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Indianer
Die Fliegen legten wahrscheinlich gerade Eier. Christian unternahm einen halbherzigen Versuch, sie zu verscheuchen. Ein paar der Insekten summten tatsächlich kurz in die Höhe, allerdings nur, um sich sofort wieder den Resten seines Mittagessens zu widmen. Die Fetten, die grünlich schimmerten, bewegten sich gar nicht erst.
Christian wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er konnte nicht einmal der banalen Zwischensequenz folgen, so heiß war es. Irgendwas mit Werwölfen, die eine Mine der Zwerge überfallen hatten, und ob er helfen könne.
Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das aufwendige Computerspiel quälte den zu geringen Arbeitsspeicher seines Rechners, seines viel zu alten Rechners, das Bild hakte immer wieder, so als hätte Gott die Welt angehalten, anstatt irgendwem zu helfen.
Im Moment war Gott beschäftigt. Damit, alles aus der Sonne herauszuholen, bis man nur noch in Unterhose dasaß, das Ungeziefer über deine verschwitzte Schwerfälligkeit lachte und das Gesabbel der bestohlenen Zwerge dir Kopfschmerzen bereitete. Christian drehte sich noch einmal zum Fliegenteller um, der sich den Tisch mit vier Flaschen teilte, gefüllt mit unterschiedlichen Mengen Mineralwasser. Seine Mutter hatte früher immer gesagt, er solle erst einmal eine austrinken, bevor er die nächste anbrach. Jetzt, wo er allein wohnte, erinnerte er sich gern an seine Mutter und ihren nervigen Putzfimmel. Christian wollte wieder in Ordnung und Sauberkeit wohnen, aber er konnte es nicht. Seine Kleidung lag immer da, wo er sie ausgezogen hatte, die Toilette trug stets deutliche Spuren ihres Verwendungszwecks, in der Küche verfaulten Tomaten, Bananen, Kartoffeln und Käse. Der verdammte innere Schweinehund. Christian würde ihn überwinden, eines Tages, da war er sicher.
Spätestens, wenn sich mal ein Mädchen ankündigte. Oder jemand, mit dem man ein Bier trinken konnte. Seine Mutter, um über ihren Krebs zu lamentieren. Sie redete noch immer nicht offen darüber, dass sie von Innen aufgefressen wurde, nicht mit ihm, er war das Kind, achtundzwanzig oder acht.
Am nächsten Tag wäre das Hackfleisch ein Madenhotel. Christian erschlug eine Fliege, die sich auf ihn setzte, als er gerade den Schweiß auf seiner Brust verrieb. Die anderen senkten ihre Rüssel weiter ungerührt in die zerhäckselten Überreste von Rind und Schwein. Sie wussten, dass es Legionen für jeden der ihren gab, der fiel. Ein Stubenfliegenweibchen legt rund 900 Eier, bevor es stirbt. Seine Mutter hatte nur ihn gelegt, und jetzt starb sie.
Drei Stockwerke weiter unten legte ein Hund mitten auf dem Bürgersteig ein Ei. Christians Vater sagte das gern, es war seine Lieblingsmetapher für Scheißen. Dieser Hund legte sein Ei dort oft, und die Gleichgültigkeit, mit der sein Besitzer den fruchtbaren Akt zur Kenntnis nahm, machte Christian immer wütend. Der Hundeherr war ungefähr achtzig, der Hund in Hundejahren wohl etwa doppelt so alt. Wie die beiden so dahinkrochen, fragte Christian sich jedes Mal, welcher von ihnen zuerst umfallen würde. In der Natur wären sie längst den Weg seines Hackfleischs gegangen. Christian liebte die Natur, liebte ihre Gesetze, mit denen er in Einklang leben wollte, mit denen er in Einklang leben würde, hatte er erst den verdammten inneren Schweinehund überwunden.
Trotzdem verweigerten sie ihm den Respekt, Hund und Herrchen, morgens, mittags, abends, und seit sie ihn bei der Autovermietung rausgeworfen hatten, verbrachte er den größten Teil des Tages zu Hause und wurde jedes Mal Zeuge, wie sie auf ihn schissen. Ihm ein Ei legten. Große Überraschung. Sie krochen dahin. Der Hund hatte entbunden. Christian fiel das Atmen schwer. Wegen der Hitze, wegen der Wut. Der innere Schweinehund sagte, dass die Zwerge dringend seine Hilfe benötigten, aber Christian antwortete nicht. Die Zwerge sollten sich selbst helfen, dann würde Gott ihnen helfen. Wenn er Lust hatte.
Der Sack mit seinem Bogen darin hing im Kleiderschrank. Es war der einzige Bewohner des Schranks, die anderen trieben sich überall in der Wohnung herum, einige lagen seit zwei Tagen in der Waschmaschine. Er hatte sie nicht vergessen. Der innere Schweinehund hatte ihn daran gehindert, sie aus ihrer Gefängnistrommel zu befreien, aber das war okay, das war jetzt nicht mehr wichtig. Heute war der Tag, an dem er den Hund bezwingen würde, aufstand, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass er lebte. Das Hackfleisch war tot, wie ein Gekreuzigter konnte es nicht einmal die Fliegen verscheuchen, die ihre Eier in seine Wunden legten. Ihn hatten sie nicht bekommen, vielleicht doch, vielleicht war er schon am Kreuz gestorben. Doch er war auferstanden, um die Bestie in den Abgrund zu werfen, dem inneren Schweinehund ein Halsband anzulegen und ihn damit zu erdrosseln.
Drei Pfeile, die Pfeile kamen in Dreierpacks. Auf dem Schützenplatz konnte jeder dreimal schießen, es war wie ein Erschießungskommando. Ein Wichtigtuer rief „Achtung!“, Christian und die Anderen zielten, dann rief der Wichtigtuer „Los!“, und sie richteten Zielscheiben hin. Christian mochte den Bogen, er mochte das Bogenschießen, er hasste die Bogenschützen mit ihrer albernen Vereinsmeierei. Deshalb war er schon seit Monaten nicht mehr auf dem Platz gewesen. Du musst, du musst, du musst, ständig fingen sie ihre Sätze so an, als würde er mit seinem Vater trainieren. Er hasste die Bogenschützen.
Der Bogen selbst legte Zeugnis ab von einer einfacheren Zeit, lange bevor es Autovermietungen gegeben hatte. Dafür liebte Christian ihn, deshalb hatte er sich einmal für ihn entschieden. Er hatte es zuvor mit Laufen probiert, aber der innere Schweinehund hatte es ihm nicht gegönnt. Der Bogen stand für die Jagd, für ein Leben mit und in der Natur, wie er es sich wünschte, wie es für alle das Beste wäre. All die zornigen Kinder, die in ihren Schulen und Universitäten um sich schossen, taten das schließlich nur, weil sie sich entfremdet fühlten, weil die Menschen die Gesetze der Natur nicht mehr achteten, nach denen Opa und sein Scheißer längst ihren Hut hätten nehmen müssen.
Christian tauchte die Spitze eines Pfeils ins Hackfleisch. Er zog sie wieder raus und roch daran, testete den Geschmack mit der Zungenspitze. Es war noch immer würzig und gut, sein Verständnis für die Fliegen wuchs.
Die Beine leicht anwinkeln, die Sehne bis an die Wange ziehen, beide Augen geöffnet lassen, die Spitze einige Zentimeter unter dem geplanten Treffer ansetzen. Beim ersten Mal war Christians Pfeil einfach über die Scheibe hinweggeflogen. Einer der Wichtigtuer hatte ihm daraufhin die Grundregeln des Bogenschießens vermittelt, lächelnd, ständig darauf hinweisend, wie normal doch all die Fehler waren, die er machte. Die Fehler taten weh, weil Christian die Hoffnung gehegt hatte, dass er für das einfachere Leben geschaffen war, ein Naturtalent, aber das war er nicht. Die Möglichkeiten wurden immer weniger, nur die Fliegen wurden mehr.
Der Pfeil schlug in einen Ginkgo-Baum direkt neben dem Opa ein. Wie eine Schildkröte wandte der Greis den Kopf danach, ein jüngerer Typ auf der gegenüberliegenden Straßenseite starrte erschrocken zu dem alten Mann rüber und stotterte: „I- … Indianer?“
Keiner bewegte sich, während Christian zielte, das machte es einfacher für ihn, auch wenn er schon lange nicht mehr auf dem Platz gewesen war. Diese Schwachköpfe mit ihrer albernen Vereinsmeierei.
Pfeil Nummer zwei bohrte sich durch Opas Hals, und ab vom Blut, das er auf dem Bürgersteig verteilte, änderte sich eigentlich nichts, sein Atmen blieb dasselbe rostige Röcheln, mit dem er sich bereits viel zu lange durchs Leben geschleppt hatte.
Der junge Typ sah Christian am Fenster stehen, er zeigte auf ihn und schrie irgendwas. Er rannte und ließ den Blick nicht von Christian, deshalb lief er vor einen der Ginkgo-Bäume und blieb benommen stöhnend liegen. Christians Mutter hatte immer gesagt, wer den Kopf in den Wolken hat, fällt irgendwann auf die Schnauze. Seine Mutter drückte sich gern in Floskeln und Volksweisheiten aus, und bald würde sie die Ewigkeit mit Auf-die-Schnauze-fallen verbringen, oben in den Wolken.
Der letzte Pfeil, ein Gnadenstoß für den tausend Jahre alten Hund, der jetzt das Blut seines Herrn leckte, oder doch ein Denkzettel für den Jungen, der sich nicht auf die Straße konzentriert hatte? Vom schlechten Schüler zum Meister, zum Lehrer. Christian kannte das Gefühl nicht, dass sich seiner bemächtigte. Das musste Stolz sein.
Er überlegte, während er zielte. Er würde das Schicksal wählen lassen und den Pfeil dann abschießen, wenn er die Bogensehne nicht mehr halten konnte. Bis dahin wechselte er zwischen dem Hund und dem Unaufmerksamen hin und her.
Hinter ihm baten die Zwerge um Hilfe.
„Ich komme gleich“, versprach Christian.