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Inventar
Siehst du das ovale Bild, das da auf dem Tisch steht, an die Wand gelehnt, unfertig, mit Farbklecksen auf dem noch leeren Hintergrund? Das ist von mir. Da habe ich versucht, Maria zu malen - nicht weil ich gläubig wäre oder auf Kitsch stünde. Ich finde sie faszinierend, weil sie die Überfrau ist, Hure und Heilige, Geliebte und Mutter, alles vereint in dem immer gleichen Bild einer bestimmten Frau, seit zweitausend Jahren.
Früher habe ich oft mit meinem Papa gemalt. Er malt schon immer viel und wenn ich Zeit mit ihm verbringen wollte, echte Zeit, um seinetwillen, dann setzte ich mich zu ihm und bat ihn, mir zu zeigen, wie es geht. Darin ist er aufgegangen, das hat ihn glücklich gemacht und deswegen hat es mich glücklich gemacht, obwohl ich eigentlich zu ungeduldig dafür bin.
Dieses Bild hier zum Beispiel, das üppige Ölgemälde, ist von ihm. Es ist eine Kopie von Macke. Er hat es mir geschenkt, als ich von Zuhause ausgezogen bin und es hat mich durch alle meine Wohnungen begleitet. Es war immer ein Stück Zuhause und sollte es einmal brennen, würde ich nur dieses Bild retten. Wenn ich Glück hab, dann hängt es noch in meinem Zimmer im Altenheim. Dabei mag ich das Motiv nicht mal besonders.
Dieses kleine hier, mit der Dame bei der Morgenwäsche, hat er mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Wir Kinder bekamen alle eins. Er hatte drei Stück gemalt, drei ganz unterschiedliche, und wir durften uns jeder eins aussuchen. Am Ende wählte jeder genau das aus, von dem Papa es vermutet hatte. Es war ein wunderschönes Weihnachtsfest.
Diese Zeichnung hier zeigt meinen Opa. Ich war noch ein Teenager, als er starb, und ich wünschte, ich hätte früher gewusst, dass mir kaum noch Zeit mit ihm blieb, dann hätte ich ihm gerne noch so viele Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie es war, ein Nazi zu sein.
Irgendwann, lang nach seinem Tod, fand ich eine Kiste mit Erinnerungsstücken und Fotos von ihm. Fotos aus dem Krieg, Nazidokumente neben einem SPD-Mitgliedsausweis, ein Mutterkreuz, von dem keiner weiß, wem es gehören könnte. Man kann auch ein lieber alter Großvater sein, der seinen Enkeln Caro-Kaffee kocht und fingerdick Butter auf die Brötchen schmiert, auch wenn man früher Schießbefehle gegeben hat. Niemand ist sicher davor, ein Monster zu werden. Ein ganzes Leben in einer kleinen Kiste. Viele der Fotos sind bei einem Hochwasser verschütt gegangen, deswegen ist die Zeichnung von ihm so wichtig. Er ist darauf nicht einmal gut getroffen, aber sie erinnert mich an ihn. Besonders mag ich die fünf einzelnen Haare, die ihm am Hinterkopf zu Berge stehen, die kleinen Rebellen.
Der türkisfarbene Tisch dort in der Ecke ist von meiner Oma. Es ist ein original Biedermeiertisch aus schönster Kirsche. Aber meine Oma hat die Beine unten ein Stück abgesäbelt und ihn türkis lackiert. Ich hab ihn gern, auch wenn er für mich zu niedrig ist, um daran zu sitzen. Darauf steht eine Lampe aus den zwanziger Jahren, die ich einmal bei meinen Eltern im Keller gefunden habe. Ein Lampenschirm aus Messing, an dem gläserne Gehänge baumeln - wie Makkaroni sehen die aus! Ich mache sie selten an, weil sie so blendet, aber ich liebe das alte Stoffkabel und ich stelle mir gerne vor, was sie schon alles beleuchtet hat, in ihrem fast hundertjährigen Leben.
Du hast recht, die Blumen in der Vase daneben sind uralt, aber ich mag verwelkte Sträuße am liebsten. Du findest sie überall in meiner Wohnung. Vielleicht bin ich ein bisschen morbide.
Dieses kleine Papierkunstwerk, das dort am Bücherregal hängt, ist ein Geschenk von einer Schülerin. Keine meiner Schülerinnen, ich kenne nicht einmal ihren Namen, ich habe dort nur eine Vertretungsstunde gegeben, in der Flüchtlingsklasse. Und da hat mir dieses kleine, fröhliche Flüchtlingsmädchen etwas aus Papier gebastelt und es mir geschenkt und das hat mein Herz so berührt, dass ich es niemals wegwerfen kann.
Ich habe viele Bücher und ich hätte gerne noch mehr. Ich habe irgendwo mal das Zitat gelesen: „Wenn jemand ein Buch zur Hand nimmt und anfängt zu lesen, dann sollte er das mit dem festen Vorsatz tun, jedes Buch zu lesen, das es auf der Welt gibt.“ Am liebsten lese ich Familienepen oder Abenteuerromane, vor allem die alten Klassiker. Und Bücher über die Seefahrt. Ich könnte wahrscheinlich gar kein Schiff betreten, davor hätte ich viel zu viel Angst, aber wenn ich lese, kenne ich keine Angst. Dann kann ich alles tun, auch im Masttopp hoch über den Wellen schaukeln oder mit Quiqueg nachts auf dem Achterdeck Pfeife rauchen. Mein Lieblingsbuch ist Moby Dick und mein Lesezeichen ist ein Strafzettel.
Hier liegen überall kaputte Glühbirnen herum, ich mag sie nicht wegtun, ich weiß nicht warum, ich finde sie schön, ihre Form und ihre Zerbrechlichkeit. Die Schubladen in der Kommode dort sind alle leer. Ich habe nichts, was ich in Schubladen verstecken möchte. Dafür besitze ich dieses altmodische Postregal aus der Stadtverwaltung, in dessen offenen Fächern ich meinen Papierkram aufbewahre. Natürlich ist es denkbar unsortiert und jeden Tag schaue ich auf das Chaos darin, aber ich liebe den grün-roten Lack, der schon abblättert, und den Jahrzehnte alten Staub, der darin klebt.
Mein Türsummer funktioniert nicht, das hat er noch nie, deswegen benutze ich einen kleinen Fallschirm, er liegt dort auf der Kommode, siehst du? Daran hängt ein Schlüssel und wenn jemand klingelt, werfe ich ihn an dem Fallschirm aus dem Fenster. Ich mag das: Jeder, der rein kommt, hat selber den Schlüssel zur Wohnung, als wäre er hier auch zuhause.
Diese Wand dort ist die einzige Wand, die ich gestrichen habe. Die Farbe soll angeblich das Grün der Freiheitsstatue sein und es war der erste Versuch, diese Wohnung zu meiner eigenen zu machen. Ich habe das ganz allein gemacht, das war wichtig für mich. Damals saß ich hier noch mit gebrochenem Herzen zwischen all den Kartons und bevor ich anfing zu streichen, probierte ich die Farbe aus, indem ich riesengroß mitten auf die Wand das Wort „Liebe“ schrieb. Ich habe es danach überstrichen, aber irgendwo darunter steht es immer noch. Liebe.
Meinen Nachbarn, den du in der Wohnung über mir hörst, kenne ich nicht. Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich habe mich an seine Gegenwart gewöhnt, weil ich jeden seiner Schritte höre, wie einen Hausgeist. Und wenn er niest, sage ich „Gesundheit“, als ob er es hören könnte.
In meiner Küche dort ist am hinteren Ende ein kleines Kabuff. Meine Mama findet das total heimelig, sie meinte, so eines gäbe es in allen diesen Fünfziger-Jahre-Wohnungen, es erinnert sie an ihre Kindheit: Eine kleine Vorratskammer, Platz für das Bügelbrett. Bei mir steht in diesem Kabuff der Kühlschrank. Ich weiß nicht wieso, aber ich saß schon immer gerne vor Kühlschränken. Nachts im Dunkeln mit dem Rücken an den Kühlschrank gelehnt Oliven aus dem Glas essen. Jetzt habe ich ein extra Kabuff dafür. Ein perfekter Ort, um sich zu verstecken und nachzudenken.
Das war meine Wohnung. Du willst auch noch wissen, was in meinem Keller steht? Bist du sicher, dass du das erträgst? In meinem Keller steht ein weiß-blauer Liegestuhl. Den haben mir meine Eltern zu meinem Examen geschenkt. Es war ein Sommertag und alle meine Freunde haben mich von meiner letzten Prüfung abgeholt. Gott, ich war so glücklich. Und mitten dazwischen waren meine Eltern, sie sind gekommen, um mich zu überraschen. Ich weiß, dass der weite Weg hierher nicht leicht für sie war. Mein Pa hat Angst vorm Autofahren, weil er nicht mehr gut sieht. Jeder Weg in die laute, schnelle Großstadt, in der alles so viel aggressiver ist als in der Kleinstadt, ist eine Herausforderung. Und meine Mama? Hat Angst vor allem. Die beiden haben mir den Liegestuhl geschenkt, „für meinen Platz in der Sonne“. Und sie haben mir Sekt mitgebracht, einen ganzen Karton Sekt. Dabei trinken sie selber gar nicht. Sie sind trockene Alkoholiker. Sie haben damals zusammen den Entzug gemacht. Sie haben gesagt, zusammen sind wir stärker, wir werden jetzt clean, damit wir zusammen Kinder haben können und sie haben sich an der Hand genommen und sind zusammen durch die Scheiße gewatet. Und als sie das geschafft hatten, wollten sie anderen helfen und sind als Mentoren den Anonymen Alkoholikern beigetreten.
Als ich noch klein war, riefen oft Leute bei uns an, auch mitten in der Nacht. Sie stellten sich nur mit ihrem Vornamen vor, wenn einer von uns dran ging, und fragten nach Charly oder Christian und dann wussten wir immer, dass es jemand war, der gerade Hilfe brauchte. Das haben wir schon als Kinder verstanden. Dann ist einer von meinen Eltern ans Telefon gekommen und hat lange mit leiser Stimme gesprochen. Jedes Mal, wenn ich trinke, habe ich ein schlechtes Gewissen, als würde ich meine Eltern verraten. Wenn ich den Liegestuhl sehe, schäme ich mich, weil meine Eltern dachten, ich bräuchte Alkohol für meinen Platz an der Sonne.
In der Ecke daneben steht ein rostiges blaues Fahrrad, das mir mein Papa geschenkt hat, als es mir nicht gut ging. Vor zwei Jahren war das, da hatte ich plötzlich Angst, Angst, Angst. Erst hatte ich Angst vor engen Räumen, dann auch vor weiten und irgendwann konnte ich nicht mehr vor die Tür gehen. Ich hatte Angst, so tief unter der Erde U-Bahn zu fahren, Angst in Fahrstühlen, Angst, wenn ich an der Supermarktkasse stand, Angst, wenn ich zum Briefkasten gegangen bin. Ich weiß bis heute nicht, warum. Vielleicht habe ich in einer klaustrophobischen Situation gesteckt. Mein Leben war der enge Raum, in dem ich keine Luft mehr bekommen konnte, ohne Ausgang, ich konnte nicht mehr bestimmen, wann ich gehen möchte. Irgendwann hatte ich auch Angst in meiner Wohnung, mitten in der Nacht oder mitten am Tag, hatte ich plötzlich solche Angst. Dann kam der eine Gedanke, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem ich noch sicher bin, nirgends, nicht einmal zuhause, ich kann nirgendwohin, ich kann nicht fliehen, ich kann rennen, so viel ich will, die Angst ist Teil meines Körpers, sie klebt an ihm wie ein Schatten. Ich bin nirgendwo mehr sicher. Raus aus meinem Körper, Stille, Ruhe, ich will, dass das aufhört, ich will das alles nicht mehr. Lösch das Licht, lösch das Leben. Ruhe.
Da wusste ich, dass ich an einer Klippe stehe. Und es war keiner da, der mir helfen konnte, keiner, der es versteht, keiner, mit dem ich darüber sprechen konnte. Allein an einer Klippe. Ich hatte die Wahl, mich einfach vornüber fallen zu lassen oder den Rückweg anzutreten. Also bin ich ganz langsam, Schritt für Schritt, zurückgewichen, die Augen fest auf den Horizont gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt. Ich fing an, mir die Räume zurückzuerobern. Ich bin raus in den Flur und in den Fahrstuhl gestiegen. Ich bin damit im Haus hoch und runter gefahren, hoch und runter. Ich hab die Angst kommen lassen, ich hab sie ausgehalten und darauf gewartet, dass ich sterbe, aber das passierte nicht, die Angst kam, sie blieb und dann ging sie wieder. Nach ein paar Stunden habe ich mich vom Fahrstuhlboden aufgeklaubt und mich schon viel größer gefühlt.
Dann bin ich einkaufen gegangen. Bin endlos durch die Gänge gewandert und hab dann nur ein Päckchen Kaugummi gekauft. Ich bin U-Bahn gefahren, den ganzen Nachmittag, von einer Endhaltestelle zur nächsten, bis die Angst kam, bis sie wieder ging. Oh, dieser Triumph. Ich hab mich selber an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, ganz allein.
In dieser Zeit, als ich die Angst bekam und mein Leben so schwer wurde, weil ich in der großen Stadt nicht U-Bahn fahren konnte, schenkte mir mein Papa ein Fahrrad. Wir konnten damals noch nicht so gut reden, wie wir es heute können. Wir konnten nicht gut zusammen über Gefühle sprechen und uns dabei in die Augen sehen. Aber manchmal hat er mir Briefe geschrieben. Oder er hat mir mit Gesten gezeigt, dass er mich versteht. Also hat er mir ein Fahrrad geschenkt und zu mir gesagt: „Damit du dem Untergrund entkommst.“ Nur das. Ich liebe dich, Paps.
Im Keller fehlen auch ein paar Dinge. Das zweitschönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe, fehlt zum Beispiel. Es müsste dort stehen, neben dem Fahrrad, aber ich hab es entsorgt. In meinem Keller steht nur die Erinnerung an das Geschenk, eine Lücke ist dort, wo es stehen sollte, aber eine spürbare Lücke ist nicht weniger real als ein Gegenstand. So wie ein Bilderrahmen an der Tapete einen rechteckigen Schatten hinterlässt - das Bild ist nicht mehr da, aber du siehst: Hier fehlt etwas.
Es war eine Sonderanfertigung meines Ex-Freundes. Er hatte sie selber gebaut, nur für mich. Das hier ist die Geschichte der Waffe, die fehlt.
Ich hatte lange Alpträume, eigentlich nur einen, der immer wieder kam: Nachdem mich mein erster Freund betrogen und sich mit der anderen Frau über mich lustig gemacht hatte, habe ich immer geträumt, ich würde ihn mit der anderen Frau erwischen. Ich werde wütend, ich tobe und rase, ich bin außer mir. Ich bin so haltlos, dass meine Haut Risse bekommt. Ich versuche, auf die beiden einzuschlagen, mit meiner Waffe, mit einem mit Nägeln besetzten Baseballschläger. Ich schlage und schlage, ich wüte und tobe und rase, aber meine Schläge haben keine Wirkung. Während ich mich verausgabe und versuche, sie zu berühren, lachen die beiden nur, lachen mich aus und stacheln mich an. Ich bin hilflos, ich kann nichts tun, kein Ventil für mich, keine Erleichterung. Sie machen sich lustig darüber, wie sehr ich mich ereifere, sie demütigen mich, sie stellen mich bloß. Ekelhaft ist das.
Jahrelang hatte ich diesen Traum, immer und immer wieder. Es war immer derselbe, nur der Mann war ein anderer, immer der, den ich gerade liebte. Ich habe meinem letzten Freund von dem Traum erzählt und irgendwann kam er zu mir und er gab mir meine Waffe, die er aus ein paar Nägeln und einem Stück Holz aus dem Baumarkt gebastelt hatte und er sagte zu mir, er würde immer auf meiner Seite stehen. Er gab mir eine Waffe, mit der ich treffen konnte. Doch er ließ meinen Alptraum wahr werden. Er stand irgendwann nicht mehr auf meiner Seite, sondern auf der der anderen Frau und als ich gewütet und getobt habe, haben sie mich ausgelacht. Aber diesmal traf ich. Deswegen fehlt die Waffe in meinem Keller.
Das ist mein Leben. Viele kleine Geschichten, die nicht notwendig eine große ergeben. Das sind meine Dinge, ich habe sie so angeordnet. Nichts davon ist Zufall. Hier ist es genauso, wie es sein muss, kein anderer könnte in dieser Wohnung leben. Nur ich.