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Indische Nacht
Ich wagte mich vor die Tür, obwohl ich unter Durchfall litt. Ließ mich treiben und strandete vor der Philharmonie. Dort begeisterten sich ein paar Affen in Abendgarderobe an ihrer Kulturbeflissenheit. Eine „Indische Nacht“ stand auf dem Programm. Erst kürzlich hatte ich davon geträumt, wie ich am Ganges saß und all den Jungfern winkte, die an mir vorbei trieben. Den Lebenden wohlgemerkt.
Ich pflügte durch die Menschenmenge, wurde angerempelt, und fuhr meine Ellenbogen noch weiter aus. Ich setzte mit meiner Stehplatzkarte in die vierte Reihe, weil dort noch Plätze frei waren.
Während ich auf dem Polster herumrutschte, entwich mir ein schwefeliges Windchen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass meine greise Nachbarin die Nase rümpfte. Ich starrte sie nieder, bis das kalte Versagen ihres ausgelutschten Lebens dunkle Pfützen um ihre Mundwinkel bildete. Danach wandte ich mich meinem rechten Sitznachbar zu. Es handelte sich zu meiner Überraschung um einen Indianer - um einen echten, soweit ich das beurteilen konnte. Er hatte ein ovales Gesicht, das energische Züge verriet, die er jedoch bestens unter Kontrolle hatte. Gelassen schaute er auf die Bühne, auf der drei Sitzkissen auf ihre Inder warteten. Seine pechschwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Winzige Öhrchen hatten sich am Kopf des roten Mannes festgesaugt.
Die drei Inder schritten unbeschwert auf die Bühne. Kaum hatten sie es sich im Schneidersitz bequem gemacht, fingen sie an, zu spielen. Ich war wohl der Einzige, der sofort begriff, dass es für sie kein Konzert war, sondern eine Demonstration spiritueller Überlegenheit. Die spielten nicht; die sprudelten. Die saßen an den Quellen des Seins und sahen keinen Grund, ihren Platz zu räumen.
Es gab Zwischenapplaus und Bravo-Rufe, wenn sich das Publikum nicht gerade in ungläubigem Staunen überbot. Nur der Indianer verzog keine Miene. Immer wenn ich zu ihm hinüber sah, klappten seine Augenlider langsam auf und nieder. Er schien es nicht nötig zu haben, von Zeit zu Zeit seine Sitzposition zu ändern, so wie jeder andere normale Mensch. Die klobigen Lederhände ruhten gefaltet in seinem Schoß, während ihr Gewicht in meinem zu lasten schien.
Nach drei Stunden wandte sich die Alte zu mir um und fragte mich, ob es denn keine Pause gäbe. Zum Glück entschärfte ein Kräuterbonbon ihren Atem. "Keine Ahnung ", bedeutete ich ihr mit den Schultern.
Sollte sie es doch aussitzen. Sie litt schließlich nicht unter chronischem Durchfall. Es gluckerte schon wieder unheilvoll in meinem Magen. Doch ich war nicht der Typ, der seine Sitzreihe aus zweitrangigen Motiven zum Aufstehen zwang. Die drei Inder saßen es ja auch aus. Ich wartete jeden Moment darauf, dass sie endlich mal ins Publikum schauten. Doch das Publikum interessierte sie gar nicht.
Nach etwa drei Stunden verließen die Ersten den Saal, da sie dem historischen Dimensionen dieses Konzerts nicht gewachsen waren. Um Mitternacht hatte sich etwa die Hälfte der Zuschauer getrollt; auch die alte Vogelscheuche verkroch sich endlich. Um zwei Uhr vierundvierzig notierte ich den letzten Zwischenapplaus. Es waren noch ca. 30 Zuschauer zugegen, einige von ihnen standen und wiegten wie hypnotisiert von einer Seite zur anderen. Meine Blase stach mir bis in die Taille. Lava brodelte hinter meinem zugekniffenen Schließmuskel. Irgendwann würde der Indianer aufstehen müssen. Ich hätte ihn ansprechen können, aber meine dürstende Zunge war ein Stück Schmiergelpapier, an dem ich zu ersticken drohte.
Um drei Uhr legten die Empfangsmädchen ihre Blumensträuße vor den Indern nieder und machten Feierabend. Um drei Uhr vierundfünfzig waren wir schließlich unter uns. Die letzte Gruppe junger Leute hatte unter johlendem Applaus den Saal verlassen. Einer von ihnen rief dreimal "Om shanti! ", doch konnte selbst damit nicht die Aufmerksamkeit der Inder erhaschen. Die saßen seit acht Stunden im Schneidersitz und gingen nun wieder in langsamere verträumtere Passagen über. Ich schwitzte vor Schmerzen.
Da geschah etwas Unerwartetes. Der Indianer glitt in einer flüssigen Bewegung aus dem Polster, tastete die Gesäßtaschen nach seinem Porte-Monnaie ab und verabschiedete sich mit flacher Hand von den Indern. Diese legten wie auf Befehl die Instrumente nieder. Dann zogen sie sich gegenseitig an den Zeigefingern und pupsten sich lautstark in den Stand.
Ich klatschte dreimal. Sie beachteten mich nicht. Womöglich aus gutem Grund. Schließlich war ich der Einzige, den sie nicht in die Kapitulation gespielt hatten. Ich stand feierlich auf, drückte die Knie durch und streckte mich meinem Triumph entgegen. Ein Spritzer. Ganz ohne Vorwarnung.
Vorsichtig dirigierte ich mich zu den Toiletten. Als ich befürchtete, dass sie schon abgeschlossen wären, kam ich aus dem Rhythmus und stolperte über eine Treppenstufe. Schon während ich fiel, fand die Jauche ihren Weg ins Freie. Ich landete auf dem Bauch und spreizte die Beine, damit sie besser abfließen konnte. Es war selbst für meine Verhältnisse ein peinlicher Moment. Noch immer tropfte die Pest aus meinen Jeans. Auf dem Parkett hatte sich eine übelriechende Lache gebildet. Der Hausmeister kam fünf Stufen über mir zum Stehen. Ich hatte das Klirren seines Schlüsselbundes gar nicht gehört.
"Was machen Sie da?! "
fragte er, als ob die Antwort nicht vor ihm läge.
Mir entwich ein Kichern, das schwer wieder in den Griff zu bekommen war.
"Da-, das..Denken Sie doch mal an die Putzfrau!"
Ich dachte an die Putzfrau, als ich den kürzesten Weg durch die Empfangshalle wählte. Durch eine Nebentür gelangte ich ins Freie. Die Nachtluft war angenehm: Kalt, trocken und geruchlos.
Die drei Inder fuhren auf ihren Fahrrädern singend an mir vorbei. Jemand beobachtete mich aus der Kneipe gegenüber. Ich trat ein paar Schritte näher und sah, dass es der Indianer war. Seine Öhrchen lagen noch enger an. Sein Blick wühlte gemütlich in meinen Eingeweiden, so als wäre da etwas dabei, dass er gebrauchen konnte. Ich ließ mich noch eine Weile von ihm durchleuchten, obwohl mir klar war, dass ich dadurch die letzte Bahn verpassen würde.