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Inmitten des Sees

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01.10.2016
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Inmitten des Sees

Unser See ist blau, so wie der Himmel. Ein sattes, brillantes Blau, durchwoben vom Muster der Wellen. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die Wolken, klein und weiß, und zwischen ihnen ruht still und verträumt ein Schwarm Gänse. Was See und Himmel voneinander trennt, sind bloß der kiesbraune Strand und die ihn umsäumenden dunkelgrünen Bäume. Die hat man vor gut vierzig Jahren gepflanzt, um für die erholungsbedürftigen Städter den Eindruck entstehen zu lassen, es handele sich um ein ganz natürliches Gewässer mitten in der Wildnis. Ein Mann sagte mir neulich, dass der See jemandes Privateigentum sei. Das leuchtet mir ein, passt es doch zu den Überresten des Stacheldrahtzaunes, die ich im Wald nahe des Strandes bemerkt hatte. Doch ebenso wenig wie die Gänse kümmert es die anderen Badegäste, und so stört sich niemand an einem möglichen Badeverbot.

„Warum kommst du nicht weiter?“
Du stehst noch am Strand, ich schwimme schon im See. Aus einiger Entfernung sehe ich deinen mageren, braunen Körper in der mausgrauen Badehose, unbewegt mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen und zur Seite geneigtem Kopfe. Du ziehst die Nase etwas kraus und blinzelst schmerzhaft gegen die Sonne. Ich komme ein wenig näher, damit ich nicht so schreien muss, und winke, ungeduldig wie ein Kind. Du schüttelst deine braunen Locken.
„Das Wasser ist zu kalt!“
„Ist es nicht! Es ist gut so!“
Endlich tust du zwei, drei Schritte auf dem sonnengewärmten Kies. Das Wasser umspült deine großen dunklen Füße, jetzt schon deine Knie. Wie zwei Holzpfähle ragen sie aus dem kühlen Nass empor. Um einen sicheren Eindruck zu geben, stemmst du die Hände in die Hüften.
„Weiter!“
„Nein, ich bleibe hier!“ Und du lächelst etwas gequält, zeigst deine schönen weißen Zähne. Ich weiß, du wirst nicht weitergehen; bei solchen Dingen bist du eben ein kapriziöser Katalane.
„Warum? Kannst du etwa nicht schwimmen?“
„Doch!“
„Also!“
„Ich mag nicht, das ist alles!“ Dein Lächeln schwankt wie ein Fischerboot auf dem Meer.
Ich komme zurück an Land, zittere ein wenig ob der kalten Luft, die meinen tropfnassen Leib umarmt. „Hast du Angst?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Du hast Angst. Aber wovor?“ Ich deute auf den weit entfernten glitzernden Punkt auf der Wasseroberfläche. „In der Mitte des Sees ist es ganz herrlich!“

Als ich ein Kind war, hat mein Vater mir Geschichten erzählt, von Ungeheuern, riesengroß und immerzu hungrig, die inmitten des Kiessees lebten. Wenn man zu weit hinaus schwämme, so warnte er, würden sie ahnungslose Kinder von der Oberfläche in die endlose Tiefe ziehen. So wie Onkel Theo. Damals habe ich meinem Vater geglaubt. Aber heute weiß ich, dass es diese Ungeheuer inmitten des Sees nicht gibt, denn ich bin dort gewesen. Wenn man sich auf den Rücken legt, den Kopf bis zu den Ohren unter Wasser taucht, nur noch das Gesicht zum Atmen an der Oberfläche lässt, kann man versuchen, Onkel Theos Rufe zu hören.
Ich hörte nichts. Inmitten des Sees ist nichts. Nur Stille und der Himmel.
Sicherlich weißt du das. Ob es in Katalonien Seen mit Ungeheuern gibt, die ahnungslose Kinder in die endlose Tiefe ziehen, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht hast du trotzdem Angst.
Angst vor der Stille.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo CatErina,

vorweg, deine Geschichte ist kurz (auch für eine Kurzgeschichte), aber was mir ganz ausgezeichnet gefällt ist, wie du sie auf die Pointe hin konstruiert hast.

Ich liebe es wenn die Grenzen zwischen scheinbar herkömmlich-logischem und tiefabstrakt-hintergründigem verwischt und man eine Ahnung davon bekommt, dass die Geschichte nur so scheint, als könnte sie sich in der Realität genau so abspielen. :)

Die Idylle, die du hier in satten Farben und mit malerischen Motiven schilderst, und die die Geschichte auf der obersten Ebene beherrscht, ist offensichtlich in gewisser Weise gebrochen: eigentlich unerlaubter Aufenthalt, illustriert durch Stacheldrahtzaun, und Unnatürlichkeit des Sees sowie Intentionalität der Flora, nämlich um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, bilden den Kontrast zu dem Schein, der die Realität der beiden Hauptpersonen bricht.

Die zweite Ebene sind die Handelnden: Was die Hauptpersonen unterscheidet ist ihr Umgang mit ihrer Umgebung, insbesondere natürlich des Sees. Der Ich-Erzähler (über das Geschlecht erfährt man nichts) genießt das Wasser, wagt sich bis weit in das Wasser hinein, während das Gegenüber aus Vorwänden, wie klar wird, am Rand bleibt und alle Versuche, mehr zu tun, abwimmelt.

Schließlich leitet das zentrale, namens gebende Motiv weiter zu letzten Ebene, die zunehmend den abstrakten Charakter der Geschichte offenbart. Es dreht sich um Mythen über die Gefahr im Wasser, die der Ich-Erzähler aber als widerlegt erlebt. Durch die Negation der Mythen, die am Beispiel des Onkels entfaltet werden und einen gewissen Realitätsanspruch haben wird die Kontur des eigentlichen Grundes für das Wegbleiben der zweiten Person aus dem Wasser schärfer. Es hat ein absurdes Element, dass der Ich-Erzähler versucht den Onkel zu hören, da dieser gewiss an einem völlig anderen Ort als (bei einem Urlaub?) in Spanien ertrunken sein dürfte.

Die Pointe entfaltet sich dann aus dem, was anstelle des hypothetischen Beweises, der Rufe des Onkels aus dem Wasser, da ist: nichts, einfach nur Stille. In Zusammenhang mit der Weite des Himmels, die kurz davor zusammen mit der Stille erwähnt wurde, wird klar was die Pointe der Geschichte ist, wenn die Stille als Grund der Angst genannt wird.


Das war die Beschreibung, jetzt kommen wir zur Abstraktion:

Die Schönheit dessen, was ist, dominiert den Eindruck von dem was, ist, aber wenn man reflektiert, dann dürfte man eigentlich gar nicht dort sein, auch wenn dies deutlich in den Hintergrund rückt, ebenso wie, dass der Eindruck von dem, was ist, in letzter Konsequenz künstlich ist.

Vor diesem Hintergrund weigert sich das Gegenüber zum eigenen Ich sich, sich auf die Unsicherheit und Ungewissheit des Daseins durch konkrete Handlungen voll einzulassen, sich ins Leben mit allen Chancen und Gefahren stürzen. Stattdessen verweilt es aus Angst an der Grenze dazu.

Der Grund liegt nicht in den Theorien über mögliche Gefahren, sondern gerade in der Abwesenheit dieser Gefahren, da selbst diese eine Gewissheit darstellen würden, stattdessen ist da nur leerer Raum und die Abwesenheit von Informationen, egal welcher Art, und genau das macht den Grund für die Zurückhaltung aus.


Und zu guter letzt, die Interpretation:

Die Täuschungen über eine Natürlichkeit des Daseins sind durchsichtigt, trotz deren Schönheit, und trotz des Versuches durch das Bewusstsein das zu ändern, kann sich der Mensch selbst nicht dazu bewegen, sich auf die Unwägbaren Zonen des Denkens und Seins einzulassen, nicht aus Angst vor Widrigkeiten, sondern aus Furcht, keine Vorgaben zu erhalten, allein zu sein, mit dem eigenen Leben, mit den eigenen Möglichkeiten, mit dem implizite Druck, sich etwas eigenes zu schaffen, ohne irgend welche anderen Einflüsse.

In letzter Konsequenz sind die Einflüsse, die unseren Willen knechten, das Problem, weil wir nach langem Leben innerhalb von ihnen nicht mehr wissen, ohne sie zu leben, frei zu sein, selbst zu schaffen, genau wie die Gefangenen aus dem Film, "die Verurteilten" (etwa Brooks), ein großartiger Film, nicht umsonst seit Jahren auf Platz 1 der IMDb, vor zahlreichen anderen guten Filmen (etwa der Pate, The Dark Knight, Pulp Ficiton usw.)

Aber zurück zum Thema: tolle Geschichte, hat mir viel Spaß gemacht, das zu analysieren.

Beste Grüße

Bael

 

Hallo CatErina,

dein Schreibstil und deine Wortwahl gefallen mir, auch wenn es mir teilweise zu umständlich ist.
Z.B. hier:

und die ihn umsäumenden dunkelgrünen Bäume
oder hier
unbewegt mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen

Was du schreibst, ist schön, aber was erzählst du?
Es muss ja gar nicht viel passieren, aber wenn eine Geschichte so handlungsarm ist wie deine, möchte ich ein Bild von den Charakteren haben, das es mir ermöglicht, mich in sie hineinzuversetzen, um die minimalen Geschehnisse auch deuten zu können. Um mitfühlen zu können.
Das bleibst du dem Leser aber leider schuldig. Da ist deine Protagonistin, die sich nicht an einem möglichen Badeverbot stört und ihr Freund, der kapriziöse Katalane mit braunen Locken. Mehr nicht. Für mich sind deine Figuren nicht greifbar und somit lässt mich auch die schöne Szenerie kalt und deine Geschichte funktioniert für mich nicht. Leider.
Würde mich freuen, wenn du da mehr draus machst. Vielleicht hast du ja Lust, mal ein paar Kurzgeschichten von Alice Munro zu lesen. Die versteht, was sie tut, und ich musste bei deiner Lektüre an sie denken.

Liebe Grüße,
JackOve

 

Hallo Bael,

vielen Dank für das ausführliche Feedback. Wahnsinn, was Du alles aus meinem kurzen Text holen konntest. Ich bin erstaunt! :) Und es freut mich, natürlich, dass meine Geschichte Dir Freude bereitet hat!

paz e amor,
Caterina

 

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