Mitglied
- Beitritt
- 16.09.2018
- Beiträge
- 266
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Ingas Narbe (Gustaf III)
Inga war noch jünger. War noch außer Atem. Ihre Brust bebte noch, sie hatte den Weg vom Hof rennend zurückgelegt, damit auch ja niemand auf die Idee käme, ihr zu folgen. Hu, rief er da. Blieb stumm. Dann wieder: Hu. Inga wischte sich die Tränen von den Wangen. Stutzte. Schon quollen sie wieder hervor, ganz ohne, dass sie etwas dagegen hätte tun können, jetzt war sie sauer auf ihn, das hier war ihr Ort, ihrer, ganz allein, nur Inga kannte den Baumstumpf auf der Lichtung und wie die Sonne einen hier wärmte, wie sie den Wald ausschloss und die Welt dahinter: Den Hof, die Katze Minka, die Hühner und den alten Gockel und vor allem Ruben. Ruben war schuld, auf Ruben war sie sauer, Ruben hatte die Milchkanne umgestoßen und dann behauptet, Inga war es gewesen, wegen Ruben hatte Mama geschimpft und Papa gesagt: Geh mir aus den Augen, sofort, und jetzt war der Mann da und rief Hu.
Sie ging auf ihn zu. Er blieb sitzen. Sie war wütend, ihr kleines Herz pochte, der Himmel drückte ihr auf die Seele und die Baumwipfel schüttelten sich und da hob Inga einen Stein auf und warf ihn in seine Richtung. Geh weg!, rief sie, und: Wo der herkommt, gibt’s noch mehr!, und sie bückte sich schon nach dem nächsten und holte aus, die kleine Faust hinter dem Kopf.
Er sah sie bloß an. Ganz lange. Bis es dunkel wurde und dann wieder Tag, bis es ihr heiß wurde, bis sie sich am liebsten ausgezogen hätte, ganz nackt, ganz egal, dass da einer saß und starrte, den sie nicht kannte, ihr war kalt, sie musste zittern und ihre Zähne klapperten und sie wollte nach Hause, jetzt war er ihr unheimlich mit seinem Blick und seinen Augen.
»Hast du’s geglaubt?«, fragte er endlich.
»Was geglaubt?«, fragte Inga.
»Dass ich eine Eule bin.«
Wenn man einem schlafenden Menschen eine Eulenfeder auf die Brust legt, ohne dass er davon aufwacht, offenbaren sich einem seine Geheimnisse, hatte Gustaf ihr ein Mal erzählt. Gustaf kannte ihr Geheimnis. Gustaf wusste, dass sie nachts wachlag und Ruben neben ihr und dass sie sich dann keine Eulenfeder, sondern ein Messer wünschte. Dass es ihr am liebsten wäre, allein zu sein, nur mit Mama und Papa und Minka und den Hühnern und dem alten Gockel, und mit Gustaf. Am liebsten mit Gustaf, denn Gustaf verstand sie, Gustaf wusste Rat, Gustaf hörte zu, Gustaf sprach mit ihr wie zu einer Erwachsenen und nicht wie zu einem Kind, Gustaf sagte nicht: Ja, aber!, sondern nickte und sagte gar nichts. Dass sie damals den Stein nach ihm geworfen hatte, tat ihr jetzt leid, denn jetzt hatte sie Gustaf schon lange nicht mehr gesehen: Die Lichtung, der Baumstumpf, die Sonne, alles war wieder wie früher, Inga war wieder einsam und Gustaf war woanders.
Dachse sind schön. Kleine Bären mit schwarzen Streifen am Kopf und weichen Pfoten, aber den Kopf kann man nicht essen und alles andere auch nicht, Dachse stinken. Dachse sind scheu. Man kann ein Jahr lang durch den Wald laufen und doch keinen zu Gesicht bekommen, Dachse sind schlau, aber wenn einer in der Falle steckt und noch zuckt, muss man ihn töten.
Das Feuer ist aus, die Asche liegt da wie Schnee. Wie der erste, feine Schnee, der nach tagelangem Frost vom Himmel fällt. Noch ganz zaghaft. Sich fast entschuldigend. Der von jedem noch so sanften Windhauch weggeweht werden könnte, sich noch nicht entschieden, sich noch nicht wie eine warme Decke über die Welt gelegt hat.
Gustaf zieht die Schultern zu den Ohren. Wirft den Kopf in den Nacken. Sieht die Baumkronen mit knochigen Fingern nach den Sternen greifen: Sinnlos, denkt Gustaf, und im selben Moment springt er auf und greift selbst in den Himmel, schnappt selbst nach den Sternen, mit aufgerissenem Maul, und im Mondschein glänzen die stumpfen Zähne und offenbaren, was vom Dachs noch übrig ist.
Licht. Ja, jetzt wird alles besser. Im Morgengrauen sind auch die Gedanken still.
Gustaf geht. Wohin? Egal. Was zählt, ist das Gehen selbst. Die Bewegung. Wichtig ist, die Nacht aus den Knochen zu bekommen, sie hinter sich zu lassen, zu vergessen. Auch die Sonne wandert mit. Lässt das Moos schwitzen. Das Gestrüpp rascheln. Irgendwo lacht ein Grünspecht: Ha-ha-ha, und Gustaf schaut hoch, nach oben, und oben, im Baum, sitzt ein Kind.
»Warst du das?«, fragt Gustaf und hält die Hand gegen die tiefstehende Sonne vor die Augen.
»Dumm«, sagt das Kind. Mehr nicht.
Mit dem kann man nicht reden, denkt Gustaf und geht weiter, und im Gehen trifft ihn etwas am Kopf, vielleicht ein Tannenzapfen, vielleicht ein Stock, egal, Gustaf kehrt um. Stürzt auf den Baum zu, hält sich am ersten Ast fest und zieht sich hoch, greift nach dem zweiten und schwingt sich auf den ersten, stellt sich drauf und packt den Jungen am Arm.
»Wer ist dumm?«
Der Junge sieht ihn an. Ahnt etwas.
»Lass mich los. Dann verrate ich dir, wo der Schatz ist.«
Gustaf lässt los.
Der Junge geht voran.
»Wie heißt du?«, fragt Gustaf.
»Dumm«, sagt der Junge bloß.
»Gut. Dumm also.«
»Ruben.«
»Zu spät.«
Der Wald wird dichter, die Äste greifen nach dem Pfad. Gustaf muss gebückt gehen. Schnaufen. Muss jetzt aufpassen, wo er hintritt. Aus der Erde ragen dicke Wurzeln. Manche sehen aus wie vollgefressene, versteinerte Regenwürmer.
»Also Dumm«, stößt Gustaf zwischen schweren Atemzügen hervor. »Der Schatz. Juwelen? Gold?«
»Besser.«
»Besser als Juwelen?«
»Pst«, macht Ruben und bleibt stehen. Kneift die Augen zusammen. Legt den Finger an die Lippen, hält die Hand flach über den Boden. Steckt den Finger in den Mund. Lutscht ihn ab. Hält ihn in den Wind. »Da lang. Über den Bach da.« Über dem Bach liegt ein Baumstamm. Irgendwo singt ein Rotkehlchen sein unbedarftes, fragendes Lied.
Jetzt. Jetzt könnte er ihn vom Stamm stoßen. Könnte hinterher springen und ihn in den Schlamm drücken, so lange, bis er aufhört, zu zucken, Gustaf ist stärker, der Junge ist schwach, ist noch ein Kind, Gustaf könnte ihm seinen Stiefel in den Nacken pressen und würde nicht viel mitbekommen von dem, was sich unter ihm tut. Bis sich dann gar nichts mehr tut. Bis der Junge tot ist, mausetot.
Ruben dreht sich um.
»Was ist?«, fragt Gustaf, und Ruben versteht. Ist schlau. Und rennt weg.
Und auch Gustaf rennt, und jetzt ist es etwas anderes, das Gustaf lenkt, jetzt ist nur noch ein ganz kleiner Funken Gustaf im Gustaf, klitze-klitzeklein, und etwas anderes ist größer, die Sinne schärfer, die Augen weiter und die Nasenflügel und sogar die Ohren: Jetzt kann er den Wald aufnehmen, ganz, jetzt ist es fast wieder Nacht, und wie gut, dass ihm jetzt keiner eine Feder auf die Brust legt, wie gut, dass jetzt keiner sein Geheimnis kennt, und eigentlich ist es ja bloß der Hunger, weiß Gustaf, weiß es und weiß es dann auch wieder nicht, der Hunger und die Sehnsucht und die Ruhelosigkeit, das ganze … Sein, das an ihm nagt, weil es ihm nicht gelingen mag, weil er nicht weiß, wie man zu sein hat, wie man sein soll, nicht sein darf, wie man ist.
Ruben ist. In Sicherheit. Am Leben. Verängstigt und erleichtert, traurig und wütend, Ruben ist zu viel und zu wenig und vor allem alles zugleich und wohin damit, wohin mit den Gefühlen, wenn man noch jung ist und noch nichts weiß? Jung sein sollte verboten werden, man sollte erwachsen auf die Welt kommen dürfen wie die Pferde, gleich auf eigenen Beinen stehen, findet Ruben jetzt, auch wenn es eigentlich Ingas Worte waren, die sie damals der Mutter ins Gesicht gezischt und sich dafür eine Ohrfeige eingefangen hat. Und trotzdem oder gerade deshalb findet Ruben jetzt auch, dass Inga schuld ist. Einfach, weil er es nicht besser weiß. Vielleicht auch bloß, weil Inga die erste ist, die er zu sehen bekommt, als er aus den Baumreihen tritt und den elterlichen Hof erblickt.
Zuerst ist er froh. Da ist Inga!, denkt er, und sein Körper ist ganz Vertrauen, ist Geschwisterliebe, ist sogar schon einen Schritt weiter als er selbst, will sich schon auf seine Schwester stürzen, sie in die Arme schließen, will ihr zeigen: Ich bin froh, dass du da bist, dass ich dich habe, Inga. Froh, abends neben dir einschlafen zu dürfen, während die Eltern noch unten in der Stube sitzen und Papas tiefes Gemurmel zu uns nach oben dringt, das du dann nachmachst: Nununununu. Bis die Mama dann ruft: Ist jetzt Ruhe da oben, muss ich erst hochkommen? Und wie wir dann die Köpfe unter die Decke stecken, die stickige Luft einatmen und lachen. Aber etwas anderes hält ihn zurück. Etwas anderes will nicht alleine sein mit seinem zu viel. Warum darf Inga da sitzen, ganz unversehrt, und mit Minka spielen? Warum hat nur Ruben Kratzer an den Armen und im Gesicht, warum muss nur er durch den Wald rennen und um sein Leben bangen, flüchten vor dem Irren? Warum spielt die Welt nur mit ihm ihre Spielchen, warum muss er jung sein? Warum überhaupt am Leben sein? Wozu? Und da nimmt er sich einen Stock, der am Waldrand liegt. Atmet tief durch. Versucht seine Brust und das, was in ihr wummert, zu kontrollieren, zu bündeln, und geht langsam auf seine Schwester zu.