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Irgendein Sonntag im November

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20.02.2002
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Irgendein Sonntag im November

Mit einem eleganten Sprung durchbrach sie die Luft, glaubte scheinbar für einem kurzen Moment zu fliegen, fühlte nichts anderes als die Musik, die sie und ihren Tanzpartner umgab, atmete tief ein, um zu spüren, dass sie lebt.
Anmutig wie eine junge Schwalbe würde sie durch die Lüfte des Saales fliegen, hatte ihr Vater, der Stolz in seinen Augen, gesagt, anmutig wie eine junge Schwalbe, als er die junge Tänzerin zum ersten Mal am Nationaltheater sah. Sie hatte gelacht, selbst ein bisschen stolz, denn sie wusste, sie war beinah wie die Schwalben am Haus ihrer Eltern, denen sie als junges Mädchen stundenlang zugesehen hatte. Und immer, wenn sie sich am Ende einer Vorstellung vor dem applaudierenden Publikum verneigte, wusste die junge Frau, dass sie lebte. Sie glaubte sich unsterblich.

Hinter den zugezogenen Gardinen sah der herbstliche Laubfall aus, wie die Bilder des jungen Malers, der einst um ihre Hand angehalten hatte, damals im Frühjahr des Jahres, als sie an das Nationaltheater gegangen war. Ein verrücktes Spiel roter und gelber Farbflecken, die vom Wind aufgewirbelt vor ihrem Fenster tanzten, fast wie sie, zu ihrer besten Zeit.
Die faltige Hand greift nach dem Bilderrahmen, der das Foto eines gutaussehenden Mannes umschließt. An den Blick seiner Augen erinnert sie sich noch genau, wie könnte sie seine Augen vergessen, oder seine Stimme, sein Lächeln... . Schnell stellt sie das Bild zurück, denn ihre Erinnerungen, sind sie auch das einzige, was blieb, sind manchmal wie Nadelstiche. Sie lacht, nicht aus Fröhlichkeit heraus, und denkt, was für seltsame Gedanken einem manchmal kommen können. Sie hat zuviel Zeit dazu, zum Nachdenken über das was einmal war, was sie für viele Jahre glücklich machte, und nicht glauben ließ, dass es einmal zu Ende gehen könnte. Was ist aus mir geworden, dachte die Frau, deren Atem nur mühsam die Luft des kleinen Zimmers aufsog. Ganz einfach ist es, alt ist sie geworden.
Das alt werden, war das Drama ihres Lebens, dachte sie.
Eine Entwicklung die sie völlig überrascht hatte. Die Jahre gingen so schnell vorbei, dass sie nicht die Zeit gehabt hatte, das zu fassen, was ihr damals das Gefühl von Leben gab. Wie ein Wasserfall in die Tiefe rast, so rasten die Jahre dahin, und niemand hatte einen Staudamm gebaut, um das überfüllte Leben das sie führte, vor dem Meer zu bewahren. Einem Meer aus Endlichkeit, indem nicht nur ihr Leben, sondern Tag für Tag auch die Erinnerungen verschwanden.
Stück für Stück verlor ihr einst glanzvolles Leben an Bedeutung, an Bedeutung vor allem für sie selbst. Der frühe Tod ihres Mannes, ihr letzter Auftritt, bei dem ihr der Applaus ungewohnt leise schien, schließlich der Ruhestand und die Jahre im Heim. Wer würde diese alte Frau im Rollstuhl, die im nahegelegenen Park mit versteinerter Miene dem Spiel der Vögel zusieht, für einen ehemaligen Star des Nationaltheaters halten, hatte sie einst die Schwestern der Seniorenpension sagen hören. Und sie hatten recht. Von dem was sie einst war, ist nichts geblieben als ein paar verblasste Fotos.
Langsam öffnet die alte Frau das Fenster und schaut dem Spiel des Laubes und der Vögel im kühlen Herbstwind zu. Tief holt sie Luft, möchte die Freiheit der Windes in sich aufnehmen.
Die Leere jedoch bleibt.

Ein einsamer Sonnenstrahl trifft auf den kühlen Stein, der vom Schatten eines alten Baumes beinah ganz verdeckt wurde. Weiter oben jagen Schwalben mit den Winden spielend durch den Himmel. Ein Spaziergänger bleibt vor dem verlassenen Grabstein stehen. Ob er sich fragt, welcher Mensch einst den kaum noch lesbaren Namen auf dem grauen Steinblock trug? Es wird kälter und so verlässt auch er den alten Friedhof, an irgendeinem Sonntag im November.

[Beitrag editiert von: Salinger am 21.02.2002 um 15:44]

 

Hallo svartdrage,

danke für das Lob. Eine nette Homepage hast du. Nicht nur wegen der vielen Drachen. :cool:

 

hi Sal!
Die Atmosphäre, die Du da erschaffst, ist beeindruckend deprimierend. Aber leider nicht so selten, fürchte ich... Die alte Frau hat sicherlich ein schönes Leben gehabt. Dann sollte es doch auch im Alter irgendein vergleichbares Leben geben.... jedenfalls schön und treffend erzählt.

an den ersten 2 Absätzen fällt mir auf: 2 mal Luft etc... zu viel. Genauso wie das Wort "Schwalbe" ... und es muß heißen: den Stolz in den Augen ( nicht der ), finde ich.

Das alt werden, war das Drama ihres Lebens, dachte sie.
meine Version wäre eher: Das Altwerden war das Drama ihres Lebens, dachte sie.

Lieben Gruß,
Frauke

 

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