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Innerer Dialog mit: Postal
going postal: umgangssprachliche Bezeichnung, vor allem in den USA, für gewaltsames Herumwüten, Amoklaufen.
“ICH BRING SIE UM!”, schrie der junge Mann in der schwarzen Kutte.
“Okay, was ist diesmal passiert, Postal?”, sagte Egon, der im Türrahmen von Postals Zimmer stand, “Meine Güte, wir sollten diesen Raum echt mal schalldämpfen lassen, man hört dich bis ins Wohnzimmer.”
“ICH MACH DIE KALT!”, schrie Postal, während er seine Messer von der Wand riss.
“Ja, ja, erspar mir die Dramatik. Also, wer ist dir diesmal auf den Schlips getreten?”
“DIESE ARSCHLÖCHER VON NACHBARN HABEN SICH ÜBER MICH LUSTIG GEMACHT!”
Ego seufzte kurz, dann frage er: “Okay, was haben sie über dich gesagt?”
“DAS ICH EIN SCHWÄCHLING BIN!”, schrie er, während er Benzin auf mehrere Glasflaschen verteilte, “DENEN ZEIG ICH, WER HIER SCHWACH IST!”
“Du willst also zwei Leute ermorden, weil sie was Gemeines über dich gesagt haben, sehe ich das richtig?”, fragte Egon, während er sich die Stirn massierte.
“GENAU! ICH WERDE ES ÜBER DIE FREVLER FEUER UND SCHWEFEL REGNEN LASSEN UND GLUTWIND SOLL DER LOHN FÜR IHRE SÜNDE SEIN!”
“Wow, echt jetzt?”, sagte Egon mit einem Augenrollen, “Da hat jemand zu viel Zeit in der Metal-Abteilung der Mediathek verbracht!”
“Nein, das stammt aus der Bibel.”, erklärte Postal in einen nun erstaunlich ruhigen Ton.
Egon zog die rechte Augenbraue hoch: “Wirklich?”
“Er hat recht.”, sagte Padre Thomas, der mit einer Tasse Kaffee an Egon vorbei ging, “Das war gerade eine recht gelungene Paraphrasierung von Psalm 11, Vers 6.”
“Hm.”, murmelte Egon und zuckte mit den Schultern.
“Tja, man lernt jeden Tag was Neues, was?”, merkte der Mann in der Kutte an.
“Ja, das ist wohl wahr… Wie auch immer, du wirst diese Leute nicht umbringen!”
“WIESOOOOOOOO?!?! SIE VERDIENEN DEN TOD!”, brüllte Postal wieder wie eine Box auf einen ACDC-Konzert.
“Wirklich? Sie haben dich beleidigt, wenn man das überhaupt so nennen kann, und du willst sie umbringen? Vielleicht bin ich ja etwas zu sensibel, aber die Todesstrafe erscheint doch etwas… Wie soll ich sagen… Ach ja: übertrieben in diesem Fall findest du nicht auch?!”
“NEINNNNN! … Äh…”, Postal zögerte, “Ich meine...”
“Postal, ich weiß, wie du dich fühlst.”, Egon legte seine Hand auf die rechte Schulter des Wüterichs, “Logischerweise, ich bin du. Wir… Ich meine: Du bist wütend, verletzt und fühlst dich missachtet. Und du willst Gerechtigkeit und…”
Egon unterbrach sich, schüttelte den Kopf und sagt: “Nein, das stimmt nicht: Du willst Vergeltung. Denn würdest du Gerechtigkeit wollen, dann würdest du erkennen, dass Gewalt definitiv nicht die angemessene Strafe für dieses “Vergehen” ist. Und weißt du was? Du wirst nicht da rausgehen und sie abschlachten, weil du das ganz genau weißt, auch wenn dein Zorn es gerade übertönt.”
“Du… Hast recht.”, sagte Postal und warf sich auf seinen abgenutzten Bürostuhl.
“Öfter mal!”, sagte Egon mit einem breiten Grinsen, “Wie dem auch sei ich glaube, du solltest deinen Frust an irgendetwas auslassen, also habe ich uns ein neues Videospiel gekauft. Heißt Postal Redux, soll ganz gut sein.”
“Was macht man da?”
“Man läuft Amok und bringt alles um, was sich bewegt, während die Polizei erfolglos versucht, dich dingfest zu machen. Also das, was du im echten Leben gemacht hättest, bloß das die Polizei dich erfolgreich dingfest machen würde.”
“Geil! Schmeiß rüber!”
“No problemo!”, sagte Egon und warf Postal die CD-Box von rüber, welcher dieser sofort eifrig auspackte.
“Ist das wirklich die richtige Wahl? Ich meine, wer weiß, ob das nicht gerade dazu führt, dass er Amok läuft?”, fragte Morales, der gerade vorbeigegangen und nun ängstlich vom Flur mit ansah, wie Postal zu zocken anfing.
Egon sah ihn fassungslos an: “Echt jetzt?! Die alte “Videospiele führen zur Gewalt im echten Leben”-Masche?! Ich muss den Padre wirklich sagen, dass er sich nicht so viele ultrakonservative Prediger reinziehen soll, deren einziges Wissen über Videospiele von schlecht recherchierten Artikeln und anderen ultrakonservativen Predigern kommt.”
“Aber die Frage bleibt: ist es gut, wenn er solche Medien konsumiert? Ist es gut für seine Denkweise, meine ich.”
Egon kicherte ein wenig bei den Gedanken, dass er trotz mehreren Beweisen des Gegenteils diesen Bedenken immer noch Aufmerksamkeit schenkte: “Ach was, wir sind erwachsen, Morales. Das Schlimmstem was passieren kannm ist, dass er irgendwo wegen ner unfairen Leveldesign-Entscheidung nicht weiterkommt und dann den Rest des Abends schmollt. Ich denke, wir müssen uns erst Sorgen machen, wenn wir keine Freunde, keine Familie und keinen Sinn mehr im Leben sehen. Du weißt schon, ein Mann, der nichts zu verlieren hat, und so weiter. Achten wir lieber darauf.”
“Das werde ich, Boss!”, sagte Morales bereitwillig.
“Gut. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe mich heute extrem aufgeregt, mit mir selbst gestritten und eine unnötige philosophisch-moralische Diskussion über gewalttätige Medien geführt. Zur Entspannung werde ich jetzt in den Flugmodus gehen und vor mich hin starren, während Postal sich abreagiert.”
“Cool. Bis später dann Boss.”, sagte Morales, doch Egon hörte es schon nicht mehr.
Er starrte nämlich bereits wie gebannt auf den Bildschirm, während Postal die Population der einzelnen Level auf null herunter ballerte.
Er füllte, wie das brennende Gefühl der Rage von Level zu Level weniger wurde, und als sie so gut wie nicht mehr zu spüren war, schaltete er den Flugmodus aus und ging in die Mediathek, um sich ein paar Katzenvideos anzusehen, ohne groß drüber nachzudenken, was er in der letzten Stunde getan hatte.
Postal hingegen schaltete den PC aus und legte sich hin, wobei er sich sicher war, dass er nach der Runde am Computer zumindest diesen Tag durchschlafen würde.