Irezumi
Die Nadel sticht tief in meine Haut und ich fühle, wie sie langsam meinen Körper entlang fährt. Sie schleicht in jeden verborgenen Winkel meines Körpers, überquert die größten, angespanntesten Flächen, stößt behutsam vor in jede sonst verdeckte Höhle. Sie taucht ein und ich spüre ihren wunderschönen Schmerz. Ich liege auf dem Bauch und schließe meine Augen. Ich fühle Harukis Hände auf meiner Haut, fühle den Rausch, den mein Körper durchflutet. Ich komme seit zwanzig Jahren hier her, liege vor Haruki und schlafe ein, schlafe ein von dem Schmerz, den er mir bereitet.
Ich liege hier vor ihm und bewege mich nicht. Ich liege vor ihm auf dem Boden, seit zwanzig Jahren und vertraue ihm und fühle den roten Drachen, fühle seine mächtigen Schwingen, seinen Schweif, seine weichen, schlangenartigen Bewegungen, fühle wie er fliegt, wie er dahingleitet durch das Feuer, durch den Gott des Windes und des Blitzes und ich fühle die Wärme meinen Körper durchrauschen, schließe meine Augen und sehe wie mein Drache seine Flügel ausbreitet und über mich hinwegschwebt, seine Flügel über die Meere schlägt und ich stelle mir vor, wie ich mich auf ihn setze und auf ihm dahinreite, über die roten Meere aus Feuer...
Ich fühle den Wind auf seiner schuppigen Haut, fühle die Luft, mein Leben und Harukis Atem auf meinem Rücken...
"Nicht schlafen!" lacht Haruki und rüttelt mich wach. Ich lächle müde und lege meinen Kopf auf die andere Seite, schließe wieder meine Augen, höre Harukis alte Stimme, aber wirklich wahrnehmen tue ich sie nicht.
"Das Letzte ist gut verheilt!" teilt er mir mit, aber ich murmle nur etwas, was ich selbst nicht verstehe und schlafe vor ihm wieder ein.
Als ich wieder aufwache, liege ich allein im Raum. Ich reibe meine Augen wach und richte mich vorsichtig auf. Haruki lacht mich aus dem Nebenzimmer an und hebt seine Tasse.
"Bleib liegen, Oki bringt dir gleich Tee!" ruft mein alter Freund aus dem Nebenzimmer und schmunzelt mit seinem zahnlosen Mund.
"Ja, wir sind alt geworden!" bemerke ich und wir lachen beide.
Oki, seine Frau, bringt mir Tee und ich bedanke mich wie ich es seit zwanzig Jahren mache.
"Hier, alter Mann!" lächelt sie frech und stellt die Tasse vor mir auf dem Boden ab. Während ich an dem heißen Tee nippe, beobachte ich Haruki wie er sich ein Stück Brot in den Mund schiebt und ohne Zähne daraufherumkaut. Sein Zahnfleisch ist mittlerweile so hart geworden, daß er sogar Brot beißen kann, wenn er es vorher ausreichend einspeichelt. Ja, wir sind alt geworden, aber in unsren Adern fließt noch junges Blut!
Nach dieser kleinen Pause lege ich mich wieder auf den Bauch und Haruki macht sich weiter an die Arbeit. Oki zündet die Lichter an, in der selben Reihenfolge wie seit zwanzig Jahren. Zuerst die Laterne neben Harukis Utensilien, dann die etwas größere über mir, dann die im Nebenzimmer und dann geht sie hinaus und zündet die Laterne an, die dann durch das Fenster zu uns hereinscheint.
Haruki desinfiziert sein Messer und rasiert mich damit an der letzten Stelle meines Körpers. Er säubert auch diese Stelle und beginnt sie mit einem Fettstift einzureiben. Er nimmt das Papier, auf das er sein letztes Motiv spiegelverkehrt aufgezeichnet hat und drückt es jetzt auf meine Haut. Die Konturen meines letzten Tattoos sind auf meiner Haut abgebildet. Seit zehn Jahren hat Haruki keine Schablone mehr für mich verwendet, aber so langsam beginnt auch er zu zittern...
Er beginnt nun die Nadeln an die Nadelstange zu löten und hängt sie in die Tätowiermaschine ein. Mit dem Holzspatel trägt er Vaseline auf meine Haut auf und anschließend taucht er die laufende Maschine in die Farbkappen. Er fängt nun an die Außenlinien nachzuziehen und sticht mir dabei in die Haut. Und da ist wieder der sanfte Schmerz, ohne den ich nicht mehr leben kann. Ich bin süchtig! Süchtig nach der Nadel!
Mit Seifenwasser reinigt Haruki immer wieder meine gereizte Hautstelle, spritzt mir dabei auf den Kopf, damit ich nicht wieder einschlafe. Ich muß lachen, aber ich darf mich nicht bewegen. Ich versuche an Hand von Harukis Nadelführung zu erkennen, was sich auf meinem Rücken abzeichnet. Ich erinnere mich an mein erstes Tattoo auf dem Unterarm. Damals war ich vierzig Jahre alt. Am Samstag werde ich sechzig und dann wird mein Bodysuit endlich fertig sein.
Ich betrachte mein erstes Tattoo auf meinem Unterarm.
"Es ist blasser als die anderen!" sage ich.
"Was meinst du, alter Freund? Noch kann ich deine Gedanken nicht lesen!" lacht er und bespritzt mich mit Seifenwasser.
"Ich meine dieses Tattoo hier!" und Haruki hört auf zu tätowieren, um sein erstes Werk auf meiner Haut zu betrachten.
"Es ist zwanzig Jahre alt, mein Freund! Ich kann noch mal drüber gehn, wenn du willst!" schlägt er vor und setzt wieder auf meinem Rücken an.
"Nein!" antworte ich, "Laß es so. Es ist wunderschön so!"
Haruki lächelt. Ich sehe es zwar nicht, aber ich spüre es. Sein erstes Motiv für mich war eine zusammengerollte Schlange. Im Laufe der Jahre entstand daraus ein Bild und die Schlange saß auf einmal auf einem Ast und aus diesem Ast entwickelte sich ein Geäst, eine Baumkrone, ein Stamm samt den Wurzeln, die meine Beine hinunter laufen. Im Blätterwerk sammeln sich verschiedene Geschichten, verschiedene von einander unabhängige Motive, aber heute glaube ich mein Bodysuit zu verstehen.
Es ist Samstag. Ich komme gerade von Haruki und laufe zurück in mein Haus. Ich wecke überglücklich meine Frau Nariko, mein alter Freund hat es doch noch geschafft.
"Es ist gleich Mitternacht! Wo warst du? Du hattest Besuch, aber das interessiert dich wohl nicht?" schreit mich meine Frau an, doch ich lächle nur und zupfe ihre weißen, zerzausten Haare zurecht.
Sie stößt mich weg: "Was hast du? Bist du betrunken? Du bist doch betrunken!" schreit sie mich an und kneift ihre Augen zusammen, doch ich lächle nur in einem fort, was sie noch wütender macht.
"Du bist betrunken! Das rieche ich! Das rieche ich von hier drüben!" Ich beginne mich auszuziehen.
"Was tust du da?" schreit sie in den höchsten Tönen und beginnt mit Kissen nach mir zu werfen, aber ich ziehe langsam mein Hemd aus, schnüre meine Hose auf, ziehe auch die aus und so weiter, bis ich vollkommen nackt vor ihr stehe.
"Willst du jetzt etwa Sex?" Wir müssen beide lachen und ich schaue die Frau an, die ich vor dreißig Jahren geheiratet habe. Sie schaut auch mich an und lächelt mit ihren alten, faltigen Augen.
"Komm her, alter Mann!" sagt sie behutsam und streicht die Decke neben sich glatt.
"Laß mich deinen Körper betrachten!" Und sie setzt sich zu mir auf meinen roten Drachen und wir reiten auf ihm über die glühenden Meere aus Feuer hinein in Harukis Welten...