In Wohlenkamp
Freunde: es ist ein Gottesgeschenk, in Wohlenkamp leben zu dürfen! Keinen schöneren Ort kann ich mir denken, kein Dorf, dessen Bewohner freundlicher und friedlicher wären als die von Wohlenkamp! Kein Dorf kenne ich, dessen Wälder wildreicher wären! Unsere Wiesen: so ein grünes Grün wie das unseres Grases habt ihr nie gesehen! Kein Wunder, dass unsere Kühe so fett sind, und dass die viele Milch, die sie geben, ebenfalls schön fett ist! Auch die Frauen in Wohlenkamp sind gut genährt, sind nicht solche Wachteln wie die Frauen in den Städten – oh nein! Und die Äcker, die Wohlenkamper Äcker: so gesund und kräftig ist die Erde hier um unser kleines Dorf herum – ihr könnt den Rüben, dem Kohl und dem Getreide beim Wachsen zusehen – jawohl! Oh - und die nahe gelegen Flüsschen und Teiche, Freunde! Wollt ihr dort fischen, braucht ihr keine Angel und keine Reuse! So voller Fische sind die Gewässer: es reicht, die Hand ins Wasser zu stecken und zu greifen! Aale, Hechte, Karauschen, Karpfen, Rotaugen: alles, was Bauch und Pfanne begehren, fangt ihr darin! Wahrlich, ich sage euch – eine wahre Wonne ist’s, in Wohlenkamp zu leben!
Seht – da kommt Heinrich Kümmelmeyer des Weges, mein guter alter Freund aus Kindertagen, dem ich an keinem Tag während all der Jahre und Jahrzehnte, die wir zusammen hier in Wohlenkamp leben, versäumt habe, einen guten Tag zu wünschen! „He – Heinrich! Heinzi! Mein bester Freund! Komm her zu mir, bleib doch stehen! Lass dich begrüßen, lass dich umarmen, Kümmelchen! Sag, Heinerle: wo kommst du her, so früh am Tag?“
„Wo ich herkomme? Was geht’s dich an, alter Schwätzer!? Hast du wieder Langeweile, brauchst du Gesprächstoff, um deinem dummen Weib die Zeit zu vertreiben, oder dich damit nachher im Wirtshaus vor deinen nichtsnutzigen Kumpanen aufzuspielen? Oder hat dich der Pfaffe wieder geschickt, die Leute aus zu horchen?“
„Deine Worte machen mich traurig, mein Freund! Sag‘, Heinzelmann – womit hab ich’s verdient, dass du so mit mir sprichst, vor mir ausspuckst und weitergehst ohne meinen Gruß zu erwidern...?“
Da geht er hin, mein Freund, mein bester Freund. Ach – er wird einen schlechten Tag haben, so etwas kommt bei ihm oft vor, jaja. Wahrscheinlich hat ihn seine Frau wieder geprügelt – Clara Kümmelmeyer ist eine wahre Bärin, sowohl von Wuchs als auch vom Charakter! Wehe dem Armen, der ihren Zorn erregt! Na – und Heinrich, mein bester Freund, ihr Mann, erregt ihren Zorn leicht und oft! Arbeitet er zu langsam: kriegt er Schläge! Arbeitet er schnell und ungründlich: kriegt er Schläge! Setzt er sich zu uns ins Wirtshaus und trinkt ein Glas Bier oder zwei: kriegt er Schläge! Begehrt er auf, hat Widerworte: kriegt er Schläge!
Gestern erst, im Wirtshaus, habe ich zu meinen anderen Freunden gesagt: „Was ist Heinrich Kümmelmeyer, der gute Heini, doch für ein bemitleidenswerter Mann! So brav wie er ist, so böse ist sein Ehedrachen!“ Und auch Pastor Bullerdick, dem ich am vergangenen Sonntag, nach dem Gottesdienst, beim Stammtisch im „Hasen“ von dem armen Heiner erzählte, wiegte mitleidig den Kopf und sprach: „Was nützet dem guten Manne Gottes Segen, wenn er ein böses Weib sein Eigen nennt!?“
Und sogar meine liebe Frau nickte und sagte: „Jaja!“ als ich ihr gestern abend von Heinrich, dem armen Heinerle, erzählte. Und dass auch meine Wirtshausbrüder Mitleid mit dem Vielgeprügelten haben, erzählte ich ihr. Und dass sogar der Herr Pastor voll des Mitgefühls sei, erzählte ich meiner Frau, bevor sie sich mit den anderen Wohlenkamper Damen zum wöchentlichen Klöppelabend traf.
Aber von Heinrich Kümmelmeyers Schicksal abgesehen, Freunde: es ist eine Freude und ein Gottesgeschenk, in Wohlenkamp leben zu dürfen!