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Ins Trudeln geraten

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22.01.2002
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Ins Trudeln geraten

"I am flying...forever..." sang es in seinem Kopf, als er das Segelflugzeug von der letzten Verbindung zum Boden löste, jenem mehrere hundert Meter langen Tau, das den Flieger wie eine Nabelschnur mit Mutter Erde verbindet. Vorschriftsmäßig betätigte Juri den Ausklinkmechanismus für das Windenseil drei Mal, während er den Segler in der Normallage stabilisierte, aber seine Sinne waren auf die endlose Weite vor ihm gerichtet. Selten hatte er solch klares Wetter erlebt, solch eine weite Sicht. Die Thermik dieses Septembertages trug ihn wie von selbst höher in den Himmel. Am Horizont entdeckte er das silberne Band der Nordsee und staunte ergriffen.

"Forever flying..." Juri gönnte der Instrumententafel nur einen flüchtigen Blick; mehr instinktiv erkannte er, daß sämtliche Geräte seine ideale Fluglage bestätigten. Als wäre dies nötig! Sein Körper fühlte das auch ohne technische Hilfe! Der Flieger glitt ruhig durch die Luft, als würde er von Engelsflügeln getragen.
Juris schmale Lippen zogen sich zu einem amüsierten Schmunzeln, weil ihm selten derart romantische Vergleiche einfielen. Dazu war er zu nüchtern und er war stolz darauf. Für verträumte Gefühlsregungen war sein großer Bruder zuständig, aber der war zu feige zum Segelfliegen. Einmal hatte Juri ihn in einem Zweisitzer mit nach oben genommen. Dort hatte ihn der Teufel geritten und er hatte den Flieger absichtlich ins Trudeln gebracht. Grischa war ihm bis heute böse deswegen.
Juris Grinsen vertiefte sich zu einer wenig einnehmenden Grimasse, doch das wusste er nicht. Da niemand seine höhnischen Gesichtszüge sah, störte sich auch keiner daran. Juri konnte seinen sonntäglichen Höhenflug unbehelligt genießen. Gefühlvoll betätigte er Quer-und-Seitenruder, um eine leichte Rechtskurve einzuleiten. Der Segler neigte sich schräg, ohne die 30 Prozent Schieflage zu erreichen. Vor Juris Augen kippte der Horizont. Das silberne Meeresband wich der Sicht auf einen wuchernden Stadtmoloch. Hamburg.
Selbst aus dieser Höhe meinte Juri, den hektischen Trubel wahrzunehmen. Hupende Autos, die rücksichtslos aneinander vorbeidrängelten. Bürogebäude, steril mit Klimaanlagen ausgestattet, die den Menschen die Luft zum Atmen nahmen. Verpestete Industriegebiete, der Containerhafen, aber den erkannte Juri nur, weil er wusste, wo er ihn suchen mußte.
Er kurvte weiter bis sich die spätsommerliche, schleswig-holsteinische Landschaft unter ihm zeigte. Kein Land, das er sonderlich schätzte. Es war ihm zu flach, zu langweilig, zu spießig. Wie gerne wäre er zurückgekehrt in die Staaten. Welch Raum gab es dort zum Fliegen! Grandiose Felsformationen im Westen; Juri hatte sie im Sommer mit einem Heißluftballon erkundet. Doch bei seiner exaltierten Stiefmutter zu leben war ihm unerträglich geworden.

"Flying...," dachte Juri beschwörend. Hier oben konnten die ihn alle gerne haben! Hier war er frei! Sollte sich das platte Land unter ihm noch so behäbig im Mittagslicht rekeln. Der Himmel war überall derselbe - hier und in den Staaten. Und die Luft trug ihn wie auf Engelsflügeln...

"Werd' nicht sentimental!" mahnte sich Juri.
Es wurde Zeit, daß er seine gemächliche Kurverei aufgab. Fast zornig ging er in einen Sackflug über, stellte das Seitenruder in seinen maximalen Ausschlag, und das Flugzeug geriet ins Trudeln. Unvermittelt füllten erntegelbe Äcker Juris Blickfeld. Er kreiste wild wie auf einer vibrierenden Spiralfeder abwärts. Die Nase seines Fliegers wurde zur Spitze eines schlingernden Pfeils, der nach seinem Abschuss unkontrollierbar und unaufhaltsam sein Ziel suchte. Nichts schien Juri retten zu können!
Er genoss diese Dramatik stets auf's Neue! Berauscht von seiner Angst erlebte er, wie die Erde auf ihn zuraste. Wenn es ihm nicht gelang, die Maschine hochzuziehen, würde er sich in den Boden bohren. Ein Adrenalinstoß überschwemmte ihn bei der Vorstellung, in welcher Todesgefahr er rotierte! Die Hand am Höhenruder zitterte, weil sie ihm kaum gehorchen mochte. Fast selbständig wollte sie den Hebel bewegen, ihn zurückschieben, um der Gefahr zu entrinnen. Aber Juri beherrschte sich und wartete weitere, atemlose Sekunden, obwohl es in seinen Ohren zu hämmern begann.
Dann hielt er die Angst nicht mehr aus. Sie schlug um, wurde zur Panik und er riss an den Knüppeln, um die Maschine abzufangen. Oft genug hatte er dieses Manöver geübt, darum saß jeder Griff. Die Gefahr war keine gewesen. Sicher hob sich die Nase. Der Sturzflug wurde zum schwerelosen Gleiten, nun wesentlich tiefer als vor wenigen Augenblicken. Nordsee und Hamburg waren verschwunden.
Dafür entdeckte Juri Menschen am Rande des Flugplatzes. Er fragte sich, ob sie ihn bewunderten. Oder ob er sie in Furcht und Schrecken versetzt hatte? Wahrscheinlich dachten die, er wäre beinahe abgestürzt. Hatten sie erwartet, er würde sich mit seinem Fallschirm aus der Pilotenkapsel retten? In dieser Höhe war das möglich, wenn auch schwer zu bewerkstelligen aus einem trudelnden Flieger in der Vertikalen.

Juri sang: "I am flying forever! Ihr Gaffer da unten! Seht ihr mich?! Schaut her! Ich fliege!"
Tatsächlich wurde er von einigen Zuschauern am Boden beobachtet. Ein Familienvater, der mit seinen Söhnen eine sonntägliche Radtour unternahm, damit die Mutter derweil in Ruhe den Braten bereiten konnte, zückte seine Videokamera. Er war mit den Jungs zum Flugplatz gefahren in der Hoffnung, rasante Bilder von den aufsteigenden und landenden Sportseglern zu filmen. Jetzt ärgerte er sich ein wenig, weil er die dramatische Aktion Juris nicht festgehalten hatte.

"Vielleicht passiert ihm noch so ein Fastabsturz," meinte sein Jüngster sensationslüstern. "Lass uns ein wenig warten."
Auch die beiden Männer am unteren Ende des Flugfeldes warteten. Mit ihren düsteren Augen beobachteten sie Juri seit dessen Start, ohne daß er etwas von ihnen ahnte. Geduldig lauerten sie auf ihren Einsatz. Noch flog das Opfer zu hoch, doch es schraubte sich langsam näher. Der Erdanziehung würde es nicht entgehen - und ihnen auch nicht!
Juri setzte zu einer letzten Platzrunde an. Geschickt schwenkte er in die optimale Kurvenlage. Der Größere der beiden Männer langte einen Sender aus seiner Jackentasche. Sein Freund hob abwiegelnd die Hand.

"Noch nicht."
Der Mann verharrte mit seinem Daumen über dem unscheinbaren Knopf in der Mitte des Senders. Sein Gesicht blieb reglos, ebenso wie die starre Miene des Zweiten. Sie gerieten kurz in Juris Blickfeld, aber Juri lächelte nur hoffärtig, als er sie gewahrte. Das waren bedauernswerte Würmer dort am Feldrain, die sich neidisch ihre Köpfe nach ihm verrenkten. Das Aufblitzen einer Antenne im Sonnenschein alarmierte ihn nicht, als der Mann seinen Funksender auf den Flieger richtete. Juri leitete die nächste Kurve ein.

"Jetzt," befahl der Freund. Tränen standen ihm in den Augen, als er an seine Tochter dachte, die vor drei Tagen den Kampf gegen ihre Drogensucht verloren hatte.
Als könne Juri ihn hören, murmelte der zweite Vater: "Viel Spaß, du Mistkerl. Heroin an unschuldige Kinder verkaufst du nie wieder!"
Er presste den Knopf. Gleich darauf steckte er den Sender in die Tasche zurück. Beide Männer wendeten sich kaltschnäuzig ab. Das Geschehen am Himmel interessierte sie nur peripher, denn sie wussten, daß sie Juri in die Hölle geschickt hatten. Die Einzelheiten waren ihnen gleich. Darum schauten sie nicht auf, sondern strebten zügig zu ihrem gemieteten Kleinwagen. Ruhig fuhren sie davon, weil sie kein Aufsehen erregen wollten. Jede Hast wäre verdächtig. Niemand sollte ihre Rache für das erlittene Leid jetzt noch konterkarieren!
Die Auswirkungen des kurzen Daumendrucks waren für Juri fatal. Er hörte nichts, denn das gleichmäßige Rauschen der vorbeiziehenden Luft übertönte die winzigen Explosionen. Kein Feuer schoss aus dem linken Flügel, das den Sprengsatz verraten hätte. Er war professionell montiert und zerstörte sich selbst ebenso vollständig, wie die Verbindung zum Querruder.
Der zweite Sprengsatz detonierte zeitgleich, denn er wurde von demselben Signal gezündet wie der am Querruder. Doch er vernichtete das Höhenruder nicht wie geplant, sondern sprengte nur ein unbedeutendes Loch hinein. Dennoch reichte die Wirkung, um das Segelflugzeug fast unkontrollierbar zu machen.
Die Kurve wurde abrupt steiler! Juri versuchte vergeblich, die Maschine auszurichten. Das linke Querruder schien sich verhakt zu haben. Das Höhenruder streikte! Der Segler geriet ins Trudeln!
Juri war, als hätte sich ein Mahlstrom am Himmel geöffnet. Unerbittlich sog er ihn in die Tiefe! Wie in einer Zentrifuge wurde er in den Sitz gepresst...

"forever... dieing!"
Der Schock lähmte Juri für Sekundenbruchteile die Beine. Dann blieb ihm keine Zeit mehr zum Denken! Wieder wirbelte das eben noch so langweilige Land auf ihn zu! Doch jetzt schien der frisch geerntete Acker nicht länger beschaulich. Steinhart und erbarmungslos erwartete er die abschmierende Maschine!
Der Boden verwischte zu farbigen Schlieren vor Juris Augen. Der Horizont verschwand! Das Grün der Wiese quoll ihm drohend entgegen! Panisch zerrte Juri an den Knüppeln, sah im Augenwinkel, wie die Nadel des Höhenmessers warnend kreiste. Schon erreichte er die kritische Marke von 100 Metern. Jetzt bot der Fallschirm keine Rettung mehr!
Juri kämpfte verbissen. Die Zeit dehnte sich. Er presste das Seitenruder gegen die Drehrichtung, um dem Wirbeln Einhalt zu bieten. Seine Ohren dröhnten. Vor den Augen flackerten seltsame Bildfetzen. War dies der berüchtigte Film seines Lebens, der wenige Sekunden vor dem Tode ablaufen soll, glaubte man den Redensarten?! Behütete Kindheit, wilde Jugend, das Übliche halt, nur dass er seine Unabhängigkeit ein wenig forciert hatte mit dem Verkauf von Drogen? Zuhause war es ihm unerträglich geworden nach jenem zuckersüßen Hochzeitstag vor 4 Jahren...
Wo war seine Mutter?!
Tot! Sie wartete im Himmel auf ihn. Bloß glaubte er nicht an diesen göttlichen Quatsch! Seine Mutter verrottete seit 6 Jahren in ihrem schweren Eichensarg. Ein klares, orthodoxes Kreuz schmückte ihr Grab, passend zu der feierlich-konservativen Beerdigungszeremonie. Anschließend hatte sein Vater sich aufgemacht, diese schrille Witwe aus Texas zu ehelichen. Auch jetzt noch schäumte Juri vor Wut! Wie konnte der Vater das heilige Bild seiner Mutter dermaßen mit Füßen treten?!
Doch wo war seine Mutter jetzt?! In wenigen Sekunden würde er auf dem Boden zerschellen, aber seine Mutter zeigte sich nicht! Hatte sie ihn verlassen?! Juri zerrte empört am Höhenruder! Spürte eine Bewegung! Es reagierte! Das Grün des Flugfeldes schwand. Blau tauchte auf. Himmel. Er stieg in den Himmel! Tot?! Nein! Keine Engelsflügel!
Das Segelflugzeug schrammte über die Wiese. Es wippte zur Seite. Der linke Flügel pflügte die Erde. Riss ab. Zerplatzte. Trümmer schossen umher. Der Segler drehte sich unkontrolliert. Überschlug sich. Juri prallte mit dem Kopf gegen die Instrumententafel. Verlor die Besinnung, bevor er begriff, daß die Bruchlandung misslang, sich zu einer Katastrophe auswuchs.
Der zweite Flügel brach ab, als das Flugzeug wie ein Gummiball über das Feld hüpfte. Wieder und wieder überschlug es sich, schien kein Ende zu finden. Zu groß war der Schwung. Die Energien, die am Rumpf des Fliegers zerrten, entluden sich in wilden Stößen. Die Haube wurde abgesprengt, doch da spießte sich die Nase des Seglers bereits in den Mutterboden. Vibrierend federte der Rumpf nach. Juri schlenkerte bewusstlos in seinen Gurten. Kopfüber, blutüberströmt, weil ihn umherfliegende Splitter aufgeschlitzt hatten. Fast tot, aber sein Herz hielt durch, bis die Rettungssanitäter ihn erreichten. Erst da gab es auf und mußte mit Elektroschocks wiederbelebt werden.
Der Familienvater drehte den Film seines Lebens!

 

Hallo Delphi (Salut!! :D )

Nachdem mir deine letzte Geschichte gut gefallen hat, musste ich gleich die neue lesen.

Sie ist sowohl sprachlich als auch rechtschreiberisch einwandfrei.

(Zwei kleine Ausnahmen: Bei "Quer-und Seitenruder" fehlt ein Leerzeichen vor dem "und"; das Wort "30 Prozent Schieflage" hätte ich außerdem zusammengeschrieben.)

Der Stil klingt sehr professionell. Schreibst du beruflich?

Nun zum Inhalt:
Man merkt, dass du dich mit Segelflugzeugen gut auskennst. Deine exakten Beschreibungen wirken sehr realistisch und überzeugend, sodass man sich gut in die Geschichte hineinversetzen kann. Besonders toll finde ich die gut durchdachte Idee mit der Rache der beiden Männer und den Schlusssatz, der zum Nachdenken anregt.

Was mich interessieren würde: Wie lange hast du für die Geschichte gebraucht?

Auf jedenfall weiter so!!

:) :) :)

Michael

 

Hallo Delphi,

Ich bin begeistert von deinem Fachwissen. Wenn man diese Geschichte liest, glaubt man das habe ein proffessioneller Segelflieger geschrieben.
Wenn du keiner bist, dann bekommst du ein riesen Lob für deine Recherchen.
Auch dein Stil ist nicht schlecht. Auch wenn die Einbauten von Songtexten nicht gerade originell sind.
Was mir bei der Geschichte fehlt, ist das was das Genre eigentlich versprechen sollte. Die Spannung.
Ausserdem finde ich, dass du einen zu grossen Sprung machst.
Am Anfang schreibst du nur über die Gedanken und die Familie des Protagonisten. Erst viel zu spät kommt man darauf, dass er eigentlich ein Schweinehund ist.
Irgendwie mochte ich den Kerl sogar. Er hatte irgendetwas lausbübisches an sich.
Das er aber ein Dealer ist kam für mich etwas zu überraschend und deswegen unglaublich.
Aber wie gesagt, das ist meine Meinung.

nix für ungut.

 

Salut! :)

Vielen Dank für eure Kritiken, die mich sehr überraschten. Denn - ganz ehrlich :) - ich bin noch nie geflogen!!! Ich kenne nur den wundervollen song sailing von R.Stewart, worin er auch vom Fliegen schwärmt. Und ich habe mal ein Segelflugzeug bei solch einem Beinaheabsturz beobachtet. Der Rest ist Fantasie und Recherche. :D

Zu Hennaboindl: Eigentlich ist dieser Text der Prolog zu einem Roman. Der andere - Das kleinere Übel - ist ebenfalls daraus. Inzwischen bin ich langsam am Ende der Geschichte angekommen.
>Ins Trudeln geraten< habe ich etwas verändert, damit eine KG daraus wird, aber ich vermute, man merkt ihm das langsamere Erzähltempo an, das längere Romane im Vergleich dazu haben - besonders meine, wie ich gestehen muß, weil ich Detailbesessen bin.
Der Held soll durchaus nicht unsympathisch sein. Wer behauptet, dass alle Kriminellen miese Typen sind?! Die grübeln auch über ihre Familien und ärgern sich über Alltägliches und rechnen nicht mit der Rachsucht ihrer Opfer!

Zu Palladon: Was meinst du mit Verdreher? Und mit Interpunktion? Das sind doch Satzzeichen, oder? Kannst du mir genauer die Stellen zeigen, die ich ändern sollte? :)

Auf Michaels Frage: der Text hat mich einen Tag plus nacharbeiten gekostet. :)

c.u. delphi

 

Hi! Überraschend wenig Zeit, wie ich finde. Vor allem, wenn man an die vielen Details denkt, die du beschreibst. Na, das Ergebnis kann sich jedenfalls sehen lassen.

Michael

[ 30.04.2002, 20:49: Beitrag editiert von: Michael ]

 

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