Mitglied
- Beitritt
- 06.04.2014
- Beiträge
- 5
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Invasion der Mutanten
Das Trommeln der Hubschrauberrotoren erfüllte die Nacht und drang paukenschlagartig in Christians Unterbewusstsein. Er blinzelte. Blinzelte erneut. Dann war er wach. Er tastete nach seiner Brille. Durch Spalten der nicht ganz heruntergelassenen Jalousie glaubte er Suchscheinwerfer zu sehen, die über die Straße glitten. Neben ihm hörte er Stefanies gleichmäßigen Atem. Sie hatte offensichtlich einen tiefen Schlaf.
Er erhob sich vom Bett und verließ das Schlafzimmer. Im Wohnzimmer war es heller; er hatte die Rolladen offen gelassen. Durch das Fenster konnte er einen Hubschrauber sehen, der in niedriger Entfernung zur Erde die gegenüberliegende Straße abflog. Das gleißende Licht der Scheinwerfer blendete ihn, als er auf den Balkon hinaustrat. Er hob schützend den Arm vor das Gesicht.
Das donnernde Geräusch sich drehender Rotoren war nun noch lauter und die Bedrohlichkeit die davon ausging hatte etwas Verstörendes. Ein Windhauch fuhr durch sein Haar und er hätte nicht sagen können, ob die Rotorblätter der Ursprung dieses Windes waren oder nicht. Er sah zwei Hubschrauber. Nein. Es waren drei. Einer kreiste über der Pfarrer-Schmidt-Straße. Ein anderer Überflog gerade die Wohnung in Richtung der Innenstadt. Der dritte kreiste nordöstlich über dem großflächigen Chemiewerk, das nicht unweit von Christians Wohnung lag.
Dann sah er Mündungsfeuer aufflackern. Der Heli über dem Werk hatte das Feuer eröffnet. Christian konnte nicht sagen, ob der Wind das Rattern der Maschinengewehre an seine Ohren trug, oder ob diese Dinger immer so laut waren. Worauf schießen die? Sein Herz schlug schneller, sein Atem verflachte sich, sein Puls war beschleunigt und doch konnte er nicht hineingehen, konnte nicht in der Wohnung Schutz suchen. Wie angewurzelte stand er da, gebannt und zitternd, irritiert und fasziniert zugleich. Da ist die Kacke am Dampfen.
Christian sah wie der zweite Hubschrauber beidrehte und ebenfalls das Feuer eröffnete. Nun feuerten beide gleichzeitig. Ein infernalisches Duett aus Salven, Mündungsfeuer und Pulvergeruch entfesselte sich in todbringender Eleganz über dem Werk und erneut war da die bohrende Frage, auf wen sie schossen. Oder auf was.
Augenblicke später versiegten die Schüsse. Die Hubschrauber drehten ab und flogen davon. Im schimmernden Mondschein der klaren Spätsommernacht konnte Christian die Maschinen besser erkennen. Er fand seine Vermutung bestätigt: Camouflagefarbene Militärhubschrauber, die langsam aber beständig und begleitet von dem stetig leiser werdenden Rotorengeräusch vom Horizont verschluckt wurden.
Er schluckte. Völlige Stille umfing ihn und nur der rauchige Pulverdampf abgefeuerter MGs lag in der Luft. Die Ereignisse verstörten ihn auf gleich mehreren Ebenen. Zunächst war da die brutale Vehemenz, das konzertierte, militärische Vorgehen stand in keinem Verhältnis zu … Zu was eigentlich? Und überhaupt: Wo war die Polizei? Wo das Blaulicht und der Klang des Martinshorns? Wo der Trupp der Polizeibeamten, wo die Spurensicherer und nicht zuletzt die Leichenwagen, die das abtransportierten, was von den offensichtlich Unterlegenen des Schusswechseln übrig geblieben war?
Aber es war noch Zeit. Noch waren nicht mehr als fünf Minuten vergangen. Christian schlich ins Schlafzimmer, nahm sein Handy vom Schreibtisch und ging zurück ins Wohnzimmer.
Seiner Panik war nun ein Gefühl der Beunruhigung gewichen. Sein Atem ging immer noch schneller, aber er merkte wie die Rationalität langsam zurückkehrte. Er besuchte die Onlineausgaben von Spiegel, Focus, Welt, FAZ und SZ - doch fand nichts. Auf Twitter trendete irgendein Schwachsinn. Keine Meldung war zu finden. Mach dir keinen Kopf. Das ist alles erst vor zehn Minuten passiert. So schnell ist die Presse nicht. Lass ihnen Zeit. Beruhige dich. Mach dir einen Tee. Leg dich ins Bett. Schlaf ein bisschen. Morgen wird sich alles aufklären.
Doch es klärte sich nichts auf. Wie sich herausstellte wurde alles noch schlimmer. Mysteriöser. Gleich am nächsten Morgen erzählte er Stefanie von den nächtlichen Ereignissen. Von den Helis. Den Schüssen. Sie trug nichts, lag völlig entblößt neben ihm im Bett, den Kopf auf dem Arm abgestützt und blickte ihn mit großen Augen an. Ihre spitzen Brüste ragten hervor.
„Kann es sein, dass du nur geträumt hast?“, fragte Sie, während sie mit ihren Locken spielte. „Ich meine, wir haben beide etwas getrunken.“
Christian schüttelte den Kopf. „Ich weiß was ich weiß.“
„Aber wo war dann die Polizei?“
Christian nickte und sprach das Thema nicht mehr an. Er würde ihr, sobald die Medien darüber berichteten, einfach die Artikel zeigen. Doch sie berichteten nicht. Dazu blieb auch keine Zeit.
***
Stefanie verabschiedete sich am späten Vormittag. Sie hätte noch Wäsche zu waschen und müsse die Wohnung auf Vordermann bringen, sagte sie. Sie waren noch nicht lange zusammen und wohnten getrennt. Christian hatte sie vor drei Wochen in einem kleinen, schmutzigen Club in Freimoos kennengelernt. Sie hatten getanzt, dann hatten sie sich berührt, dann geknutscht und dann bei ihm gevögelt. Alles am gleichen Abend. Sie war erst kürzlich nach Freimoos gezogen. Eine gewünschte Versetzung nach einer schmerzlichen Trennung, gutes Verhältnis zu Ihren Eltern und Geschwistern, rosafarben duftende Haut, Sommersprossen, Titten wie eine Göttin, einen abgedrehten Humor und ein Hintern zum Niederknien. Das war alles, was er von ihr wusste und er fand, dass er nicht mehr zu wissen brauchte, um sich Hals über Kopf in sie zu verlieben.
Doch halt. Da war noch etwas: Sie war Polizistin! Da Christian ein rechtschaffener Mann war und ihn der Gedanke, nämlich das seine Freundin besser mit einer Waffe umgehen konnte als er, irgendwie antörnte, war auch das eine Eigenschaft, die sich perfekt zu dem Gesamtpaket fügte.
Gegen Mittag verließ er das Haus, um einige kleinere Einkäufe zu tätigen. In der Pfarrer- Schmidt-Straße befand sich ein kleiner Rewe, ein veralteter 70er Jahre Bau mit großem Parkareal und kleinem Lottoladen direkt nebenan. Vor dem Lottoshop standen zwei Frauen.
„Ich habe gesagt: Das ist mein Lottoschein!“, schrie die eine.
Sie war etwa siebzig, ihre Haltung gebeugt. Sie trug einen lindgrünen Rock und eine Wollbluse. In der Hand hielt sie einen Gehstock, den sie drohend in die Luft reckte. Ihr Gesicht glich einer Fratze, faltig und hässlich wie eine Maske aus einem dieser Halloween Gore Stores. Sie stürmte auf die andere Frau zu, den Stock emporgereckt und bereit zum Zuschlagen.
Christian reagierte sofort. Er sprang zwischen die zwei Frauen und nur einen Wimpernschlag später rauschte der hölzerne Gehstock der Alten auf seinen Kopf zu. Er riss instinktiv die Arme nach oben, bekam die Gehhilfe zu fassen und entriss sie der Frau.
„Mein Stock. Mein Stock“, blaffte die Alte. „Gib mir den Stock, sonst rufe ich die Polizei.“
Aus dem Augenwinkel nahm Christian wahr, wie die andere Frau sich entfernte.
„Du kleines Arschloch. Du kleiner schwanzlutschender Bastard. Gib mir den Stock!“
Die Stimme der Alten war krächzend, ihre Augen weit aufgerissen, mehr tot als lebendig. Christian sah kein Funkeln darin, keine Regung, er sah nur Leere. Leere und stumpfe Emotionslosigkeit, fast so als wäre sie fern gesteuert. Eine willfährige Hülle. Nicht mehr.
Christian warf den Stock zu ihren Füßen und wandte sich dem Rewe-Eingang zu. Die Alte fluchte. Er hörte, wie sie den Stock aufhob und fürchtete jeden Moment einen neuerlichen Angriff, einen heimtückischen Schlag in den Rücken etwa. Doch es geschah nichts. Die Alte hatte wohl genug. Als Christian den Eingang passiert hatte und sich nach links wandte, sah er wie sie über den Asphalt in Richtung Pfarrer-Schmidt-Straße humpelte.
Er kaufte ein, bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Zu seiner Beruhigung traf er die Alte nicht. Daheim verstaute er die Einkäufe – größtenteils Nudeln, Milch und einige Convenience Produkte einschlägiger Marken – und legte sich anschließend nochmal ins Bett. Er hatte mit Stefanie vereinbart, dass sie sich heute Abend treffen würden.
Er schlief, doch es war kein angenehmer Schlaf. Eigentlich größtenteils traumlos, fand er sich diesmal vor dem Rewe wieder. Es war Nacht. Nebel waberte und eine Eule tschilpte in die Nacht. Der rationale Teil seines Verstandes war noch nicht vollends ausgeknockt und kommentierte die Szenerie, haftete ihr ein Postit an: Scheiß Horrorfilm Setting!
Doch dieser rationale Teil hatte das Ruder bereits abgegeben. Er kommentierte nur noch das, was sein Unterbewusstsein abspulte.
Dann war sie wieder da – die Alte vor dem Lottolanden. Sie kniete am Boden, vornübergebeugt. Christian stand hinter ihr. Sie hatte den Rücken zu ihm gewandt und kauerte auf dem nackten Asphalt. Christian ging auf Sie zu. Er hörte ein Schmatzen, das von ihr ausging. Dann sah er es und schrie. Er schrie so durchdringend und laut wie noch nie in seinem Leben. Vor der Alten lag Stefanie. Eingeweide quollen aus ihrer geöffneten Bauchhöhe und die Alte aß. Sie aß. Ihr Schmatzen vermengte sich mit seinen Schreien und wurde lauter je stärker er schrie, eine anschwellende Symphonie des Grauens.
***
Die Türklingel riss ihn aus dem Traum. Er erhob sich langsam, immer noch benommen. Es klingelte erneut. Diesmal zweimal, jeweils knapp hintereinander. Ein Gefühl der Erleichterung brandete in ihm auf. Christian konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so schlecht geträumt hatte.
„Wurde auch Zeit!“
Stefanie klang wütend, vielleicht auch angespannt. So recht konnte er das nicht sagen. Sie trug eine Sporttasche, schob sich durch die Eingangstür und ging ins Wohnzimmer. Er war erleichtert sie zu sehen, obwohl er sich eine innigere Begrüßung gewünscht hätte.
„Wir müssen die Wohnung verbarrikadieren!“
Sie stellte die Tasche auf dem Sofa ab und öffnete sie hastig. Dann griff sie hinein und zog eine Pumpgun heraus. Ihr prüfender Blick glitt über die Waffe.
„Kannst du damit umgehen?“, fragte sie, wohlwissend, dass er sich damit nicht auskannte.
Christian blickte sie verwirrt an, unschlüssig, wie er auf die Frage reagieren sollte, unschlüssig darüber, was das Ganze sollte. Stefanie registrierte seinen irritierten Blick, lud die Waffe durch und reichte sie ihm.
„Deine Story war keine Einbildung. Heute Nacht ist da drüben im Chemiewerk etwas passiert.“
Sie stockte, griff erneut in die Tasche und förderte eine Pistole zutage.
„Aber …“ Christian stammelte, versuchte eine Frage zu formulieren, doch es kam nichts aus ihm heraus.
„Die gesamte Stadt ist unter Quarantäne“, sagte sie. „Alle Straßen sind gesperrt. Ein Kollege hat mir die Information zugespielt.“
„Was ist passiert?“ Sein Mund war trocken wie alter Zwieback.
„Das Trinkwasser wurde vergiftet. Das Derivat eines Nervengiftes ist in die Trinkwasserversorgung gelangt.“
„So schlimm?“
„Schlimmer. Die Hubschrauber, die du gesehen hast waren von einem Sondereinsatzkommando. Sie haben die Terroristen zur Strecke gebracht, die dafür verantwortlich sind.“
Sie stockte. Dann fuhr sie fort: „Die Vergiftung macht erst paranoid, dann hochaggressiv. Wir sind in Gefahr. Die örtliche Polizeistation ist dicht und Niemand kommt in die Stadt oder wieder heraus.“
Sie steckte die Pistole in ihren Gürtel und schnaubte. „Wenn es stimmt was meine Kollegen sagen, dann wird innerhalb kürzester Zeit die ganze Stadt von paranoiden und aggressiven Menschen überrant.“
Christian kam der Gedanke, dass sie beide schon befallen waren, dass sie beide bereits im Begriff waren Paranoid zu werden. Dann viel ihm wieder die Alte vor dem Lottoladen ein, ihr leerer Blick und ihr Aggressionspotential. Christian bemerkte, dass Stefanie seine Zweifel nicht entgingen.
„Ich habe auch darüber nachgedacht. Aber ich bin noch nicht davon befallen“, sagte sie. „Auf dem Weg hierher konnte ich zwei Schlägereien beobachten. Einmal zwei Männer, beide um die sechzig. Und dann nochmals zwei junge Frauen. Ihr Blick war leer.
Sie wirkten wie …“
„Ferngesteuert“, sagte Christian und erzählte von der Alten, von ihrem Verhalten am Lottolanden, von ihren Aggressionen.
Stefanie nickte, dann zeigte sie auf die Tasche.
„Da drin sind Thunfischdosen, Nudeln und Reis. Damit sollten wir einige Tage überstehen. Wir verkriechen uns einfach und warten ab. Wichtig ist, dass wir nicht bereits befallen sind.“
Sie brach ab und hielt einen Moment inne. Christian konnte sehen, wie sie über etwas nachdachte, konnte sehen wie ein Schatten über ihr Gesicht huschte; ihre Stirn war in Falten gelegt.
„Das ist das wichtigste“, sagte sie und schon ein unechtes Lächeln hinterher. Christian sah etwas in ihren Augen, etwas, das er nicht zuordnen konnte.
Dann begann der Angriff. Christian hörte einen dumpfen Schlag, der ganz offensichtlich die Eingangstür erschütterte. Ein weiterer Schlag ertönte, gefolgt von einem Geräusch, dass nach splitterndem Holz klang.
Stefanie reagierte sofort. Sie zog ihre Waffe und legte ihren Zeigefinger auf den Mund, bedeutete Christian sich still zu verhalten. Ein Furzen drang aus der Diele und Christian wusste, dass sie nun in der Wohnung waren. Kurz darauf waren sie im Wohnzimmer. Doch es waren keine Menschen, keine verwirrten Leute mit Paranoia; es waren Arschgesichter, Mischwesen mit einem menschliche Körper, die jedoch anstelle des Kopfes einen Hintern trugen. Sie bewegten sich nur langsam und stockend vorwärts; ihre Hinterbacken öffneten und schlossen sich, während sie Furzgeräusche ausstießen.
Soweit Christian es überblicken konnte, waren es drei. Dann war der Erste direkt bei Stefanie, nur eine Armlänge entfernt. Stefanie feuerte. Feuerte erneut. Feuerte ein drittes mal. Der Arschmutant stürzte rücklings zu Boden. Die beiden anderen schreckte das nicht ab. Sie bewegten sich weiter auf Ihre Beute zu. Stefanie drückte erneut ab, worauf der zweite Arschmutant zu Boden ging. Dann, nur Wimpernschläge später, der dritte.
Stefanie atmete schwer und blickte angewidert auf die drei am Boden liegenden Mutanten. Sie lud ihre Waffe durch.
„Ich glaube es ist Zeit zu verschwinden. Wo ein Arschgesicht ist, sind auch mehrere. Wir müssen zu mir. Meine Tür ist noch nicht beschädigt.“
Christian nickte. „Du hast Recht. Wir sollten keine Zeit verschwenden. Hier dampft die Kacke.“
***
Auszug aus der Presse, ein Jahr nach den Ereignissen in Freimoos:
Der Anführer der für den Anschlag auf die Freimooser Trinkwasserversorgung verantwortlichen Umweltaktivistengruppe bat im Rahmen der anberaumten Gerichtsverhandlung um Verzeihung. Gemäß seinen Schilderungen sei der Anschlag auf die Trankwasserversorgung anders geplant gewesen.
Der Angeklagte war nicht direkt im Freimooser Chemiewerk aktiv am Anschlag beteiligt, gilt jedoch als Anführer und Spiritus Rektor der Gruppe. Seine Pläne, so die Aussagen des Angeklagten, sahen ursprünglich eine milde Dosierung des Nervengifts vor. Die eigenmächtig erhöhte Dosierung des Nervengiftes, vorgenommen von den Aktivisten vor Ort, führte schließlich nicht nur wie ursprünglich geplant zu anfänglichen Paranoia, sondern auch zu einem gesteigerten Aggressivitätslevel innerhalb der Bevölkerung, welches letztlich in jenem beklagenswerten Massenabschlachten mündete.
Dass dieses Massenabschlachten mehrheitlich von Mitarbeitern der ja bewaffneten und auch von den Auswirkungen des Nervengiftes betroffenen Polizei ausging, bedauere er in der Rückschau zutiefst. Der Mann bekannte sich in allen Punkten schuldig und erwartet eine angemessene Strafe.