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Interessiert disch meine Geschichte eine Scheiß, Alder
Wir sitzen seit acht Minuten in dieser U-Bahn, er auf der einen Bank, ich ihm gegenüber. Unsere Fußspitzen könnten sich berühren. Könnten, tun sie aber nicht. Ich schaue ohne Umwege in sein Gesicht. Er versucht, an mir vorbei zu schauen, doch immer wieder gelingt es mir, seine Blicke für einen kurzen Moment einzufangen, für einen Augenblick, oder zwei. Seine dunklen Augen funkeln mich zunehmend bedeutungsvoller an, seine Mimik gewinnt an Ausdruckskraft, seine Lippen zucken, kleben aber noch schweigend aufeinander. Seit acht Minuten gebe ich ungestraft den Blickfänger, verdammt lange, überraschend lang. Mein ungeübter „Ich-betrachte-dich“ – Blick beginnt bereits zu zittern. Ich dachte, es würde mir leichter fallen. Im tiefen Wedding U-Bahn fahren und Unbekannte ansprechen saugt beträchtlich Mut aus meinem Hirn.
„He, was guckst du so?“, platzt es endlich aus ihm heraus.
„Wissen Sie“, sage ich zu ihm, „ich frage mich, was Ihre persönliche Geschichte ist.“
„Kannst du eine auf Schnauze haben, Arsch.“
Ich nehme ihm diese etwas persönliche Anrede nicht übel. Was sollte er auch sagen, wo er doch meinen Namen nicht kennt? Herr Arsch etwa? Ich bitte Sie.
„Das ist keine hilfreiche Antwort.“ Nur ungern belehre ich ihn, Vorsicht ist angeraten, manche Mitbürger reagieren gelegentlich selbst auf gut gemeinte Hinweise empfindlich.
Seine Suche nach passenden Worten unterbrechend, sage ich zu ihm: „Ich weiß nichts über Sie. Es ist doch so: Wir fahren einen gemeinsamen Weg des Lebens - und ich weiß zwar, warum ich hier sitze, aber ich weiß nicht, warum gerade Sie mir gegenüber sitzen. Warum ausgerechnet Sie?“
„Alder, hast du Scheiße im Kopf?“
„Wenn das eine ernst gemeinte Frage ist, lautet meine Antwort: nein. Aber die wirklich spannende Frage geht doch so: Was ist Ihre Geschichte? Verstehen Sie? Wenn das, was wir in diesem Moment gemeinsam erleben, eine Geschichte wäre, ein Kapitel in einem Buch, eine Filmszene, dann würde der Leser doch wissen wollen, wer wir sind, Sie und ich. Warum wir hier sitzen. Was wir denken, wenn wir uns in die Augen schauen. Was wir fühlen.“
„Fühlst du gleich Nasengeblute.“
„Ach was. Wenn wir keine Antworten geben auf diese Fragen, fällt die Kritik entsprechend mies aus.“
„Kritik?“
„Ja, Kritik. Und zwar für uns Beide. So langsam scheinen Sie mich zu verstehen.“
Mir scheint, als würde er – ein Schwede, Türke oder Kanadier, ich weiß nicht – in das Thema einsteigen.
„Jeder lebt seine Geschichte, Sie Ihre, ich meine. Verstehen Sie?“
Auch wenn er mit den Achseln zuckt, ich bin mir sicher, dass er eine eigene, sehr persönliche Geschichte hat.
„Na klar verstehen Sie. Und wenn ich Ihre Geschichte nicht kenne, dann habe ich doch auch keine Ahnung, woher Sie kommen und wohin Sie fahren.“
„Interessiert disch meine Geschichte eine Scheiß, Alder“, sagt er unnötig laut.
„Eben nicht“, erwidere ich, bewusst das Risiko des Widerspruches in Kauf nehmend. „Und selbst wenn, dann trotzdem nicht, es kommt immer auf den Blickwinkel an. Unsere Geschichten überschneiden sich. Wenn ich die Meine erzähle, gehört Ihre dazu. Sie gehören zusammen, und wenn auch nur für dreißig Minuten. Ich mag nicht meine Geschichte schreiben und dann eine beschissene Kritik kassieren, nur weil ich von Ihrer nichts weiß. Ich brauche Informationen von Ihnen.“
„Brauchst du gleisch Zahnspange.“
Er ist kleiner als ich, etliche Jahre jünger, kompakt, kräftig, wirkt sehr sportlich. Er trägt einen schönen weißen Sweater mit feinen schwarzen Streifen, mit Kapuze, Ghetto Musik steht auf der Brust geschrieben, eine Halskette, zwei Ringe an der rechten Hand.
Ich spreize meinen Zeigefinger in der Jackentasche, strecke ihn weit nach vorn.
„Wenn Sie mich angreifen, schieße ich Ihnen ein Loch in den Bauch.“
„Bist du schwul oder was?“
Eine überraschende Frage, wie kommt er auf diesen Gedanken?
„Wie kommen Sie auf diesen Gedanken? Interessant. Haben Sie Kontakt mit Schwulen? Regelmäßig? Find ich Klasse, Sie können offen mit mir darüber reden. Das gibt der Geschichte den richtigen Drive. Wirklich gut. Sehen Sie, ich hatte recht: jeder hat seine Geschichte. Ich kannte mal einen ...“
„Bin isch nisch schwul!“
„Psst, was sollen die Leute denken?“
Erschrocken schaut er sich um, blitzschnell werden Augenlider über neugierige Blicke gezogen.
Ich versuche wieder auf mein eigentliches Thema zurückzukommen: „Stellen Sie sich vor, es gibt eine Annahmestelle für Kleider und Sie wollen Ihren tollen, weißen Sweater abgeben, weil er Ihnen nicht mehr gefällt, oder weil er riecht und Sie wollen ihn nicht waschen. Aber die Bearbeiter an der Annahmestelle sagen: Wir nehmen Ihren Marken-Sweater nur dann an, wenn Sie vorher zwanzig selbst hergestellte Stücke abgeben, irgend etwas genähtes, gestricktes, gehäkeltes, egal, aber keine Gedichte. Was würden Sie machen?“
„Würd’ ich Sweatshirt in Mülltonne werfen.“
„Mann, jetzt mal im Ernst. Sagen wir, Sie würden zehn beschissene kleine Topflappen häkeln, dann erst diese und dann den Sweater abgeben.“
„Wieso sind jetzt genug zehn Topflabbe, denk ich, zwanzisch?“
„Vielleicht weil Sie denken, dass Ihr weißer Sweater so geil aussieht, dass zehn reichen?“
„Hast du Haken zum Aufhängen von Topflabbe?“
Diese Frage sitzt. Betrübt schüttele ich den Kopf.
„Dann Topflabbe ist echt Scheiße und so.“
„Ist das wirklich deine Meinung?“, frage ich ihn, echt deprimiert.
„Ist Meinung von meiner Mama. Meine Meinung, du bist eine Spinner.“
„Bin ich keine Spinner.“ Widerspruch. „Ich bin ein Autor.“ Aussage.
„Warum fahrst du dann U-Bahn?“
„Hä?“
„Kleine Spaß.“
Die Situation scheint mir zu entgleiten. Er grinst mich an.
„Wenn unser Zusammentreffen so endet, ist das Ergebnis jetzt schon klar.“
Leider stellt er keine interessierte Frage.
„Es werden Sätze fallen wie: Ein paar mehr Details hätten der Geschichte vielleicht gut getan. Oder: Woher die Einstellung? Warum dieser Drang, Dinge ändern zu wollen?“
„Welsche Einstellung? Bin isch arbeitslos. hat sich nisch geändert."
„Ab ins Korrekturzentrum, strotzt ja vor Fehlern.“
„Spresch isch deutsch besser als du türkisch.“
„Ben seni tschok sevijorum.“ Da staunst du, was?
“Şi salutări cordiale lu Iakita,” entgegnet er.
“Das ist niemals türkisch.”
„Hast du recht, Alder.“
„Natürlich hab’ ich recht. Es werden Bemerkungen kommen wie: Ich sehe da wenig Kurzgeschichtenhaftes. Oder härter: Dialoge gepaart mit U-Bahnfahren, das ist echt Müll in einer Geschichte, die Geschichte ist Müll.“
Sein Blick beginnt mich langsam zu irritieren.
„Da liegt viel mehr Potential drin für eine echte Geschichte“, versuche ich, ihn zu interessieren. „So ist das nämlich im Grunde keine Geschichte, ohne einen Hintergrund taugt das doch nicht mal zu einer seichten Satire.“
Was grinst er so abfällig?
Als die Bahn an der Station anhält und sich die Türen öffnen und Menschen ein- und aussteigen, erhebt er sich. Ich fordere ihn dringenden auf, doch bitte sitzen zu bleiben, weil mit den wenigen Informationen, die ich von ihm habe, keine gute Story zu schreiben sei. Nur U-Bahn und schwul reicht nicht. Niemand wird verstehen, warum wir uns schon in diesem frühen Stadium trennen. Nicht einmal, wozu wir uns überhaupt getroffen haben.
Er schiebt sich mit einer aufreizend langsamen Geste die Eier zurecht.
„Weißt du?“, sagt er, „mach dir nicht soviel Gedanken darüber, was die Anderen meinen werden. Schreib.“
Akzentfrei. Er zwinkert mir zu, steigt aus. Die Tür schließt sich, der Zug fährt an, jeder hebt grüßend eine Hand.