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Insomnia. Hundert Jahre Schlaf

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15.02.2003
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Insomnia. Hundert Jahre Schlaf

Es ist wie in den Märchen. Hundert Jahre Schlaf. Ein Geschenk.
Der Sandmann sitzt am Bett der Mutter, ihre Hand in seiner Hand, klein und braun wie eine Kastanie, er hält sie, hält sie fest, als wäre das noch wichtig. Auf dem Nachttisch steht der Schnaps, die Flasche halb gefüllt mit der klaren Flüssigkeit, es ist die Sorte, die er ihr immer mitbringt, die Sorte, die sie gerne hat. Ohne den Schnaps wäre es nicht gegangen, ohne den Schnaps wäre sie wieder aufgewacht. So wacht sie bestimmt nicht mehr auf. Nicht in neunundneunzig Jahren.
Das Päckchen mit den Schlaftabletten hat er sich wieder in die Tasche gesteckt, er weiß: Niemand darf es finden, jetzt noch nicht.

Das Gesicht der Mutter lädt dazu ein, mit der Hand darüber zu streichen, es will erkundet werden. Der Sandmann erfühlt weiche Haut, die nachgibt, wenn man sie berührt, er tastet sich voran, fährt den schmalen Spalt zwischen den Lippen entlang, lässt die Finger gleiten, über die Wangen hoch zu den Augen, trippelt wie ein Klavierspieler um sie herum, erkundet Wiesen aus Flaum, durchquert haarfeine Linien, die sich wie Flusstäler über das Gesicht der Mutter ziehen, sich kreuzen und wieder auseinanderlaufen.
Wie schön die Mutter ist, denkt er, wie schön sie ist. Er lächelt. Wegen der Mutter und weil die Sonnenstrahlen seinen Mund kitzeln.

An dem Glas, aus dem die Mutter getrunken hat, sind die Abdrücke ihrer Lippen, auf dem Boden hat sich ein bisschen was von dem Pulver der Tabletten abgesetzt, ein winzigkleiner weißer Sandstrandsaum am Schnapsmeer. Er nimmt das Glas und geht in die Küche, um es auszuspülen. Aus dem Hahn schießt glühend heißes Wasser. Es brennt auf der Haut. Er hält das Glas unter den Strahl und lässt es volllaufen. Dann kippt er es aus und trocknet sich die Hände ab, sie sind rot von der Hitze.

Wieder im Schlafzimmer steckt er die Hand langsam in die Tasche, sie zittert, er schließt die Finger fest um das Päckchen mit den Tabletten. Auf dem Päckchen steht: Lormetazepam. Das klingt wie Musik, das mag man laut vor sich hinsagen, so schön klingt es.
Manchmal, wenn ihm langweilig ist, wenn er allein ist, zählt er die Namen der Schlafmittel auf, er singt sie: Tri-a-zo-lam, Zol-pi-dem, Tra-zo-don, Za-le-plon, Zo-pi-clon, Te-ma-ze-pam...
Er singt sie nur, er nimmt sie nicht, sie helfen ihm nicht, sie helfen ihm nicht wirklich. Sein ganzer Schrank ist voll damit, alle hat er sie ausprobiert. Früher oder später verliert jedes Mittel seine Wirkung. Der Arzt legt ihm die Hand auf die Schulter und schüttelt den Kopf.

Die Mutter fühlt sich kalt an. Sie wird krank, denkt der Sandmann. Er weiß, wie es ist, krank zu sein. Kranksein ist ein Teil seines Lebens, so wie das Essen und das Warten bis ins Morgengrauen. Seine erste Erinnerung ist eine Krankheit. Er bekam Fieber und sein Kopf fühlte sich an wie ein großer Luftballon, er schwitzte. Freunde kamen ihn besuchen, sie traten an sein Bett und sahen, wie er schwitzte. Wir wussten es schon immer, sagten sie. Dass er ein Schneemann ist. Jetzt schmilzt er, und in ein, zwei Monaten wird nichts mehr von ihm übrig sein, nicht mal eine Pfütze. Die Mutter wurde wütend, sie drohte ihnen und rief: Lasst ihn, lasst meinen Jungen in Ruhe, er braucht Ruhe, Schlaf ist, was er jetzt am allermeisten braucht. Er braucht doch nur ein bisschen Schlaf.
Von da an nannten sie ihn Sandmann. Wir brauchen Schlaf, riefen sie, gib uns Schlaf, Sandmann.

Die ganze Zeit über saß die Mutter auf einem Stuhl an seinem Bett. Sie saß mit einem nassen Wickel und einem Lächeln über ihn gebeugt, tupfte seine Stirn und streichelte seine Wange. Wenn er den Arm nach ihr ausstreckte, war es, als griffe er in ein Fass mit Watte. In seinem Körper kam er sich vor wie in einem Astronautenanzug. Er hört sie sagen: Stell dir vor, du bist ein Astronaut, stell dir vor, du bist gar nicht krank.
Er stellte sich vor, er wäre ein Astronaut, er wäre auf dem Mond und es gäbe kein Haus, keine Geräusche, keine Mutter. Du, sagte er dann, auf dem Mond zu sein, das ist wie tot sein.

Heute ist es die Mutter, die krank ist, und er ist es, der sich um sie kümmert. Aus der Küche holt er die Sachen, die er von früher her noch kennt. Sachen, die einen wieder gesund machen. Die Hand des Sandmanns zittert wie ein Vogel im Wind, die ganze Zeit, sie zittert auch, als er den Löffel mit dem Hustensaft dem Mund der Mutter näherbringen will. Der Mund will sich nicht öffnen, die Vogelhand schwebt in der Luft und wartet darauf, dass der Mund endlich aufgeht. Der Sandmann nimmt die andere Hand zur Hilfe, er versucht die Zähne mit den Fingern auseinander zu stemmen, es gelingt nicht, der Mund der Mutter klemmt. Zum Schluss zieht er die Unterlippe ein Stückchen vor und kippt den Löffel darüber aus. Der Saft fließt über die rote Innenseite der Lippe, sammelt sich in der Spalte zwischen Lippe und Zähnen und tropft ihr an der Seite aus den Mundwinkeln. Die Tropfen fallen auf das Kinn, auf das Nachthemd.

Ihre Lippen sind kalt, ihr Gesicht ist kalt. Die Mutter ist kalt. Er nimmt das Fieberthermometer und schiebt es vorsichtig unter ihre Achseln. Das Thermometer zeigt dreißig Grad. Das ist zu wenig, das ist kalt wie ein Stein. Er wärmt sie, beugt sich über sie und haucht ihr seinen Atem auf die Stirn, um sie wieder warm zu machen, um sie wieder aufzutauen.
Beim nächsten Messen ist sie immer noch nicht wärmer. Eine Wärmflasche, denkt er, ein Kamillentee, und steht auf, um die Sachen zu holen.
Mach dir keine Sorgen, sagt er zur Mutter, ich komm ja wieder, gleich komm ich wieder.

Hin und wieder sieht er Dinge, die nicht da sind. Dinge wie den Vater. Der Vater, das sind fünf Buchstaben und zwei Erinnerungen.
Der Vater, wie er mit dem Sandmann Drachen steigen lässt. Im Herbst, wo es richtig Wind hat. Überall das Rot und Gelb der Bäume, der laubbedeckte Boden, der Blätterregen bei jeder kleinen Böe. Der Wind im Gesicht, der Wind in den Kleidern. Der Vater trägt den Drachen, ihn mit ausgestrecktem Arm weit von sich haltend, das Holzkreuz zwischen den Fingerspitzen, als wäre der Drache etwas Klebriges, etwas, das nachher möglicherweise nicht mehr abgeht von der Haut. Sie gelangen auf ein abgeerntetes Feld und der Sandmann bekommt die Schnur vom Vater in die Hand gedrückt. Das Feld liegt goldbraun im Abend. Er hat Angst, das sagt er dem Vater, Angst, den Drachen nicht halten zu können, mit dem Drachen in den Himmel gerissen zu werden. Er will nicht zu den Wolken. So sagt er es dem Vater: Ich will nicht zu den Wolken.

Der Vater lacht und lässt den Drachen los. Sofort wird er vom Wind gepackt, die Folie bläht sich auf, er schnellt in die Höhe, die Schnur strafft sich, schneidet in die Hand, der Sandmann schreit und reißt die Arme in die Luft. Am Himmel wird der Drache immer kleiner. Der Sandmann rennt, die Schnur in der Hand, dem Drachen hinterher. Er rennt so schnell er kann, schneller noch, will den Bodenkontakt nicht verlieren, will Schritt halten mit dem Drachen, seine Beine werden dick und schwer und ungelenk wie Baumstämme, sie stolpern über Maulwurfshügel, über die Stoppeln der Getreidehalme. Er läuft und lässt nicht los. Und hört den Vater lachen, immer leiser, der Drache zieht ihn immer weiter weg vom Vater.

Die zweite Erinnerung ist, wie er den Vater tot im Schuppen findet. Er hängt an einem Seil, wie ein zum Trocknen aufgehängter Fisch, sein Gesicht ist blau angelaufen, die Augen darin sind weit geöffnet, sie stehen hervor, als wollten sie raus aus dem Kopf des Vaters.

Er steht in der Küche und kann sich nicht erinnern, was er dort eigentlich wollte. Vor seinen Augen tanzen bunte Punkte, er schließt die Lider. Die Punkte sind noch immer da, nur der Hintergrund ist dunkler, die Tanzfläche sozusagen. Der Sandmann fasst sich an den Kopf, er presst die Fingerspitzen gegen seine Schläfen und versucht sich zu konzentrieren, nicht an die Müdigkeit zu denken. Es hat keinen Sinn, sich um die Müdigkeit zu kümmern, man darf ihr nicht nachgeben. Irgendwann kommt der Schlaf von selbst, jeder Versuch, ihn selbst herbeizuführen, versiegt im Morgengrauen.

Zurück im Schlafzimmer sieht er die Mutter. Er weiß wieder, weshalb er hier ist. Es ist ihr Geburtstag, die Mutter hat Geburtstag. Auf dem Fenstersims stehen die Blumen, die er mitgebracht hat, es sind Malven, ihre Lieblingsblumen, die Luft im Zimmer riecht nach ihnen. Die Malven sind ein dicker lila Punkt, die anderen bunten Punkte tanzen wild um sie herum. Auf dem Nachttisch steht der Schnaps. Es ist ihre Marke, sie trinkt nur diese eine. Früher war sie nicht so, früher machte sie keinen Unterschied bei den Marken, die Flaschen standen auf dem Boden, der Boden war voller Flaschen. Wenn man durchs Zimmer ging, musste man aufpassen, nicht auf die Flaschen zu treten. Es war nicht leicht, zur Mutter durchzukommen, sie lag auf dem Bett und stand nicht mehr auf. Das war nach der Sache mit dem Schuppen. Sie stand einfach nicht mehr auf. Sie schickte ihn fort, neue Flaschen holen. Immer mehr Flaschen brachte er ihr, bis er eines Tages vor lauter leeren Flaschen nicht mehr zu ihr ans Bett vordrang. Sie mussten etwas tun. Ein Mensch ist keine Insel.

Am nächsten Tag haben sie den Vater beerdigt. Draußen unter den Eichen, zwischen den Wurzeln. Der Sandmann dachte daran, wie die Wurzeln durch seinen Kopf wuchsen, hinein in seine hohlen Augenlöcher.

In der Kommode findet er ein sauberes Bettlaken. Vorsichtig zieht er die Decke von der Mutter herunter. Die Mutter liegt schlaff im Bett, wie ein Fussball, aus dem die Luft entwichen ist. Die Haut ist kalt, kälter noch als vorhin. Er fasst das neue Laken an den Zipfeln und breitet es über die Mutter. Er rollt die Mutter an den Bettrand, es ist nicht leicht, ihre Arme sind etwas gebeugt, sie ist steif wie ein Brett. Durch die Anstrengung geht sein Atem schneller, es ist das einzige Geräusch im Zimmer, die Mutter ist still.
Er hüllt sie in das Laken, wickelt es um sie herum, sodass nichts mehr von ihr zu sehen ist. Er schiebt seinen Arm unter den Bauch der Mutter und versucht sie anzuheben. Es gelingt nicht, sie ist zu schwer, er ist zu müde. Alleine ist die Sache nicht zu schaffen.

Der Sandmann klingelt bei dem dicken Mädchen, das eine Etage höher wohnt, über dem Kopf der Mutter. Das Klingeln hallt durch eine leere Wohnung, das dicke Mädchen ist noch nicht zuhause. Er wird warten müssen, er geht zurück in die Wohnung der Mutter und stellt den Fernseher an. Er sieht sich einen Tierfilm an, es geht um Winterschläfer, Tiere, die Winterschlaf halten. Sie sind wie tot, wenn sie schlafen; sie schlafen bis es wieder wärmer wird. Die meisten sind klein und haben braunes Fell. Er würde sie gerne fest an sich drücken, an seine Brust, so fest es geht. Wegen dem Fell, weil sie weich und warm sind. Und weil er ihren Schlaf will, den Schlaf aus ihnen herauspressen möchte.

Der Sandmann horcht. Draußen vor der Tür ächzt die Treppe unter schweren Schritten. Wumm, macht es, wumm wumm. Das dicke Mädchen kommt heim. Er öffnet die Tür und blickt das Treppenhaus hinauf, er ruft. Hallo, ruft er.
Erschrocken dreht sich das dicke Mädchen um, sie wird rot, als sie den Sandmann sieht. Sie wird ständig rot, jeden Augenblick wird sie rot, sie ist wie eine Ampel, die verrückt spielt. Hallo du, sagt er, ich brauche deine Hilfe.

Das dicke Mädchen stellt keine Fragen, sie tut, was er sagt, tut, was sie kann. Weil sie glaubt, dass der Sandmann sie liebt oder sie zumindest gern hat. Sie kennt ihn vom Sehen. Sie ist nicht gewohnt, dass die Leute mit ihr sprechen. Als der Sandmann Dinge zu ihr sagt, wird sie nervös, sie ist zu aufgeregt zum Fragenstellen. Du musst mir tragen helfen, sagt der Sandmann. Sie stehen vor dem Bett der Mutter und das dicke Mädchen starrt auf das längliche weiße Bündel. Nimm du die Seite da drüben, sagt der Sandmann, ich nehm die andere. Pass auf, dass du nirgends anstößt.
Er schaut stumm zu, wie sie die Hände auf das Laken legt, zaghaft darüber streicht und die Stirn runzelt, als die Umrisse von Füßen aus dem weißen Stoff hervortreten. Guck nicht hin, sagt er.

Draußen ist es kalt, die Sonne steht tief, das Haus wirft einen langen Schatten. Der Sandmann verschwindet in der Garage, zu der die Mutter einen Schlüssel hat. Als er wiederkommt, schiebt er eine Schubkarre vor sich her, darin liegt ein Spaten. Hier, sagt er, du trägst den Spaten. Gemeinsam hieven sie das Mutterpaket auf die Ladefläche, das dicke Mädchen stöhnt unter der Last, Schweißperlen glänzen auf ihren breiten Nasenflügeln. Die Haare sind verschwitzt und kleben ihr seitlich am Gesicht. Sie wischt sie nicht weg. Sie ist voller Schweiß, wie eingefettet, wie fieberkrank. Der Sandmann blickt zu Boden, als suche er kleine Tiere, die über seine Füße turnen.

Sie machen sich auf den Weg, der Sandmann schiebt die Schubkarre, das dicke Mädchen trägt den Spaten und folgt ihm. Links und rechts am Wegrand stehen Bäume, die Eichen, unter denen auch der Vater liegt, ihre Kronen berühren sich in der Mitte, das Sonnenlicht wirft helle Flecken auf den sandigen Boden. In den Ästen sitzen Vögel, sie trällern vor sich hin, ab und zu werden sie durch irgendetwas aufgescheucht und man hört ihr Flügelschlagen, ein Rauschen zwischen den Blättern. Die Vögel sind immer da, auch im Winter, sie sterben nicht. Man sieht keine toten Vögel.

Nach einer Weile beginnt er zu sprechen. Die Worte bilden vor seinem Mund kleine Wölkchen, sie verpuffen und schon beim nächsten Wort kann man das letzte nicht mehr sehen. Wir müssen ein Loch graben, sagt er, für eine Beerdigung. Wir beerdigen das da. Er macht eine Kopfbewegung in Richtung der Schubkarre.
Die in Tuch gewickelten Beine der Mutter ragen seitlich über die Schubkarre hinaus, sie sind steif und wippen auf und ab beim Fahren. Das Mädchen sagt nichts, sie stellt keine Fragen, sie hat sich das Fragenstellen abgewöhnt. Denk nicht soviel, hat die Mutter den Sandmann ermahnt, versuch zu schlafen, man kann nicht gleichzeitig schlafen und denken.

Die Sonne ist rot, so rot, dass ihr Rot für den ganzen Himmel reicht. Am hinteren Ende des Himmels vermischt sich das Rot mit dem Blau. An der Grenze ist der Himmel lila. Die Wolken haben einen schmalen Rand aus purpurnem Licht, so wirken sie wie aus einem fremden Himmel ausgeschnitten und dort oben hingeklebt.
Das Gelände fällt zum Fluss hin ab, es ist eine Wiese mit hohem Gras. Während sie nach einer geeigneten Stelle für das Loch suchen, hören sie das Wasser plätschern. Im Winter friert der Fluss zu, von einem Tag auf den anderen liegt eine Eisschicht auf dem Wasser, es geschieht vollkommen lautlos. Im Frühling ist es anders, dann hört man wie das Eis wegschmilzt. Zuerst ist da ein leises Krachen, wenn sich die Risse an der Oberfläche bilden, und darauf folgt ein Scharren und Planschen, wenn die Eisplatten brechen und ins Wasser rutschen.

Immer wieder bleibt der Sandmann stehen und stößt den Spaten in die Erde. Endlich ruft er: Hier. Hier machen wir das Loch.
Das dicke Mädchen sieht ihm eine Weile beim Graben zu, dann wendet sie den Blick zum Himmel, sie schaut zur Sonne am Horizont und kneift die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, die Haut wellt sich rund um ihre Augen. Der Sandmann gräbt lange, die Erde ist hart, unter dem Gras sind Steine und es kracht jedesmal, wenn er mit dem Spaten dagegenstößt. Die Mutter liegt daneben auf dem Gras, das Bettlaken hat grüne und braune Flecken von der Erde und dem Gras. Da, wo die Nase sitzt, ragt ein Hügel aus dem Stoff.

Als das Loch tief genug ist, geht er vor der Mutter in die Hocke. Er lehnt sich gegen ihren Körper und versucht sie in das Grab zu schieben. Um seine Füße herum biegt sich das Gras im Wind, die Halme reichen ihm bis an die Knie, sie kitzeln seine Beine. Die Mutter bewegt sich kein Stück. Das Mädchen stellt sich neben ihn und gibt der Mutter einen Tritt in den Rücken. Wenige Tritte später liegt die Mutter ganz im Grab. Mit einem scharrenden Geräusch bröckelt etwas Erde vom oberen Rand ab, beim Hineinfallen lockert sich das Tuch ein wenig und Haare kringeln sich dazwischen hervor. Der Sandmann starrt auf die Haare, kleine graue Locken, schmutzig von der Erde. Er hat gehört, sie wachsen weiter, immer weiter.

Vom Fluss ziehen die ersten Nebelschwaden das Ufer herauf. Es bleibt nicht viel Zeit.
Kannst du ein Gebet, fragt er das dicke Mädchen. Sie zuckt die Schultern und schürzt die Lippen. Sie wird wieder rot. Die Sonne ist nicht ganz unbeteiligt daran. Er wendet sich ab, kniet sich hin und streicht mit den Fingern durch das Gras. Früher wusste er eine Menge Gebete, er hat sie alle vergessen, wie er so vieles vergessen hat, zuerst die Namen der Dinge, dann die Dinge selbst. Ohne Schlaf gehen die Erinnerungen kaputt, sie leben in den Träumen und nur dort.
Er fühlt, es wäre wichtig, noch etwas zu sagen, doch ihm fällt nichts ein, sein Kopf ist erfüllt von einem Zischen wie von entweichender Luft. Die bunten Punkte sind wieder da, wie immer, wenn die Sonne untergeht. Mit der Nacht beginnen die Qualen. Er beugt sich über das Loch, lässt die Blicke über das weiße Tuch gleiten und reibt sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Seine Zunge ist schwer von den beiden Worten, die auf ihr liegen.
Schlaf gut, flüstert er.

In der Tasche hat er ein Teelicht. Seine Finger tasten nach dem Feuerzeug, die Hände zittern weiter, aber das Zittern lässt schon nach. Er findet das Päckchen mit den Schlaftabletten, holt es heraus und dreht es hin und her. Es ist noch nicht leer, ein paar Tabletten sind noch übrig und klappern gegen die Wände. Feierlich streckt er den Arm über das Grab, zählt stumm bis zehn und lässt das Päckchen schließlich los. Das dicke Mädchen zuckt bei dem Geräusch zusammen. Schütt es zu, sagt er. Und markier die Stelle, damit wir sie später finden, wenn wir wiederkommen.
Sie macht sich sofort an die Arbeit, deckt die Mutter zu, Schaufel für Schaufel füllt sich das Loch wieder mit Erde. Warum sie das tut, weiß er auch nicht. Vielleicht, weil sie ihn liebt oder ihn zumindest gern hat. Es ist ihm egal, er sinkt ins Gras und schließt die Augen, um nichts mehr zu sehen. Die Hand hat aufgehört zu zittern, in der selbstgeschaffenen Einsamkeit hinter seinen Lidern ist es dunkel, sonst nichts, keine Punkte. Nichts. Der Schlaf kommt in Gestalt eines Regenbogens, um die Welt zu reparieren, sie neu mit Farben zu bemalen, für die nächsten neunundneunzig Jahre.

 

Hallo Wolkenkind!

Der Sandmann, sein Handlen, seine Gedanken über den Vater, die Haltung der Mutter gegenübr...Du beschreibst wunderbar eindringlich und spielst mit den Formulierungen und Vergleichen, alles zusammen gibt ein unvollständiges und intensives Bild, voller Möglichkeine, in alle Richtungen weiter zu malen.
Auf der einen Seite die Libe zur Mutter, das Schlafen-lassen als etwas positives, der Hustensaft, die Wärmflasche, die Malven. Auf der anderen Seite das Grab, der Mord, die Tritte des Mädchens...
Sprachlich und stilistisch absolut gelungen, und der Inhalt, der Charakter des Sandmanns, ich glaube, dieser Text wird mich noch eine Weile beschäftigen. Zum meckern hab ich ncihts gefuenden ich finde die Geschichte rundherum gelungen.

schöne Grüße
Anne

 

hi Anne

Danke für die rasche Antwort, find ich natürlich klasse, dass dir auch diese Geschichte gefällt. Obwohl ich mich diesmal hier ins Seltsam-Forum verkrümelt hab :rolleyes:
Die Geschichten werden immer länger und die Sätze immer kürzer, einigen ist das Lesen vermutlich schlicht zu anstrengend, ich kann das gut verstehen.
Genau wie du sagst war es hier die Doppeldeutigkeit, auf die es mir ankam, die Handlung ist ja denkbar einfach, Müdigkeit macht Mörder, sozusagen, nicht wirklich seltsam das ganze, allerdings etwas seltsam geschrieben. Hoffentlich trauen sich noch mehr :)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,

das ist weder "seltsam" noch seltsam erzählt. Besser als mit Deinen kurzen Sätzen hättest Du diese stille, enorm beeindruckende Geschichte nicht erzählene können.
DIe Länge wird viele vom Lesen abhalten, das Problem ist mir bekannt... Schade drum.
Ich wünsch Dir viele Leser fü die Geschichte, und viel Erfolg damit.

Gruß
Bobo

PS: einziger, winziger Mäkelpunkt:

"Vorsichtig zieht er die Decke von der Mutter herunter. Sie ist blass und kalt.."

Die Decke...?

 

Hallo Wolkenkind,

also ich fand die Geschichte eigentlich auch nicht seltsam, ich glaube eher traurig, das Schicksal Deines Prots hat mich schon sehr berührt.
Der ganze Text ist sehr bildhaft formuliert, besonders gut haben mir die detaillierten Stellen gefallen, wo du das Gesicht der Mutter beschreibst.
Fehler sind mir auch keine aufgefallen. Kompliment.

LG
Blanca

 

Hallo Bobo, hallo Blanca

Danke fürs Lesen und die Anmerkungen, ich freue mich natürlich, dass die Geschichte ankommt, hätte ich nicht unbedingt erwartet, da ich mich mit der Story mal wieder auf neues Terrain gewagt habe.

Die Stelle mit der Decke hab ich geändert.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

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