Inmitten des Sees
Unser See ist blau, so wie der Himmel. Ein sattes, brillantes Blau, durchwoben vom Muster der Wellen. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die Wolken, klein und weiß, und zwischen ihnen ruht still und verträumt ein Schwarm Gänse. Was See und Himmel voneinander trennt, sind bloß der kiesbraune Strand und die ihn umsäumenden dunkelgrünen Bäume. Die hat man vor gut vierzig Jahren gepflanzt, um für die erholungsbedürftigen Städter den Eindruck entstehen zu lassen, es handele sich um ein ganz natürliches Gewässer mitten in der Wildnis. Ein Mann sagte mir neulich, dass der See jemandes Privateigentum sei. Das leuchtet mir ein, passt es doch zu den Überresten des Stacheldrahtzaunes, die ich im Wald nahe des Strandes bemerkt hatte. Doch ebenso wenig wie die Gänse kümmert es die anderen Badegäste, und so stört sich niemand an einem möglichen Badeverbot.
„Warum kommst du nicht weiter?“
Du stehst noch am Strand, ich schwimme schon im See. Aus einiger Entfernung sehe ich deinen mageren, braunen Körper in der mausgrauen Badehose, unbewegt mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen und zur Seite geneigtem Kopfe. Du ziehst die Nase etwas kraus und blinzelst schmerzhaft gegen die Sonne. Ich komme ein wenig näher, damit ich nicht so schreien muss, und winke, ungeduldig wie ein Kind. Du schüttelst deine braunen Locken.
„Das Wasser ist zu kalt!“
„Ist es nicht! Es ist gut so!“
Endlich tust du zwei, drei Schritte auf dem sonnengewärmten Kies. Das Wasser umspült deine großen dunklen Füße, jetzt schon deine Knie. Wie zwei Holzpfähle ragen sie aus dem kühlen Nass empor. Um einen sicheren Eindruck zu geben, stemmst du die Hände in die Hüften.
„Weiter!“
„Nein, ich bleibe hier!“ Und du lächelst etwas gequält, zeigst deine schönen weißen Zähne. Ich weiß, du wirst nicht weitergehen; bei solchen Dingen bist du eben ein kapriziöser Katalane.
„Warum? Kannst du etwa nicht schwimmen?“
„Doch!“
„Also!“
„Ich mag nicht, das ist alles!“ Dein Lächeln schwankt wie ein Fischerboot auf dem Meer.
Ich komme zurück an Land, zittere ein wenig ob der kalten Luft, die meinen tropfnassen Leib umarmt. „Hast du Angst?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Du hast Angst. Aber wovor?“ Ich deute auf den weit entfernten glitzernden Punkt auf der Wasseroberfläche. „In der Mitte des Sees ist es ganz herrlich!“
Als ich ein Kind war, hat mein Vater mir Geschichten erzählt, von Ungeheuern, riesengroß und immerzu hungrig, die inmitten des Kiessees lebten. Wenn man zu weit hinaus schwämme, so warnte er, würden sie ahnungslose Kinder von der Oberfläche in die endlose Tiefe ziehen. So wie Onkel Theo. Damals habe ich meinem Vater geglaubt. Aber heute weiß ich, dass es diese Ungeheuer inmitten des Sees nicht gibt, denn ich bin dort gewesen. Wenn man sich auf den Rücken legt, den Kopf bis zu den Ohren unter Wasser taucht, nur noch das Gesicht zum Atmen an der Oberfläche lässt, kann man versuchen, Onkel Theos Rufe zu hören.
Ich hörte nichts. Inmitten des Sees ist nichts. Nur Stille und der Himmel.
Sicherlich weißt du das. Ob es in Katalonien Seen mit Ungeheuern gibt, die ahnungslose Kinder in die endlose Tiefe ziehen, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht hast du trotzdem Angst.
Angst vor der Stille.