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Initiation
"Nein...", stieß ich atemlos hervor, während ich in die Schwärze starrte, die sich in zehn Metern Entfernung vor mir erstreckte. "Das darf nicht sein...es kann nicht so enden..."
Erschöpft ging ich in die Knie.
Ich war gerannt, um meinem Verfolger zu entkommen.
Meinem Vater.
Aber wozu war ich eigentlich gerannt? Ich hätte genausogut gehen mögen.
Noch immer starrte ich voller Unglauben in die tintige Wand vor mir.
Ich konnte es nicht fassen. Alles war umsonst gewesen. Alle Hoffnungen, die ich und die anderen Jugendlichen gehegt und gepflegt hatten, zerrannen an und in dieser Schwärze.
Es gab keine Fluchtmöglichkeit aus unserem kleinen Dorf.
Weil hinter dem Dorf der Wald war und sich dahinter nichts verbarg.
NICHTS!
Ich hörte die Schritte meines Vaters näherkommen.
Langsam, schleppend...
Ich wagte nicht, mich umzudrehen und ihn anzusehen. Nach vorne ins Dunkel schauend, sagte ich:
"Es ist überall so – oder? Diese gottverdammte, schwarze Wand zieht sich um das ganze Dorf, habe ich recht?"
"Es tut mir leid", sagte mein Vater. "Ich weiß, wie deprimierend es ist..."
Seine Worte hingen in der Luft.
Oh ja, deprimierend war es tatsächlich. Unser Dorf war das Einzige in dieser Gegend. Ich würde niemals andere Leute kennen lernen, als die, die ich schon die ganze Zeit gekannt hatte. Niemals würde ich jemand Fremdem begegnen, und wenn, würde ich wahrscheinlich schreiend davon rennen.
Denn das Fremde würde aus dieser Schwärze kommen...
"Wie lange schon? Wie lange ist das schon so?"
"Schon immer."
"Was ist mit den Büchern? Mit all den Städten und wunderbaren Orten? Gibt es sie überhaupt?" Meine Stimme wurde lauter "Hat es Sie je gegeben?!"
"Irgendwann einmal", antwortete die traurige Stimme meines Vaters. "Aber keiner von uns hat Sie je gesehen. Wir wissen nicht, ob sie noch existieren oder ob sie in ähnlichen Blasen existieren wie wir hier..."
"Blasen? Wieso Blasen? Das hier ist doch nur eine – "
Aber dann sah ich es. Kurz bevor die schwarze Wand die Wolken durchstieß, krümmte sie sich und spannte einen Bogen, der sich in den Wolken verlor.
"Aber – das...das kann nicht sein...", stammelte ich. "Wir hätten sie doch...sehen müssen. Bei klarem Himmel hätte es uns auffallen müssen."
"Man kann die Wand nur sehen, wenn man den Wald durchquert hat. Selbst wenn Du im Wald auf einen Baum steigst, würdest Du die Schwärze nicht erkennen können. Wir haben bis heute nicht herausgefunden, wieso?"
Ich konnte es immer noch nicht begreifen.
Meine Jugendträume waren für immer verloren.
Wie hatten wir uns immer die Welt ausgemalt? So wunderschön, wie wir sie in den Büchern gesehen hatten – und schöner noch. Wir hatten sie sehen wollen, diese Welt. Sie erleben und genießen wollen.
Und was hatten wir immer über die Söhne und Töchter der anderen Familien gelacht, die nach ihrem Gang zum "Erwachsen werden", stets zurückkehrten, um ihren Platz in der Dorfgemeinschaft einzunehmen. Den Beruf ihrer Eltern annahmen und die ihnen zugeteilte Frau heirateten. Wir hatten sie für dumm und verrückt erklärt.
Was waren wir dumm gewesen.
Jung und unschuldig in Gedanken, die noch leuchtende Farben besessen hatten. Doch dieses Schwarz hier zog jede Farbe aus meinen Gedanken...
Ich wollte nur noch zurück und nicht an das Denken, was ich hier gerade verloren hatte. Ich erhob mich und wandte mich meinem Vater zu, während ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischte.
"Laß uns gehen, Vater", sagte ich mit matter Stimme. "...Laß uns einfach nur gehen..."
Und so gingen wir zurück in den Wald.
Zurück in unser Dorf.
In das einzige Stück Heimat, das jemals existieren würde.
Ich konnte mir die stummen Blicke meiner einstigen Gefährten vorstellen, wie sie an meinen Lippen hingen, damit sie von mir die Wahrheit erfuhren. Die Wahrheit über das Geheimnis hinter dem Wald, das keiner von ihnen bisher geschaut hatte.
Doch ich würde ihnen nichts sagen. Keines meiner Worte sollte ihre schönen, jugendlichen Phantasien, die sie jetzt noch besaßen, zerstören.
Nein –
Wie alle anderen vor mir, würde ich an ihnen vorbei gehen und ihnen den traurigen, wissenden Blick meiner frisch gewonnenen Weisheit zuwenden und einfach nur schweigen.
Ihre jugendlichen Illusionen würden schnell genug zerstört werden.
Sie waren doch noch Kinder.
Ich hingegen bin jetzt erwachsen...
ENDE