Interview mit Gott
Anfangs war ich aufgeregt, doch sobald ich seine Nähe spürte, überkam mich eine leichte Gelassenheit, die alle meine Ängste wegspülte.
Bevor wir mit dem Interview begannen, saßen Gott und ich eine ganze Weile schweigend und den Himmel betrachtend beisammen. Es war ein erfüllendes Gefühl, nicht reden zu müssen und die Zeit verstreichen lassen zu können.
Doch plötzlich, als ich so auf die verschlafene Stadt sah, drängte sich mir eine Frage in den Sinn:
„Warum”, fragte ich also, „Warum liebst du uns Menschen?” Darauf antwortete er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen:
"Ich liebe euch nicht, weil ihr mir Opfergaben bringt, mich bis aufs Blut vor anderen verteidigt und in der Kirche beichtet. Nicht, weil ihr fromm seid, betet und den Armen und Kranken unter euch helft. Ich liebe euch nicht, weil ihr gute Menschen seid, sondern, weil ihr meine Kinder seid und ich euer Vater."
In diesem Moment, da er mir die Antwort auf meine Frage gab, wandelte sich in mir ein Stück Sehnsucht in Erfüllung um. Am Horizont des Nachthimmels sah ich einen kleinen, schwach leuchtenden Stern aufgehen.
Meine Wissbegier jedoch veränderte sich nicht und ich war noch längst nicht befriedigt.
Auf diese eine Antwort, die ich von Gott erhielt kamen zehn neue Fragen, die ihn mir brannten und Antworten verlangten.
„Warum lässt du so viele Menschen leiden, wenn du sie doch liebst?”, fragte ich den noch immer lächelnden Gott.
„Dies, mein Kind, ist eine Frage, die mich viele Menschen fragen. Menschen, die an mich glauben, Menschen, die zweifeln, Kinder und Greise.
Lass mich dir erzählen:
In einem kleinen Land, welches es heute nicht mehr gibt und welches damals so weit abseits der Erde lag, dass nie jemand der restlichen Welt dorthin kam, lebten die Menschen ohne Krankheiten, Hass, Missgunst und Krieg. Es blieb von Katastrophen und Leid verschont. Keinem Menschen kam es je in den Sinn jemand anderem Schaden zu zufügen. Keiner dieser Menschen in dem Land war unglücklich. Und doch war auch keiner in diesem Land glücklich, denn ihre Liebe hatte nichts zu bestehen, nichts aufzurichten, nichts auszugleichen und war nur eine kleine Münze in der prall gefüllten Schatzkammer des Königshauses.”
Nach einer kleinen Pause fragte mich Gott: "Verstehst du, was ich meine?"
„Ja”, war meine Antwort, „das Eine gibt es nicht ohne das Andere.”
„Und außerdem” fügte Gott in einem sehr sanften Ton hinzu, "seid ihr frei, ihr habt einen eigenen Willen und gestaltet euch eure Welt selbst."
Mit dieser Antwort drängte sich mir blitzschnell die nächste Frage auf:
„Bedeutet das, dass die Welt uns Menschen gehört?”, fragte ich hastig.
„Nein, ich habe euch die Welt gegeben und doch gehört sie euch nicht. Sie gehört einzig und allein der Sehnsucht und der Träume eurer Kinder nach dem Leben. Viele Menschen wollen Herr der Welt sein, Herr des Meeres, Herr der Wälder, Heer der Tiere, dabei könnt ihr nur euch selbst Herr sein. Jeder gehört sich und nur sich.
Und weil die Welt euch nicht gehört, müsst ihr sie achten und pflegen, damit die Träume und Sehnsüchte der Kinder nicht zerbrechen. Deswegen habe ich sie euch gegeben.”
Am Sternenhimmel schob sich langsam eine kleine Wolke vor den Mond, sodass es aussah, als läge sich der Mond in weiche Watte. Kein Geräusch störte die uns umgebende Stille, bis ich erneut zu einer Frage ansetzte:
"Lieber Gott, was sollen wir unseren Kindern lehren?"
„Eure Kinder sollen lernen, dass Wahrheit unteilbar ist, dass zwei Menschen das Gleiche betrachten, aber unterschiedliche Dinge sehen können, dass das Lachen, was man in die Welt hinausschickt zu einem zurückkommt, dass man sich selbst vergeben muss, um Vergebung zu erhalten, dass man sprechen kann, ohne Worte zu benutzen, dass das Wissen begrenzt ist, Träume nicht”
Gott nahm meine Hand in seine und gemeinsam schwiegen wir wieder.
Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, die Welt zu verstehen und meine Sehnsucht mit Wissen zu befriedigen. Noch lange schauten wir uns den Nachthimmel, den Mond und die Sterne an, denn Gottes Zeit war die Ewigkeit.