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Irasshaimase - tritt ein und bleibe!
Irasshaimase! Treten Sie herein und bleiben Sie- herzlich Willkommen auf Japanisch!
Tokyo, ein Sonntag im Dezember 1988. Ich betrat den Eingang des Luxuskaufhauses „Mitsukoshi“ auf der nicht minder prunkvollen Einkaufsmeile „Ginza“. Ginza, das stand für Designer-Tempel, für Mode-Päpste, für unerschwinglichen Schmuck aus echten Perlen aus der japanischen See, für verfeinerte Delikatessen, für riesige, Tag und Nacht blinkende Konsumpaläste, für Kunstateliers der Avantgarde, für Gourmet-Restaurants mit dekadenten Preisen und die ganze Schickeria, für die Kanemochi, die „Geldfesthalter“, also schwerreiche Wirtschaftsmagnaten und ihren außergewöhnlich eleganten Lebensstil.
Ich hingegen war nur eine deutsche Austauschstudentin mit ca. 2000,- DM Einkommen im Monat, wovon 700,- DM für ein winziges Zimmer in Uninähe ohne eigenes Bad (ich musste im öffentlichen Badehaus baden) und Kochgelegenheit und Toilette im Gang draufgingen. Davon konnte man in dieser damals teuersten Metropole der Welt nur relativ bescheiden leben. Ich aß in der Unimensa, in Nudelsuppenküchen, und nur selten, wenn ich von meiner Firma oder einem Professor eingeladen wurde, die teuren Sushi oder Sashimi oder andere Köstlichkeiten der japanischen Küche. Heute war ich hierher gekommen, in amerikanischen Jeans und italienischem Lambswool-Pulli von zuhause mitgebracht, mit in Japan als einzig erschwingliche Schuhe in meiner Riesengröße 39, in Kunstlederpumps und mit einer seltsamen Frisur, da ich mich vor einem halben Jahr hatte überreden lassen, als Frisurenmodell herzuhalten. Ich wollte O-Miyage kaufen, Gastgeschenke, für meine Homestay-Gastfamilie auf Kyushuu, der südlichsten der japanischen Inseln, wo ich Neujahr „echt Japanisch“ feiern wollte. O-Miyage sind fast schon ein Volkssport in Japan- wann immer einer eine Reise tut, und sei es nur von Tokyo nach Osaka, in die Kansai-Region, konnte man an jedem Bahnhof auf der Strecke bei fliegenden Händlern auf dem Bahnsteig regional typische kunsthandwerkliche oder kulinarische Spezialitäten kaufen, die dann, aufwändig verpackt, mit der Bemerkung „Tsumaranai mono desu ga“ (es ist nur eine unbedeutende Kleinigkeit) unter Verbeugungen dem Gastgeber überreicht wurde. Der Gastgeber würde das O-miyage dann dankend entgegennehmen und es wie achtlos auf die Seite stellen. Denn es galt als äußerst unhöflich, Geschenke vor den Augen des Schenkenden auszupacken. Er könnte ja sein Gesicht verlieren, falls der Beschenkte bei Enttäuschung oder Amusement nicht seine Mimik beherrschen könnte.
Nun trat ich also in diesen Luxuspalast ein, wo alles Eleganz und Sauberkeit und Stilgefühl ausströmte. Keine Wühltische am Eingang wie in Deutschland, keine auffälligen Kaufhausdedektive, die misstrauisch die notorisch der Kleptomanie verdächtigten Kunden beäugten. Nein, ich trat auf die glitzernde, scheinbar bis in den Himmel reichenden Rolltreppe zu, vor ihr standen zwei japanische Damen in einer Art Stewardess-Uniform in den Firmenfarben mit Kostümchen und einem kecken Hütchen auf, verbeugten sich ohne Unterlass und begrüßten jeden einzelnen Gast mit einem strahlend lächelnden „Irasshaimase“- das bedeutet wörtlich übersetzt soviel wie „tritt herein und bleibe“, aber wird in Japanisch-Büchern meist nur mit „Herzlich willkommen“ übersetzt. Dann hielten sie fragenden Gesichtsausdrucks einen Familien-Flacon mit dem neuesten Designer-Parfum hoch, und wenn man nickte, wurde man damit eingenebelt.
Dieses „Irasshaimase“ kannte ich bereits von meinen Nudelsuppenküchen, meinem kleinen Gemüse- oder auch Reishändler oder vom Frisör oder Drugstore und ebenso vom öffentlichen Badehaus. Ich empfand es immer als sehr schöne Geste nicht einfach nur mit einem herzlosen „Hallo“ oder „Guten Tag“ begrüßt zu werden, sondern mit diesem viel persönlicheren Ausdruck, den man ja normalerweise sagte, wenn ein Gast zu einem nach Hause zu Besuch kam – was mir allerdings noch nicht vergönnt gewesen war bis dahin, denn die meisten Japaner, auch wenn sie relativ gut gestellt sind, wohnen in winzigen, unmodernen, bis oben hin mit Elektronik und - je nach Neigung- mit Büchern, Antiquitäten oder anderen kunsthandwerklichen Erzeugnissen oder einfach nur Krempel vollgestopften Behausungen, wo man auf dem Boden knien muss und ebenso dort schlafen, so wie ich in meinem Studentenzimmer. Daher war es äußerst selten der Fall, dass man zu den Japanern privat nach Hause eingeladen wurde. Man ging dann eher in ein traditionelles, hier würde man sagen „gutbürgerliches“ Spezialitätenrestaurant (In Japan gibt es je nach Speise, die hergestellt wird, unterschiedliche Lokale, man bekommt eigentlich nie Nudelgericht neben Sushi und Fleischgerichten, wie das berühmte Shabu-Shabu-Fondue, in ein und demselben Lokal.) Dort war reihum einer der Gruppe – meist Arbeitskollegen mit oder ohne Kunden – für die Gesamtrechnung verantwortlich- „getrennt bezahlen“ war ein Unding in Japan. Einer, meist der Chef, war der Gastgeber und wählte auch normalerweise das mehrgängige Bankettmenü für alle aus. Mit meinen Uni-Kollegen gingen wir meist in einfache, traditionelle „Sakaya“ , also Kneipen, wo es neben Hochprozentigem, va. Bier, Whisky und Sake, auch immer kleine Snacks wie gebratenen Fisch oder getrockneten Thunfisch oder Ähnliches gab. Auch hier zahlte jedes Mal ein anderer die Gesamtrechnung. Es wurde auch nicht hinterher ihr Betrag von den anderen an ihn zurückerstattet. Ich fand das ein sehr schönes gemeinschaftliches Gefühl, was dadurch entstand – sozusagen jeder war mal für alle verantwortlich und auch durch geschickte Kommunikation dafür, dass alle, auch die Schüchternsten, gut integriert wurden und sich wohlfühlten, und dass hinterher alle sich „wohl fühlten“. „Ki ga ii“, (die Energie ist gut) sagen die Japaner, und dieses „Ki“ ist ein Wort für die Lebensenergie, die laut den Japanern im Bauch, im Solarplexus sitzt (darum auch „Harakiri“ – den Bauch schneiden), und die im besten Fall stets unblockiert gut durch den ganzen Körper, und – wie auch vom Feng-Shui bekannt – den ganzen Raum durchfließen sollte.
Dieses Wohlgefühl in der Gruppe, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Nachbarschaft, im Unijahrgang, in der Firma und beim Golfclub (In Toyko üben Tausende – in der Mittagspause oder abends bei Flutlicht -auf Hochhausdächern nur immer wieder den Abschlag in übergroße Netze, da die echten Golfplätze zu weit draußen liegen und aufgrund der hohen Immobilienpreise unerschwinglich sind) ist der Kernsinn der japanischen Gesellschaft – ohne Teil einer harmonischen Gruppe zu sein und sich ihr meisterhaft anzupassen, kann keiner in Japan überleben, sie wirkt identitäts- und sinnstiftend, und auch im Berufs- und Wirtschaftsleben, ja sogar bei Ärger mit den Behörden, hilft es immer, wenn man ein bisschen „nemawashi“ vorher betrieben hat, „Würzelchen pflegen“, das bedeutet, man hat eine gegenseitig verbindliche Beziehung zum Gegenüber aufgebaut, beide sind wie in einem Feudalsystem einander verpflichtet, als Resultat hat man dann „Kone“ (connections), und dann geht alles wie von selbst. Ob man an der „richtigen Uni“ war und dort im selben Uniclub und der Chef, der mit einem das Vorstellungsgespräch führt, ebenso, gibt den Ausschlag, ob man einen Arbeitsplatz bekommt, und nicht, welche Examensnote man abgelegt hat in welchem Fach.
Aber zurück zu dem gastfreundlichen Luxuskaufhaus: Ich fuhr also, mit leise säuselnder, allerdings japanischer Kaufhausmusik im Ohr, diese lange Rolltreppe hoch und kam nun nach der deutlich und langsam auf Japanisch erklärten Information in die Abteilung für Tisch- und Bettwäsche, denn ich wollte ein paar Stofftaschentücher, Made in Germany und mit der bei Japanerinnen sehr beliebten Lochstickerei, für meine Gastmutter kaufen. Taschentücher sind ein hervorragendes O-Miyage, auch für Herren, den sie gibt es in allen Formen und Farben und von allen Designern, Heimtextilfirmen aus Deutschland, China oder Polen, und sie werden keineswegs zum Naseschneuzen mit sich geführt, sondern stets säuberlich gefaltet in der Brust- oder Hosentasche aufbewahrt, um dann sich entweder bei schwüler Sommerhitze die Stirn damit abzutupfen, oder in der Monsunregenzeit im Frühsommer den Regen aus Gesicht, Haaren und von den Schultern zu entfernen. Wenn man husten oder niesen muss, hält man sie sich vors Gesicht, und NIEMALS, einfach NIEMALS DÜRFEN SIE IN GEGENWART EINES JAPANERS, v.a. beim Essen, geräuschvoll oder überhaupt die Nase putzen!
Sie müssen dazu – auch wenn Sie erkältet sind – sich zum Waschraum begeben und dies diskret erledigen. Apropos erkältet – im Winter, wenn die Grippezeit naht, werden Sie viele Japaner mit einem Einweg-Mundschutz in der Bahn sehen – die Japaner sind der Meinung, dass man erstens, wenn man diese lästigen Erreger hat, seine Mitbürger vor Ansteckung so schützen kann (das glaubten sie ja neulich auch bei Fukushima, dass ein feuchtes Tuch vor dem Mund die Strahlung mindere!) und zweitens würde man schneller gesund, weil die Viren in der Wärme nicht überleben könnten. Ersteres ist natürlich ein sehr netter Zug, wenn man da dran denkt, wie einen in Bus und Bahn hier in Deutschland die Grippekranken oft herzhaft anhusten und anniesen, ohne die Hand zumindest vor den Mund zu nehmen!
Also, ich wollte meiner Gastmutter eine kleine Aufmerksamkeit mitbringen, nichts zu Kostbares, da hätte ich sie nur beschämt. Ich blickte suchenden Blickes in der großzügigen, aber vielfältigen Abteilung mit gut gefüllten Regalen herum, fand mich aber nicht zurecht.
Da trat aber sofort eine Verkäuferin auf mich zu – auch sie in einer Art Uniform, zumindest trug sie eine Bluse, eine Weste und einen Rock in den Firmenfarben und mit dem Logo bestickt, und fragte, ob sie mir helfen könnte. Da erwiderte ich das, was man bei Privateinladungen nach Hause auf das „Irasshaimase“ sofort anworten muss: „O-jama shimasu“ = ich bereite Ihnen Umstände. Ich finde auch diese Antwort des Gastes sehr aufschlussreich, die im Grunde nur eine Floskel ist, aber sie analysiert doch so feinsinnig, dass man Verständnis haben sollte für den Gastgeber, der sich eventuell mit einer Anschaffung eines westlichen Essbestecks oder anderer Ausstattungsgegenstände in Unkosten gestürzt hat und ja auch noch Stunden in der Küche zugebracht hat, außerdem natürlich vorher sein Haus auf Hochglanz poliert hat und eventuell sogar zusätzliche Hausschlappen für den Eingangsbereich in einer westlich riesigen Größe gekauft hat.
Denn auch, dass JEDER, der ein japanisches Haus oder Restaurant betritt, unbedingt im Flur seine Schuhe ausziehen und in bereit gestellte Hausschlappen schlüpfen muss, finde ich, zeigt den Respekt, den man vor dem Besitz und dem Innenleben des Gastgebers hat.
Denn Schuhe (da aus Leder), Körpersäfte und Blut gelten in Japan als rituell unrein, weshalb auch diese Berufsstände oder Zustände (Kürschner, Totengräber, Kranke, besonders Behinderte) quasi Unberührbare sind, die niemals in der japanischen Gesellschaft integriert werden. Niemals würde ein „nicht unreiner Japaner“ eine Frau aus dieser Klasse heiraten, sie können auch niemals eine andere, seriöse, angesehene Arbeit bekommen.
Die Verkäuferin führte mich zu dem Regal und befragte mich weiter, welche Art Taschentücher ich kaufen wolle – moderne, traditionelle japanische oder ausländische. Als ich sagte „Doitsu“ = Deutsche, da leuchteten ihre Augen und sie zog ein paar Packungen (in Plastik –Schachteln sauber eingepackt und kunstvoll gefaltet) heraus – sie kannte alle Vorzüge und Besonderheiten der einzelnen Textilfirmen und konnte mir sogar etwas zu den aufgestickten Motiven erzählen. Neben Blumen und Vögeln seien auch Motive deutscher Märchen sehr beliebt, gestand sie mir. So weit wollte ich dann aber doch nicht gehen, sondern wählte welche mit weihnachtlicher Tannenzweig-Bestickung mit Kerzen – denn Japaner feiern zwar kein christliches Weihnachten, aber die japanische Zwergkiefer gilt als glücksbringende Opfergabe zu Feiertagen am Tempel und da kam ein naher Verwandter, der Tannenzweig, da noch dazu typisch Deutsch – gerade richtig zum höchsten religiösen Fest, dem Neujahrsfest.
Dann fragte sie, ob ich noch weitere Wünsche hätte, und ich erklärte ihr, dass ich ein schönes Spielzeug für einen fünfjährigen Jungen suche – vielleicht einen etwas größeren Bagger mit Batterie-Antrieb oder Ähnliches. Ich dachte nun, sie würde mir den Weg zurück zur Rolltreppe erklären und mir die Etage nennen, nein, aber weit gefehlt, sie sagte „Tsuite-Kudasai“- und winkte mir, mitzukommen. Sie ging mit mir einen langen Querbau auf der selben Etage entlang, wo ich aus dem Augendrehen und Staunen ob der exotischen oder auch eleganten Artikel kaum herauskam, fuhr mit mir eine weitere Rolltreppe hoch und übergab mich dann dort ihrer Kollegin, die mich auch wieder mit „Irasshaimase“ und Verbeugung begrüßte, ganz so, als sei ich gerade erst direkt aus Deutschland dort angekommen, nur um ihr unbedeutendes Kaufhaus mit meiner exotischen Anwesenheit zu beehren.
Ich erläuterte ihr meinen Wunsch, und sie führte mich in die Spielwarenabteilung, wo es überall blinkte und hupte – Japaner lieben elektronische Dinge, auch für Kinder, und dass die Tamagotchi in Japan erfunden wurden– im Grunde ein elektronisches Spielzeug, bei dem dem Kind eine echte Beziehung und Verantwortung wie für ein lebendiges Haustier vorgegaukelt wird, wundert mich nicht.
Ich wählte dann einen Feuerwehrwagen mit einer Mannschaft aus kleinen Feuerwehrleuten und ausziehbarer Leiter von Lego und ließ mich zur Kasse begleiten. Hier konnte ich natürlich auch meine Taschentücher bezahlen. Die Artikel wurden in echter japanischer Origami-Falttechnik asymmetrisch kunstvoll eingepackt, und auch das japanische Teegebäck, das ich noch spontan an der Kasse erstand, wurde ebenso kunstvoll in ein wertvoll erscheinendes Etwas verwandelt mit echtem, japanischen Papier mit typisch japanischem Design. Die Artikel wurden mir dann noch in große, stabile, aus Hochglanz-Papier bestehende Tragetaschen gepackt (die man natürlich nicht bezahlen musste) und ich wurde mit dem Spruch unter Verbeugungen an der Rolltreppe verabschiedet: „Vielen Dank für Ihren Einkauf. Bitte beehren Sie uns bald wieder.“
Und ich schwebte regelrecht auf der Rolltreppe nach unten, vorbei an den Empfangsdamen an der Rolltreppe, die mir auch etwas mit auf den Weg gaben zum Gruß, hinaus auf die Straße voll wimmelnder, elegant gekleideter Menschen im Nachmittags-Rushhour.
Also, hier ist wirklich der Kunde nicht nur König, dachte ich bei mir, sondern hier ist jeder Mensch ein willkommener Gast!
Fünf Monate später sollte ich aber feststellen, dass es mir dennoch unmöglich sein sollte, mich in Japan als mehr als als „fremder, willkommener Gast auf Zeit“ zu fühlen – denn so schön dieser respektvolle, höfliche Umgang überall im täglichen Leben war – das Gefühl, richtig dazu zu gehören, einer Person dort ganz persönlich nahe zu stehen, schien fast unmöglich, egal, wie sehr man in die japanische Kultur und ihre Verhaltensweisen eintauchte.