Inspiration
Ich weiß nicht ob ich Ihnen dies alles überhaupt erzählen sollte. Aber alles menschliche in mir schreit danach, mich noch einmal jemandem anzuvertrauen. Leichter wird es dadurch jedoch auch nicht und ich hoffe es noch rechtzeitig fertig zu bekommen...
Am besten ich beginne ganz am Anfang diesen Übels, das heißt gestern morgen. Genau genommen in aller Frühe vor meinem Computer – ich hatte frei, müssen Sie wissen. Wäre ich doch nur zur Arbeit gegangen. Alles wäre in Ordnung gewesen. Doch dafür ist es schlicht zu spät.
Ich beschäftigte mich mit den verschiedensten Seiten im Internet und blieb irgendwann in einem Forum hängen, in dem man eigene Kurzgeschichten, auch zum Thema Horror, veröffentlichen kann. Einiges las ich und kam zu dem Entschluss mich zu registrieren und selbst eine kleine Geschichte zu schreiben. Doch ich fand keinen rechten Einstieg, es fehlte die Idee – jene berühmte Inspiration. So sah ich mich bald gezwungen, aufzugeben und erst mal einen Spaziergang zu machen um mir eben jene Inspiration zukommen zu lassen. Hätte ich nur nie das Haus verlassen!
- Mein Gott, was ist mit der Tür. Ist sie wirklich verschlossen? Ich werde nachsehen müssen und hoffe wenigstens noch bis zum Ende der Geschichte meines Verderbens schreiben zu können...
Ja, die Tür ist verschlossen, das bringt mit hoffentlich die entscheidenden Minuten, mir noch alles von der Seele schreiben zu können.
Ich verließ also das Haus obwohl der Himmel bereits in ein ungemütliches Grau gewechselt hatte und schlenderte gedankenverloren den kleinen Bach ganz in der Nähe entlang. Irgendwie war die gesamte Atmosphäre eher herbstlich. Ideal für schwermütige Gedanken. Und dann sah ich ihn zum ersten Mal! Den alten Mann – nein, eigentlich keinen wirklichen Mann. Das muss der Leibhaftige gewesen sein. In einer fast gebrechlich wirkenden Hülle. Der Alte roch nach Alkohol als er etwa zwei Schritte vor mir aus dem Gebüsch trat. Ein in einen dunklen Mantel gehüllter Greis, das Haar aschfahl, fettig glänzend und streng nach hinten gekämmt. Alles in allem keine angenehme Erscheinung. Aber das Schlimme waren diese Augen! Sie kennen doch sicher diese teuren Porzellanpuppen. Die haben ganz ähnliche Augen, nur wirkten sie an dem Alten wirklich kalt.
Da ich dicht vor ihm zum Stehen gekommen war, konnte ich diese Augäpfel deutlich erkennen. Mir schien, als sei die Iris schlicht auf leicht trübes Glas oder Porzellan gemalt wurden. Sicher, ich kenne Menschen mit Glasaugen – aber diese hier waren anders. Die Finsternis schien in dem Alten zu schlafen. Ich kann es kaum in Worte fassen. Mir lief ein Schauer über den Rücken als ich sah wie einer der ersten Regentropfen das rechte Auge traf und sich darauf verteilte ohne dass der Greis es zu Kenntnis nahm.
Er sprach mich an. „Guten Morgen. Du suchst nach mir, habe ich das Gefühl.“ Und ich konnte mich nicht mal einen Schritt zurück bewegen, brachte nur dieses heisere, nichts sagende Krächzen heraus. Er nickte. „Nun, mein Freund, ich weiß was du suchst. “ raunte mir der Alte zu während der Regen schlagartig an Stärke gewann - als ob der Himmel den Graukopf wegspülen wollte. Doch er grinste breit und streckte mir seine faltige Hand entgegen. Niemals würde ich ihn berühren, vor allem jetzt nicht mehr. Denn als ich meinen Kopf halb senkte und halb zur Seite drehte um dem Regen nicht zu viel Angriffsfläche in meinem Gesicht zu bieten sah ich sie: die Tote! Eine halbnackte Frau lag abseits des Wegen, genau dort woher der Alte gekommen war. Er musste sie ermordet haben, dessen war ich mir ganz sicher. Nie werde ich den gebrochen Blick der Toten vergessen. Auf ihren Zügen lag noch das blanke Entsetzen, welches sich wohl im letzten Augenblick ihres Lebens über sie gesenkt hatte. (was, um Himmels Willen, hatte sie noch sehen müssen?) Noch schlimmer – sie zerfiel. Sie schien sich im Regen aufzulösen als liefe wäre dieser Säure. Langsam wurde das Fleisch weniger, die Knochen zeichneten sich unter der toten Haut ab.
Ich rannte. Nur weg von der Leiche und ihrem Mörder. Meine Schritte schienen sich einander zu jagen und natürlich fiel ich. Zwar konnte ich mich mit den Händen abfangen, spürte keinen Schmerz, dennoch schmeckte ich das dreckige Pfützenwasser. Es klatschte gegen meine Gesicht, wurde jedoch fast augenblicklich vom wolkenbruchartigen Regen hinweggespült. Ich begegnete niemanden, erreichte die Haustür und brach beim überhasteten Aufschließen fast den Schlüssel ab. Alles war so furchtbar schnell gegangen. Nun entfernte ich mich langsamer von der Straßentür in Richtung Treppe. Meine Wohnung war zum Greifen nahe.
Aber auf etwa der Hälfte der Treppe war er wieder da, der Alte schien aus dem Nichts entstanden zu sein. Und er sprach nur zwei Sätze: „Nutze die Inspiration! Wir sehen uns morgen!“
Was dann geschah brachte mich an den Rand des Wahnsinns; der Greis schritt mir entgegen – und sowohl durch meinen stummen Schrei als auch durch mich selbst hindurch! Als wäre ich nichts als ein Trugbild. Seine Kälte fraß sich durch meinen Körper und meine Seele, ich knickte auf der Treppe ein und begann Laute von mir zu geben, die halb ein menschliches Weinen und halb unmenschliche Schreie waren. Mir war, als hätte der Alte bereits einen Teil meiner Seele mit sich hinweg gerissen um mir nach einer zynischen Galgenfrist auch den Rest zu rauben...
Mein Gott, er ist da. Der Alte, der Mörder mit den toten Augen! Der Leibhaftige! Ich spüre ihn, und das sind Schritte auf der Treppe. Vielleicht sollte ich mir das lange Messer neben der Tastatur selbst ins Herz rammen. Jetzt ist er an der Tür – warum hilft mir den niemand...
[ 04.06.2002, 13:35: Beitrag editiert von: King Mö ]