter geworden wäre. Seine Hose sah fast so aus als ob sie jetzt etwas länger wäre, auf jeden Fall hielt dieses Stück Stoff die Kälte gerade so einigermaßen fern. Tatsächlich, es schneite leicht. Was war jetzt schon wieder mit der Welt passiert? Über dem Eingang einer Bank war eine Digitalanzeige älterer Bauart montiert - 29. Oktober. Es gab keine U-Bahn-Haltestellen und auch noch keine endlosen Baugruben, dafür schlängelten sich die Gleise der Straßenbahn durch das Straßenpflaster.

Markus ging ein Stück weiter und fragte dann einfach zur Sicherheit einen Passanten der wievielte denn heute bitte wäre. Er bekam sofort "der 29." zu hören und fragte dann noch "also der 29. Oktober 1980?" nach. Der andere sagte darauf nur ein leicht verwundertes "Ja" und ging weiter.

Bald wurde er vom geschäftigen Treiben auf dem Gehsteig mitgenommen, wobei er bei einigen Zeitungsständen immer wieder das Datum 29. Oktober 1980 lesen konnte. Er wunderte sich ja ohnehin schon nicht mehr darüber und es ist schon ab und zu vorgekommen daß Ende Oktober schon ein paar Schneeflocken fielen, aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los daß hier etwas anders war als es eigentlich sein sollte.

Als ihm eine Kurier-Schlagzeile ins Auge fiel, die die neuesten Erkenntnisse über ein technisches Gerät verkündete, kaufte er für fünf Schilling eine Zeitung. Schon eine Seite nach der Weltpolitik war von "neuesten Erkenntnissen über das Gerät" die Rede, nachdem ja die Spekulationen über dessen Herkunft kein Ende nahmen. Wie ihm dann daneben das grobkörnige Schwarzweißfoto auffiel war klar was gemeint war.

Der kalte Wind der ihm auch noch ständig die Schneeflocken ins Gesicht wehnte hatte Markus inzwischen in das große Kaufhaus Herzmansky getrieben. Er nahm noch einmal die Zeitung her und blätterte den Artikel durch. Man war sich zwar mittlerweile sicher daß das tatsächlich ein komplettes Funktelefon war und nicht nur der Hörer und wohl auch irgendeine Art von elektronischem Fernschreiber, aber in dieser Bauweise hatte das noch niemand gesehen. Es arbeitete auch nach keinem der bekannten Standards. Nachdem auch vor einigen Wochen an die Öffentlichkeit gedrungen war daß im Inneren die Zeichenfolg NOV2001 aufgedruckt ist, hatte immer noch kaum jemand eine bessere Erklärung als das es eine Art Seriennummer sein sollte. Das direkt Naheliegende wagte jedoch kaum jemand auszusprechen.

Doch dann fiel ihm erst auf daß die halbe Weltpolitik davon handelte. Es gab diplomatische Spannungen mit Finnland, weil man von der österreichischen Regierung die Herausgabe des Gerätes forderte da der Name einer dortigen Firma drauf stand. Man zeigte sich zwar zu einem Kompromiß bereit, wolle aber zuvor noch die ersten Untersuchungen beenden. Auch die Amis hatten sich mittlerweile zu Wort gemeldet und waren ebenfalls scharf darauf.

Markus lief ein kalter Schauer über den Rücken. Dabei wäre das ja unter anderen Umständen eine echte Lachnummer, aber ihm war in diesem Moment nicht zum Lachen zumute. Als er einige Momente gedankenverloren an einer Säule lehnte, kam ein Angestellter des Kaufhauses vorbei und fragte ob er ihm vielleicht weiterhelfen könne. Markus war leicht erschrocken, fragte dann aber ob es hier vielleicht eine Telefonzelle gäbe und der Mann verwies ihn freundlich auf den siebenten Stock.

Auf dem Weg nach oben kam er bei der Spielwarenabteilung vorbei und an der Eisenbahn die sie hier immer aufgebaut hatten wie er ein Kind war. Doch jetzt wirkte dieser Ort immer bedrohlicher und nicht wie eine schöne Kindheitserinnerung. Im Moment konnte er sich auch nicht erinnern ob es hier jemals mehr als vier oder fünf Stockwerke gegeben hatte, doch dann war er auch schon in der siebenten Etage angelangt.

Es gab hier zwar wie in jedem Stockwerk eine Übersichtstafel, doch beim siebenten Stock war der meiste Text mit abgenutzten Klebestreifen überdeckt. Es sah hier auch recht leer aus, nur ein paar Wühlkisten und sonstiger Kleinkram standen herum. Außer ihm war fast niemand hier, nur am anderen Ende des Raumes sah sich jemand um.

Ein kleiner Wegweiser führte Markus zu einem an der Wand montierten, von einem Kunststoffschirm umgebenen Münzfernsprecher. Er kramte hastig nach der Visitenkarte die ihm Inge in der Bank gegeben hatte. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn als er die Karte noch in seiner Geldbörse fand.

Nachdem die Wählscheibe ihre Impulsfolgen in das Telefonnetz getackert hatte, wartete er gespannt ob sie sich melden würde. Sie mußte einfach. Als sie sich dann tatsächlich meldete, war er gleichzeitig sehr erleichtert und etwas nervös.

"Inge? Ja, ich bin's, Markus."
"Oh, freut mich, daß du anrufst", sagte sie ruhig und gelassen.
"Das verfluchte kleine Handy, ist es das? Oder was geht hier jetzt schon wieder vor?", erwiderte Markus er mit leicht angespannter Stimme.
"Es könnte sein daß du irgendwas aus dem ursprünglichen Zeitablauf verändert hast", blieb Inge weiter ruhig. "Das könnte dann gegenüber der Welt so wie du sie kennst entweder gar keine oder nur sehr kleine Auswirkungen haben, genauso kann es aber auch sein daß schon kleine Dinge große Veränderungen bewirken", drückte sie sich schon wieder etwas schleierhaft aus.
"Gut, das heißt ich habe einen groben Anachronismus hierher gebracht und jetzt entsteht eines von den Dingern die das Raum-Zeit-Kontinuum vernichten oder wie?", war Markus leicht sarkastisch.
"Wie schon gesagt...", wollte Inge sagen, doch ihre Stimme wurde immmer mehr von Störgeräuschen überlagert. Markus konnte sie nur noch leise hören und sagte etwas lauter daß er sie nur schlecht verstehen konnte. Er brachte gerade noch heraus daß er gern bei ihr vorbeikommen würde um das alles hier in Ruhe zu besprechen, dann brach die Verbindung ab.

Nachdem Markus noch einige Momente vor dem Telefon gestanden war, bemerkte er daß sich das durch die Glasscheibenfront in einiger Entfernung zu sehende Tageslicht irgendwie verändert hatte. Es würde wohl zu regnen beginnen. Er schritt zur Rolltreppe und beobachtete im Stockwerk darunter einige Momente interesssiert, wie zwei, drei Angestellte an den ausgestellten Fernsehgeräten herumdrehten, die Bildstörungen aber einfach nicht wegbrachten. Im Erdgeschoß angelangt sah er vor dem Ausgang eine kleine Menschenmenge. Sie warteten wohl bis es wieder zu regnen aufhörte. Markus drängte sich durch, erntete einige auf ihn gerichtete Blicke und ging hinaus auf die Straße. Es regnete nicht.

Das Blau des Himmels war kein Blau. Es ging vor seinen Augen in ein Grün über, wurde nach einigen Sekunden gelb um dann in ein blasses Rot überzugehen. Markus konnte seine Augen nicht vom Himmel lösen und es schien kein Ende zu nehmen. Ein etwas älterer Mann ging vorbei und blieb neben ihm stehen.

"Was ist das?", war das einzige das Markus momentan einfiel.
"Ja eine Farbveränderung! Hören Sie keine Nachrichten?"
"Und ist das schlimm?", wollte Markus wissen.
"Kaum jemand traut sich noch hinaus wenn dieses Wetter kommt, aber was das wirklich genau ist wissen sie ja noch nicht genau. Ach, alles Blödsinn!", meinte der Mann und ging langsam weiter.

Giftgrün wurde zu sattem Blau, sattes Blau wurde zu blaugrau mit einigen Wolkenschleiern und so blieb es dann auch wieder. Es war vorbei. Langsam drangen wieder Menschen auf die Straße oder gingen weiter nachdem sie sich unter Vordächern zusammengedrängt hatten. Markus interessierte sich momentan nur für den Stadtplan, den er gerade an einer touristischen Hinweistafel entdeckt hatte. Er stieg in die nächste Straßenbahn, kaufte diesmal einen Fahrschein aus dem Automaten und machte sich auf den Weg zu Inge.

Soweit er sich in der Gegend auskannte, hatte ihn der 58er jetzt fast zu seinem Ziel gebracht. Er würde an der nächsten Haltestelle aussteigen, vielleicht jemand fragen und zu Fuß weitergehen. Bevor der Zug stehenblieb, flackerte das den Fahrgastraum etwas erhellte Licht kurz auf. Markus stieg hinaus in das jetzt doch etwas ungemütliche Wetter und ging einfach seinem Gefühl nach weiter. Als er auf die richtige Gasse gestoßen war, kramte er noch einmal die Visitenkarte hervor und sah sich nach der Hausnummer um.

Er stand vor einem dieser typischen Wiener Gründerzeithäuser, studierte kurz die Druckknöpfe der Sprechanlage und entdeckte auch tatsächlich ihren Namen. Nach einigen Augenblicken gespannten Wartens begrüßte sie ihn kurz und er hörte den Summton des elektrischen Türöffners. Er öffnete die alte, knarrige Holztür und war froh, dem Schneetreiben wieder entronnen zu sein. Der Türnummer nach mußte es im zweiten Stock sein.

Markus erkannte Inge gleich wieder als sie ihm die Tür öffnete. Als erste Reaktion umarmte er sie fest, um sie dann genauso schnell wieder loszulassen.

"Das... das tut mir jetzt leid, ich wollte nicht...", versuchte er zu sagen.
"Aber das muß es nicht", erwiderte Inge. "Komm, setz dich erst einmal hin."

Sie gingen durch die Wohnung, die echt noch nach zwanzigstem Jahrhundert aussah. Der Fernseher lief, einer von diesen Farbfernsehern mit abgerundeter Bildröhre die leicht herausstand und mit nur einem Lautsprecher auf der rechten Seite in einem braunen Gehäuse. Die Zeit im Bild-Sondersendung brachte auch nur, was er schon aus der Zeitung kannte. Draußen schien sich schon wieder etwas zusammenzubrauen.

Sie redeten etwas über die Dinge die sich so ereignet hatten, dabei tat sie dann auch nicht einmal mehr so geheimnisvoll und er war froh, ganz locker und offen mit ihr reden zu können. Es tat ihm jetzt auch etwas leid wie er über sie gedacht hat. Markus vergaß auch für den Moment diese mysteriöse Aura die Inge umgab und sprach auch an daß es vielleicht ganz interessant wäre sie hier einmal in eine Disco oder sowas in der Art mitzuschleppen. Gab es überhaupt schon dieses ganze NDW-Zeugs oder noch eher Siebziger-Disco?

Sie tat dann wieder etwas geheimnisvoll und meinte daß gerade der heutige Tag für sie eine besondere Bedeutung hätte und deutete etwas von einem temporalen Knotenpunkt an. Nein, Markus wollte momentan garnicht wissen wie sie auf all das kam.

Als sie sich dann erst einmal nichts mehr zu sagen hatten, verfolgten sie die Sendung im Fernsehen. Es kamen immer wieder die gleichen Aufnahmen und Interviews mit irgendwelchen Wissenschaftlern. Plötzlich schwenkte die Kamera zu einem etwas aufgeregt wirkenden Nachrichtensprecher, dem man gerade ein Papier zugesteckt hatte.

"Sehr geehrte Damen und Herren, vor wenigen Minuten haben wir die Bestätigung erhalten daß sich die bisher schwerste Farbveränderung...", konnte er gerade noch sagen bis nach einigen Momenten mit Störstreifen nur noch Bildrauschen herrschte. Es kam dann zwar eine "Wir bedauern"-Grafik mit diesen drei abgebrochenen Farbstreifen, aber wenig später war nur noch eine Mischung aus Rauschen und irgendwelchen Geisterbildern zu sehen. Ein rötliches Schimmern drang durch das Fenster.

Inge stand auf und ging zum Fenster. Rasch änderte sich die Himmelsfarbe, in immer schnellerer Abfolge. Markus stand auf und ging zum Fenster. Beide sagten nichts und blickten in den Himmel. Instinktiv nahm er ihre Hand, bis alles um sie herum nur noch strahlendes Weiß war.

***

Markus war gerade aufgewacht und begann sofort mit neugierigen Blicken seine Umgebung zu erforschen. Er war in einem kleinen Raum, durch das Fenster drang strahlender Sonnenschein herein und aus einem Radio dudelte der Ö3-Wecker, die Schlagzeilen vom 27. Juni und der Wetterbericht. Er zweifelte noch einige Zeit daran ob diese Umgebung jetzt wirklich real ist, doch dann streckte sich Markus noch einmal und raffte sich aus dem Bett auf.

Er entdeckte einen Fluchtplan für den Brandfall, daneben hang noch ein in Kunststoff eingeschweißtes Stück Karton - "Zimmerpreise 1980". Ein Einzelzimmer schlug sich mit 180 Schilling zu Buche. Wenn heute der 27. Juni 1980 ist, dann wäre das einen Tag nachdem Markus hier aufgetaucht war. Ja, die Sache mit der Farbveränderung erschien ihm auch noch sehr real, aber trotzdem wurde er den Gedanken nicht los daß es ja doch nur ein Alptraum gewesen sein könnte und er sich wohl gestern irgendwann dieses Hotelzimmer genommen hat.

Markus machte noch eine schnelle Katzenwäsche mit kaltem Wasser und sah sich dann noch kurz um. Seine Kleidung, ein Schlüsselbund und seine Geldbörse waren alles das er hatte. Toller Ausweis, geboren am 19.01.1975. Wer weiß was noch alles passierte wenn er dem Fünfjährigen über den Weg laufen würde der er selbst war. Vielleicht sollte er ja bei seinen Eltern vorbeischauen - "Hallo, so sehe ich dann 23 Jahre später aus!" Na klar.

Er entdeckte noch die Toilette am Gang und kam dann bei der schlicht gehaltenen Rezeption vorbei. Markus gab zu verstehen daß er dann jetzt ausziehen würde, und ohne daß ihm viele Fragen gestellt würden zahlte er die hundertachtzig Schilling und verabschiedete sich. Er fand sich in einem Stiegenhaus wieder, und wie er draußen auf der Straße stand war es klar daß die kleine Hotel-Pension in dem Haus untergebracht war in dem er Inge getroffen hatte. Oder in vier Monaten treffen würde.

Plötzlich wurde ihm wieder bewußt daß er besser dieses verdammte Mobiltelefon suchen sollte. Vielleicht lag es ja jetzt noch dort im Wald. Markus überlegte wie er von hier aus am besten in die Lobau fahren könnte. Vielleicht vom Norden her über Eßling, vielleicht würde es per Taxi ja ganz schnell gehen? Lieber nicht, wer weiß ob das Geld reichen würde. Markus kam dann in den Sinn von der U1-Endstation Kagran aus mit dem Bus weiterzufahren. Irgendeine der zahlreichen Buslinien müßte doch von dort aus in diese Richtung fahren.

Er erreichte die Ringstraße und stand tatsächlich wenig später vor einer U-Bahn-Haltestelle die irgendwie immer schon so ausgesehen haben mußte. Ja, die Aufschriften waren etwas anders aber sonst war alles so wie es auch noch 23 Jahre später war. Doch als plötzlich mitten auf der Strecke die Rede von "Endstation, bitte alles aussteigen" war fiel ihm schlagartig ein daß diese Linie ja erst zwei Jahre später bis nach Kagran durchgebaut sein würde.

Markus stieg in den nächsten Straßenbahnzug der dann vom Praterstern aus durch die Lassallestraße fuhr. Die neue Reichsbrücke über die Donau war immer noch eine Baustelle nachdem die alte jetzt schon vor ein paar Jahren eingestürzt war. Auf einer großen Tafel stand daß sie am 8. November 1980 wiedereröffnet werden würde. Der 25er rumpelte langsam über die während der Bauzeit noch aufgestellte Behelfsbrücke.

Es mußte schon fast Mittag sein als ihn dann nur noch ein Stück schmale, durch ein Feld führende Straße vom Waldrand trennte. Er fand sich rasch zurecht und war auch bald auf dem Weg auf dem er im Jahr 2003 gehen würde. Nach einigen Minuten war er sich sicher an der Stelle seines Sturzes angelangt zu sein, und wieder fuhr ein kalter Schauer duch seinen Körper.

Das Telefon war natürlich nicht da. Scheiße! So eine verfluchte Scheiße! Markus suchte nochmals die Umgebung ab und ging dann resignierend weiter. Er ließ seine Blicke genau über den Weg schweifen, aber von seinem Handy keine Spur. Als er schließlich am Badestrand angekommen war, hatte er Lust etwas zu essen, vielleicht ein paar Pommes. Der Inhaber des Imbißstandes würde ihn vielleicht wegen gestern dumm anschauen, aber das kümmerte Markus jetzt nicht.

Als er gerade zahlen und sich dann irgendwo zur Seite stellen wollte, faßte er den Entschluß den Standbesitzer doch nach dem Handy zu fragen.

"Ähm, haben Sie hier in der Nähe vielleicht so ein Ha... - ich meine es sieht aus wie ein Telefonhörer von einem..."
"Moment, moment...", bremste ihn der Mann ein, "vielleicht sowas mit einer Digitalanzeige drauf?"
"Ja, genau!", erwiderte Markus.
"Grade hat jemand soetwas bei mir abgegeben, also wenn's Ihnen gehört..."

Der Mann drehte sich um, kramte in einer Schublade und reichte Markus dann sein Handy durch das Verkaufsfenster.

"Ist es das hier?" - "Ja, genau das, danke!" - "Keine Ursache."

Markus überkam ein Gefühl der Erleichterung. Als er es in die Hand nahm, kam es ihm wieder so vor wie wenn sich irgendetwas verändern würde. Vielleicht war es ja auch nur die Anspannung die sich gerade bei ihm gelöst hatte, denn die Umgebung war genauso wie auch schon in den Minuten davor. Wenn er hier wirklich eine Aufgabe zu erfüllen hatte, dann konnte das ja jetzt wohl nicht alles gewesen sein. Das Handy war immer noch eingeschaltet, die Anzeige war bei der Suche nach einem Netz einfach hängengeblieben. Alle Einstellungen waren noch da, nur das Datum bestand nur aus lauter Nullen. Er stellte es auf den 27.06.1980 und steckte das Handy ein.

Markus war wieder etwas durch die Stadt gestreift und überlegte sich wie es nun weitergehen sollte. Sollte er vielleicht wieder versuchen Inge zu erreichen? Wie sollte er nur wieder dorthin zurückkommen wo er eigentlich hingehörte? Er wußte ja immer noch nicht ob jetzt eine unerklärliche höhere Macht oder doch etwas wissenschaftlich erklärbares daran schuld war daß er hier war.

Er kam noch einmal bei der Bibliothek in der Stadt vorbei und sah sich etwas um. Ein paar Leute gingen bei etwas gedämpftem Licht auf und ab und stöberten in den Regalen. Es würde wohl niemand dumme Fragen stellen wenn er hier in ein paar Büchern blättert. Markus überlegte, ob er jetzt in den Karteiblättern nach Physik, Grenzwissenschaften, Science Fiction oder wonach auch immer suchen sollte. Er stieß dann auf ein Buch mit leicht vergilbtem Einband und kaum lesbarem Titel. Er blätterte es interessiert durch und setzte sich dann an einen Tisch.

Dabei wurde er die ganze Zeit beobachtet. Er hatte zumindest den Eindruck, und als er noch einmal aufblickte stand der Mann neben dem Tisch immer noch da und las wohl bei seinem Buch mit. Wie ein Student sah er nicht wirklich aus. Als Markus einmal instinktiv das Handy hervorholte um nach der Uhrzeit zu sehen, wurde er wenig später angesprochen.

"Entschuldigung, aber Sie interessieren sich wohl besonders für - ähm -Zeitreise-Theorien und so?"

"Ja... und?", versuchte er gelassen zu bleiben. Er glaubte wieder diesen seltsamen Blick wie auch schon bei der Fahrausweiskontrolle zu sehen, aber er hatte trotzdem das Gefühl wie wenn der hier wirklich hier her gehörte.

"Interessantes Gerät haben Sie da. Jedenfalls, wenn Sie einmal kurz mitkommen könnte ich Ihnen was Interessantes zeigen."

Markus überlegte nicht lang und stürzte sich in das hinein was jetzt auch immer auf ihn zukommen würde. Sie gingen durch eine Tür und schritten über einen schlecht beleuchteten Gang. Der Universitätsangestellte oder was immer er genau war sperrte eine Tür auf, und beide standen schließlich in einen mit Unmengen von Geräten und Kabeln vollgestopften Raum.

Der Mann stand vor einer seltsamen Konstruktion und gab einige Befehle an einem Computer mit kleinem Monochrom-Monitor ein.

"So", forderte er Markus aufgeregt auf, "schauen Sie einmal ob Sie jetzt mit dem Funktelefon etwas empfangen."

Markus startete noch einmal die Netzsuche. Wieder lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken als nach und nach vier GSM-Netze gefunden wurden die frühestens Anfang der Neunziger auf Sendung gehen würden. Er schaltete es ab, nahm die Abdeckung herunter und zeigte ohne etwas zu sagen auf das innen aufgedruckte Produktionsdatum.

"Ich wußte es", rief der Mann nach einigen Momenten den Schweigens mit euphorischer Stimme, "eines Tages würde es funktionieren! Ja, sie müssen aus der Zukunft..."

"Juni zweitausenddrei", unterbrach ihn Markus mit ruhiger Stimme, "der 26. glaube ich, so etwa 17 Uhr". Angespannte Stille folgte, nur das Surren der Instrumente füllte den Raum.

"Hören Sie zu, ich...", begann er wieder zu reden und erzählte in ein paar Minuten die ganze Geschichte.

"Wenn wir es versuchen dann jetzt oder nie. Bleiben Sie einfach genau dort stehen! Das ist das - Versatzfeld." Erst jetzt fielen Markus die orangen Linien auf dem kahlen Betonfußboden auf die das seltsame Gebilde neben ihm umgrenzten. Der Wissenschaftler gab noch ein paar Befehlsfolgen auf der Tastatur ein, bis er schließlich nach einem schwungvollen finalen Druck auf die Enter-Taste einen Schritt zurücktrat.

Markus überkam jetzt wieder so ein seltsames Gefühl. Aber es war nicht nur so ein Gefühl, er spürte wirklich ein deutliches Kribbeln am ganzen Körper. Egal was jetzt passierte, er wollte einfach nur in seine Zeit zurück. Er wollte noch etwas sagen, doch er konnte nicht sprechen, seine Worte wurden einfach vom Nichts verschluckt. Er blickte noch einmal auf den Kalender der an der gegenüberliegenden Wand hang - 27. Juni 1980. Irgendwie schien jetzt langsam eine Art Nebel den Raum zu füllen, aber nicht etwa wie Trockeneis, nein, viel feiner und doch immer undurchsichtiger. Doch etwas schien zu blockieren, Markus hatte das Gefühl einfach nicht wegzukommen. War da vielleicht noch etwas unerfülltes, irgendetwas das er insgeheim noch gern tun würde oder tun sollte?

Als Markus daran dachte, wie er mit Inge am Fenster stand, wurde das Summen lauter.

***

Er saß in einer Wiese und sah sich etwas um. Ja, er mußte auf der Donauinsel sein, die in der beginnenden Abenddämmerung dalag. Um ihn herum war es recht laut und durch das Gebüsch konnte er bunte Lichter sehen. War das etwa...? Markus sah auf die Datumsanzeige: Es war der Mai 1984. Er stand auf, war für einige Minuten in Gedanken versunken was jetzt schon wieder geschehen ist, aber er war erleichtert, als auch nach einer Minute kein GSM-Netz gefunden wurde. Nein, keine Spur vom Großen Bruder oder sonstigen Alpträumen die hier nicht her gehörten, und das ausgelassene, geschäftige Treiben so etwa fünfzig Meter von ihm mußte das erste Wiener Donauinselfest sein.

Markus ging zum Hauptweg und stürzte sich ins Gedränge. Er hatte ja noch Geld übrig und kaufte sich an einem Stand etwas zu trinken, lieber doch etwas Alkoholfreies. Nach einer Bühne kam eine gewisse Strecke wo das Gedränge deutlich nachgelassen hatte und es nur ein paar wenige Stände gab. Ja, dort stand eine jüngere Frau am Rand des Weges.

"Inge?"
"Markus!"

Es war tatsächlich seine Bekannte Inge, und ohne viel zu reden beschlossen sie erst einmal, sich etwas abseits des Weges in Richtung Donau hinzusetzen. Die Sonne war gerade untergegangen. Von einem Getränkestand her kam Musik, es klang so richtig kitschig-schön nach Achtziger Jahre. Markus überkam ein "schon ewig nicht gehört"-Gefühl, es war ein altes Nena-Stück und sicher auch keine von diesen Coverversionen.

"Im Sturz durch Raum und Zeit, Richtung Unendlichkeit - fliegen Motten in das Licht, genau wie du und ich. Irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an, ich warte nicht mehr lang..."

Sie blickten sich in die Augen.

"Liebe wird aus Mut gemacht, denk nicht lange nach, wir fahren auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht..."

Markus und Inge waren an irgendeinem Punkt des Zeitablaufs gelandet, und obwohl immer noch irgendetwas nicht stimmte genoß er den Augenblick. Er staunte auch nicht schlecht als ihm Inge ihr Geburtsdatum erzähle. Alles war perfekt, doch da war noch etwas Unerfülltes.

"Gib mir die Hand, ich bau dir ein Schloß aus Sand, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Die Zeit ist reif für ein bisschen Zärtlichkeit, irgendwie, irgendwo, irgendwann..."

Wieder sahen sie sich an. Markus gab Inge seine Hand.

Sie umarmten sich.

Sie küßten sich.

"Das, das ist jetzt so über mich gekommen, ich wollte nicht...", hatte Markus Angst jetzt vielleicht etwas Falsches getan zu haben.
"Aber das muß es nicht, war doch schön", hauchte Inge.
"So, und was jetzt?", wollte Markus wissen.
"Wart's ab, wir werden schon sehen!"

Wieder schien es so, als ob etwas Mächtiges vor sich gehen würde. Die Musik, die bunten Lichter, das Stimmengewirr, die ganze Umgebung - alles schien eins zu werden.

***

Markus war bei sich zuhause. Die Umgebung erschien ihm absolut real, alles sah sehr nach 2003 aus. Er sah nach ob seine Geldbörse, die Schlüssel und das Handy noch da waren und es hatte tatsächlich noch alles. Er stürzte sich an seinen Computer, schaltete den Fernseher ein und drehte am Sendersuchlauf des Radiotuners. Es war Ende Juni 2003 und alles war so wie es immer war.

Plötzlich fiel ihm wieder Inge ein. Er kramte nach der Visitenkarte. Sie war noch da. Ob unter dieser Telefonnummer immer noch jemand abheben würde? Natürlich war ihm klar daß die Wiener Telefonnummern in der Zwischenzeit wohl unzählige Male umgestellt worden waren, aber wer weiß was dieser Frau so alles eingefallen war? Markus zögerte einige Momente und wurde auch ziemlich nervös, wählte dann aber ihre Nummer.

Sie meldete sich, und sie klang genauso wie er sie kannte. Er fragte sie alle möglichen Dinge die er über sie wußte, und sie sagte immer nur ja. Wieder wollte er sie besuchen und diesmal ganz ohne Zwischenfälle mit ihr reden. Sie sagte ihm noch einmal die Adresse und meinte daß er ja gern vorbeikommen könnte.

Gut gelaunt sperrte Markus ab und ging hinaus auf die Straße. Als er um eine Ecke gegangen war, wurde er von zwei Männern angesprochen die ungefähr so alt wie er waren.

"Wo gehen wir denn so hin wenn man fragen darf?"

"Ach, ich - habe einen privaten Termin", wollte er einfach nur eine schnelle Antwort geben und weitergehen. Sehr freundlich schauten die beiden die einander recht ähnlich sahen nicht aus, aber es wäre ja nicht das erste Mal daß ihn jemand blöd anquatscht.

"Nicht so schnell!", rief einer der beiden mit haßerfüllter Stimme und zog ein Messer.

Markus bekam panische Angst und wollte nur weg von hier, doch da hatte ihn der andere auch schon gepackt. Er versuchte sich zu wehren, doch dann ging alles ganz schnell, er verspürte einen fürchterlichen Schmerz und ihm wurde langsam schwarz vor den Augen.

***

Er mußte in einem Krankenhaus sein, das letzte an das er sich erinnern konnte war diese Messerstecherei. Ihm war furchtbar übel und schwindlig. Irgendwo lief auf einem kleinen Fernseher "Wien heute" von dem er in seinem momentanen Zustand grade so ein bißchen mitbekam.

"In Wien-Penzing wurde gestern ein 28-jähriger Mann Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls. Er wurde mit schweren Verletzungen in das Wilhelminenspital eingeliefert, laut Auskunft der Ärzte besteht aber keine Lebensgefahr. Die Täter, ein Brüderpaar, konnten wenig später gefaßt werden, sie sind einschlägig vorbestraft."

Inge stand neben seinem Bett, Markus registrierte aber auch sie nur so halb. Sie war mit ihm durch die Zeit gereist und auch jetzt zweiundzwanzig Jahre alt. Irgendwann würde er schon aus diesem Spital herauskommen und dann einmal irgendwo in Ruhe mit ihr reden. Der Arzt, der sie gerade so seltsam angeblickt hatte würde schon dafür sorgen.

ENDE

 

>Um es gleich vorweg zu nehmen, meine Kritik wird >nicht sonderlich positiv ausfallen. Leider.

Hallo BenSisko, danke für deine Kritik! Kein Problem, ich bins ja gewohnt immer nur so durchschnittliche Kritken zu bekommen ;-) Schlimm wäre nur wenn ich deswegen dann "beleidigt" wäre so wie vielleicht manche.

>Ich habe die alte Fassung nicht gelesen, ist aber >auch nicht notwendig, oder?

Nicht wirklich, das Grundgerüst ist das gleiche. Die vorige Version würde allerdings wirklich fast besser unter Seltsam oder ev. Märchen/Fantasy passen, bei dieser habe ich mir auch überlegt ob nicht Seltsam besser passen würde.

>- Wo sind die ganzen Beistriche hin? Je weiter ich >mit dem Text gekommen bin, desto weniger notwendige >Beistriche waren zu finden. Das hat den Lesefluß >erheblich gestört, ich musste teilweise die Sätze ein >paar Mal lesen, um sie zu kapieren.

Gut, ich sollte dann wirklich einmal das entsprechende Kapitel in der ach so tollen neuen vereinfachten Rächtsschreipung genau lesen und mich nicht auf Medienberichte bzw. andere Texte verlassen was man jetzt so alles darf. Früher habe ich nur selten Rechtsschreibfehler vorgehalten bekommen.

>- Du verhedderst dich mMn viel zu sehr in >Nebensächlichkeiten bzw. in lokalen Beschreibungen >Wien). Mich jedenfalls hat
>es z.B. nicht sonderlich interessiert, mit welcher >Straßenbahn und bei welcher Haltestelle er
> ausgestiegen ist. Das ist mMn nebensächlich
> und zieht die Story unnötig in die Länge.

Gerade diese Details waren mir wichtig, in der alten Version wurde z.B. auch kritisiert dass die Beschreibung des Wien vor 20 Jahren etwas zu oberflächlich war. Gut, das funktioniert halt nur wenn man die Stadt bzw. deren jüngere Geschichte etwas kennt. Ich bin ja froh dass hier auch etwas längere Geschichten erwünscht sind für einen Roman wiederum um einiges zu wenig wären.

>Was hat es mit Inge auf sich? Was weiß sie?
>Was hat es mit den Farbveränderungen des Himmels auf >sich?

Also erst einmal ist es wichtig zu wissen dass, wie schon zu Beginn erwähnt, ich diese Geschiche einst im "wir schreiben zu zweit abwechselnd ein Stück weiter"-Verfahren geschrieben habe. Sonst hätte sich alles nach der Stelle mit der alten Preistafel und der Baustelle auf der Donauinsel vielleicht in eine ganz andere Richtung entwickelt.

Anfang der 80er war schon lange meine bevorzugte Epoche (unabhängig von diversen ziemlich an mir vorbeigegangenen 80er-Shows) für eine Zeitreise-Geschichte. Inge hat irgendeine übersinnliche Gabe (oder wie immer man es nennen will) und kann in gewissem Rahmen die Zeit bzw. dieses zufällig aufgetretene "Naturphänomen" kontrollieren.

>Warum reist er nochmals ein paar Monate in die >Zukunft und dann wieder zurück? Nur wegen dem Handy?

Das war wieder "zufällig" so wie umherziehende Subraumverzerrungen ;-) aber so sieht er wie wegen des verlorenen Handys das es zu dieser Zeit einfach noch nicht gab (sowas wie ein modernes Notebook wäre zu schwer zum Herumtragen gewesen) alles durcheinandergekommen ist. Das mit der Farbveränderung beruht auf einem Traum den ich einmal hatte und hat eben auch mit dem "Naturphänomen" zu tun.

>Was hat es mit dem Studenten (?) auf sich, der eine >Zeitreisemaschine (?) erfunden hat?

Der "gehört dazu", so wie Inge und der Schaffner im Zug. Ich habe auch überlegt, den in der Gegenwart wieder auftauchen zu lassen. Eine "Zeitmaschine im Keller" (mit der Zeitsprünge eben einigermaßen kontrolliert und nicht mehr oder weniger zufällig auftreten) wollte ich auch umbedingt in der Geschicht haben. Wäre vielleicht auch besser gewesen wenn der Prot. sie aufgrund eines Hinweises selber entdeckt hätte.

>Sind die Männer, die ihn niederstechen, die beiden, >die er in der Vergangenheit gerettet hat? (Konnte >jedenfalls keinen Hinweis darauf
>finden.)

Ja, und in der alten Version war der Hinweis darauf etwas zu offensichtlich.

>So ist es für mich eine Geschichte, sie stark >konstruiert wirkt und nicht weiß,
>in welche Richtung sie gehen soll.

Das kommt heraus wenn man erst einmal nur eine Grundidee bis zu "ich bin in der Vergangenheit, ich habe einen technischen Gegenstand verloren den es damals noch nicht gab" hat und die Geschichte dann erst einmal in eine ganz andere Richtung gelenkt wird als ich mir so ungefähr vorgestellt habe. Inge (die wirkliche) hat auch einen ziemlich "blumigen" bzw. "Trauertante"-mäßigen Schreibstil.

Schöne Grüße - madmaxx / Markus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom