Irgendwie Irgendwann
"Ich will Dich sehen". Die Worte brannten sich in ihr ein. Sie schluckte. Wollte sie ihn sehen? Was würde passieren? Ihr Herz raste plötzlich, während sie das Email wegklickte und krampfhaft nachdachte.
Sein hübsches Gesicht fiel ihr ein, seine leuchtenden Augen, als er vor seinem Motorrad stand. Jungenhaft, charmant lächelnd, siegessicher. Zu siegessicher für ihren Geschmack. Ein halb-spöttisches, halb-bitteres Lächeln spielte um ihren Mund. Wie sehr hatte sie einen Narren an ihm gefressen, nachdem er damals zielstrebig auf sie zukam, sie mit seiner gewinnenden Art gefangen nahm und ihre Gedanken für eine lange Weile gefesselt hielt.
Sie waren ein phantastisches Paar gewesen, jung, abenteuerlustig und leidenschaftlich. Zusammen brausten sie auf seinem Motorrad über die Lande. Sie betete ihn an, liebte seine Zärtlichkeiten und er begehrte ihre Wandlungsfähigkeit und ihren Witz. Irgendwann dachte sie, er sei ihr Traummann, der Ritter auf dem weißen Pferd. Was er dachte, ahnte sie nicht, aber was er tat, ließ sie auf nicht allzu viel schließen. Seine Unbeschwertheit wurde größer und reizte ihre Eifersucht. Sie war verwöhnt und wollte seine ungeteilte Aufmerksamkeit, er freute sich des Lebens und wurde übermütig, bis sie genug hatte. Und als sie erst einmal genug hatte, fuhr sie ihre Krallen aus und vernichtete mit rigoroser Grausamkeit alles, was sie verband.
Er rief aus dem Ausland an, aus dem Ort, an dem er für ein Semester studierte. Er wollte ihre Stimme hören. Er wußte, daß es ihr nicht gefiel, daß er fortgegangen war, aber er war einfach zu sorglos gewesen, sich ihrer viel zu sicher.
"Es ist Schluß", sagte sie mit seidenweicher Stimme. "Ich habe auch bereits einen Ersatz für Dich gefunden." 'Kein Grund zur Aufregung', redete sie sich ein, 'sei nur stark', dachte sie, während sie sprach. Sie wollte frei sein, frei von der Eifersucht, die sie zerfraß. Er sollte aus ihrem Leben verschwinden und zwar sofort und am besten für immer. Mit ihm bräuchte sie kein Mitleid zu haben, er war immer so stark und mutig gewesen, nun konnte sie ihm beweisen, daß sie ähnlich mutig war wie er.
Er reagierte schockiert, nahm den nächsten Flug zurück, aber es gelang ihm nicht, die Scherben aufzusammeln. Sie schirmte sich ab von der Trauer, die sie empfand, als er vor ihr stand und sie ihm kalt und emotionslos mitteilte, daß er umsonst gekommen war. Sie wollte den Schmerz abtöten, wollte ihre Liebe nicht mehr sehen, nie wieder. Als die Tür leise hinter ihm ins Schloß fiel, konnte sie nicht einmal weinen. Sie wußte nur, daß sie das richtige getan hatte. Ihr Herz war sicher, es war wieder ihr Eigentum.
Die erste Zeit meldete er sich alle paar Monate bei ihr, sogar in der Wohnung ihres neuen Freundes rief er sie an und bat um eine Aussprache. Immer wieder hing sie ab, sah für eine Weile mit leerem Blick an die Wand und "vergaß" seinen Anruf danach wieder.
Irgendwann heiratete sie und zog um. Sein letzter Brief erreichte sie etwas später. Er hätte sein Studium nun beendet und könne heiraten. Er würde genug verdienen, um sie beide durchzubringen. Es rührte ihr Herz, aber dann verschloß sie es wieder. Warum schrieb er so etwas? Er hatte es doch nicht nötig. Jemand mit seinem Aussehen und seinem Charme hatte doch unendlich viele Verehrerinnen. Warum wollte er gerade sie? Sie schrieb eine Karte, bedankte sich für seinen lieben Brief und erzählte ihm darin von ihrer Hochzeit und ihrem Glück. Sie endete die Zeilen mit dem Wunsch, er möge ähnlich viel Glück in seinem Leben finden wie sie. Fast weinte sie, als sie die Karte in den Postkasten warf, aber nur fast. Er war so fern.
Eine Dekade verging. Die Jahre flogen nur so dahin. Sie seufzte nun, als sie darüber reflektierte. Wie jung war sie damals gewesen und wie sehr sie sich im Laufe der Zeit verändert hatte. Aber hatte sie das wirklich? "Ich will Dich sehen", sein Satz drang wieder in ihr Bewußtsein und widerwillig schüttelte sie mit dem Kopf. Nein, sie wollte ihn nicht sehen. Die Vergangenheit sollte ruhen. Sie führten verschiedene Leben mit anderen Partnern, auch wenn der Zufall es so wollte, daß beide unglücklich in ihren Beziehungen waren. Beide am Rande der Trennung. Was wäre, wenn... sie stoppte bei diesem Gedanken, wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn... Nein, sie konnte, sie wollte ihn nicht sehen, verwarf den Gedanken, schrieb ein eindeutiges "Nein" und sendete das Email auf seinen Weg.
Aber er blieb hartnäckig. Er wollte sie sehen, egal, was passierte, in reiner Freundschaft, einfach so, und ohne Hintergedanken. Es entstand ein Emailwechsel zwischen zwei Menschen, die sich sehr gut zu kennen schienen und deren Gefühle plötzlich so hellauf loderten wie zehn Jahre zuvor. Aber sehen wollte sie ihn nicht. Was, wenn er sich als jemand entpuppte, der sie enttäuschen würde, der sich so sehr verändert hatte, daß all ihre früheren wunderbaren Erinnerungen verblassen und die neuen Gefühle zerstört werden würden. Sie zog es vor, das Geheimnis ein Geheimnis bleiben zu lassen.
Beim Mittagessen im Cafe sprach sie die Sache mit ihrer Freundin durch.
"Ein Treffen ist eine gute Idee", sagte ihr die Freundin.
"Das ist doch nicht Dein Ernst", rief sie entsetzt, die Panik schnürte ihr den Hals zu. "Was ist, wenn er sich total verändert hat? Und was ist, wenn ich mich... wenn ich mich wieder in ihn verliebe?"
Die Freundin grinste nur vielsagend und zuckte mit den Schultern. "Ich glaube nicht." versicherte sie dann aber.
Der Tag des Treffens kam heran. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Prüfend sah sie in den Spiegel, der an diesem Tage häufiger als zuvor zu Diensten sein mußte. Nein, das kleine Mädchen von damals war sie nicht mehr, aber sie war stolz auf den Wandel. Ihre Augen sahen ihr mit bestimmtem Ausdruck entgegen, um ihren Mund lag ein fester Zug, aber sie würde zweifellos keine Enttäuschung für ihn sein.
Als es an der Tür klingelte, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie spürte, wie ihr Puls sich verlangsamte und sie sich wieder in die eiskalte, gesammelte Person verwandelte, die ihn damals vor die Tür gewiesen hatte. Gerade hatte er noch übers Handy angerufen und ihr mit seiner vertrauten Stimme mitgeteilt, daß er nur wenige Minuten von ihr entfernt war. Acht Stunden war er gefahren, um sie zu sehen und das tat ihr gut. Sollte er sich nur für sie anstrengen, er würde trotzdem keinen guten Stand haben. Sie sah ein letztes Mal in den Flurspiegel. "Ich werde mich nicht wieder in Dich verlieben", sagte sie sich ins Gesicht und öffnete die Tür.
Irgendwie landete sie in seinen Armen, spürte seinen weichen Mantelstoff, den Cashmirschal und versuchte mühsam, die Haltung zurück zu erlangen. Sie schob ihn weg, sah ihm nur kurz ins Gesicht und floh ins Innere des Hauses. Von dort lief sie ins Wohnzimmer, welches so angenehm groß war und sicheren Abstand zwischen sie bringen würde. Zögernd folgte er ihr, seine Augen sahen sie mit seltsamer Verwunderung an, ganz so, als ob er etwas suchte. Sein jungenhafter Charme wirkte reifer, aber das Gesicht war bis auf ein paar Linien um die Augen dasselbe geblieben. Alles erschien ihr wie eine Szene aus einem Film, die sie aufgrund ihrer schlechten schauspielerischen Leistung bereits mehrere Male wiederholen mußte, ihre Bewegungen waren gestelzt und im Kopf schwirrte es. Sie deutete auf den Weihnachtsbaum, auf den Garten, auf alles, aber sein Blick folgte nicht ihrem Finger, sondern schien auf ihrem Gesicht verhaftet zu sein. Kaum ein Wort kam über seine Lippen.
"Laß uns gehen", sagte sie nervös.
"Wohin?" fragte er leise.
"Irgendwohin", entgegnete sie trotzig und lief aus dem Wohnzimmer, zog den Mantel über und verließ das Haus. Er folgte ihr langsam.
Sie gingen durch die Stadt spazieren. Sie lachte viel, gestellt natürlich, wich ihm aus, wo sie konnte, verriet kaum etwas persönliches, aber hörte zu, als er ihr von seinem Leben erzählte. "Ich bin nicht glücklich. All mein Erfolg hat mich nicht glücklich gemacht." berichtete er und erschien resigniert und verzweifelt. "Warum bloß hattest Du mich damals verlassen? In der schwersten Zeit meines Lebens. Und das ohne Grund! Du hast mich rausgeworfen und es war Dir sogar egal gewesen, wie ich wieder nach Hause kommen würde. 15 Kilometer nachts im Regen zu marschieren, war nicht gerade angenehm. Ich hatte gehofft, Du würdest mir nachkommen. Aber Du tatest es nicht." Die letzten Worte waren geflüstert, leichte Bitterkeit schwang in ihnen.
Sie lachte laut auf: "Du Armer, soll ich Dich nun bemitleiden? Du warst doch stark genug, oder?" Sie bemerkte seinen verletzten Blick, aber zog es vor, ihn zu ignorieren.
Wir sind zu vertraut, sagte es in ihr. Er küßte sie, sie entzog sich. "Keine privaten Dinge", tadelte sie nur und blieb kühl und unnahbar.
"Bring' mich nach Hause, Du mußt gehen. Dein Weg zurück ist noch so lang", sagte sie schließlich, sah seine Tränen und wandte sich ab.
"Weißt Du, was mich am meisten schockiert", flüsterte er. "Meiner Freundin gegenüber habe ich in acht Jahren Beziehung niemals geweint, warum nur passiert es mir immer bei Dir? Ihr kann ich kaum je länger als ein paar Sekunden in die Augen sehen, aber bei Dir könnte ich es stundenlang. Du hast so wunderschöne Augen."
Sie zuckte mit den Schultern. Daß er seine Partnerin erwähnt hatte, traf sie wie ein Messerstich, nun würde sie gnadenlos sein. Sie verließ sein Auto. "Mach’s gut" waren ihre Abschiedworte, unterlegt mit einem herablassenden Lächeln.
Zu Hause fühlte sie sich benommen, aber sie nahm sich vor, nichts zu spüren, also spürte sie auch nichts. Er rief an, wollte sie wiedersehen. Er vernachlässigte seine Arbeit, vergaß, Mandanten anzurufen, kam mit dem Arbeitspensum kaum noch nach, und das alles nur, weil er unablässig am Telefon hing.
"Ich will nicht so weitermachen. Ich gebe alles auf, wenn Du mir nur ein deutliches Zeichen gibst. Du weißt, daß ich mich für Dich, ganz allein für Dich, entscheiden würde." sagte er.
"Du weißt, daß ich nicht an die Liebe glaube", erwiderte sie nur kühl, zeigte nicht, wie es in ihr drin aussah und wie gern sie ihm geglaubt hätte.
Und immer enger zog sich das Band um sie. Sie erschrak darüber, nahm weiterhin Abstand, wehrte sich gegen seine gefühlvollen Worte mit dem Verdacht, er würde nur aus Rache handeln, da sie ihn damals so eiskalt abserviert hatte. Sie fauchten sich liebevoll an, kämpften spielerisch und am Ende siegte doch immer die Liebe, die so plötzlich wieder zum Leben erweckt worden war.
Das zweite Treffen wurde ihr einfach zu viel. Sie wollte sich nicht in Gefühlen verlieren, sie beide waren gebunden und gehörten in fremde Welten. Sie schickte ihn nach wenigen Stunden wieder nach Hause, aber als die Tür ins Schloß fiel, weinte sie, aber er erfuhr dies nie.
Er schrieb ihr alle paar Stunden ein Email, beteuerte seine Liebe und versüßte ihr die anderen Stunden mit seinen Anrufen. Sie aber wurde abweisender, wollte ihre Gefühle für ihn nicht eingestehen und beschloß schließlich, die ganze Farce zu beenden. Als er sie wieder besuchen wollte, lehnte sie ab, schickte ihn fort und sagte ihm, er solle sich um seine Freundin kümmern.
"Lass' uns bitte ein paar Tage durchbrennen, damit Du Dir klar darüber werden kannst, ob wir eine gemeinsame Zukunft miteinander haben könnten", bat er wiederholt.
Keine Zukunft sei möglich, war ihre Antwort.
"Wenn Du Dich scheiden läßt, mußt Du mir versprechen, daß Du mich heiratest, niemanden sonst. Ich werde alles für Dich aufgeben und Dir folgen, wohin Du willst. Meine Koffer sind gepackt", sagte er. Aber sie reagierte nicht.
Er schrieb: "Warum antwortest Du mir nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich würde so gern bei Dir sein, denke ständig nur an Dich. Vielleicht stimmt es wirklich, daß es nur eine große Liebe im Leben gibt. Wie sagt der Volksmund noch gleich? Man trifft sich immer zweimal... Vielleicht finden wir trotzdem doch noch zueinander, irgendwie, irgendwann?"
"Ich habe Dir bereits gesagt, daß ich nicht an die Liebe glaube." schrieb sie zurück.
Sie löschte all seine Nachrichten, formulierte das allerletzte Email mit dem obligatorischen "Leb' wohl" und führte den Maus-Cursor auf das "Senden"-Kästchen. Ihr Zeigefinger drückte sich nieder, "Nachricht erfolgreich gesendet" erschien auf dem Bildschirm.
Nun war sie sicher. Ihr Herz gehörte wieder ihr selbst. Es fühlte sich so angenehm taub und leer an. Sie öffnete das Fenster und atmete die kalte Luft ein. Irgendwie, irgendwann, hallte es in ihrem Kopf.