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Serie In The Year 2525 - Totenstiller

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09.07.2010
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In The Year 2525 - Totenstiller

Der Club war bereits fast voll. So wie Ben. Genau richtig. Die Nacht noch halbwegs jung, aber schon nach verbotener Hitze duftend, und untrügliche Zeichen zeugten davon, dass es sich hier und heute seit langem wieder einmal lohnen würde, den eigenen Tod zu riskieren.
Frauen, denen der Schweiß vom Körper auf die weiche Tanzfläche troff, gierige Männerleiber in nassen Shirts, dazu die Zwitterwesen mit ihrer genetisch manipulierten Geschlechtlichkeit, sich voller Stolz in geschmeidig windenden Zuckungen darbietend. Schier endlose Reihen Tequila-Shots auf dem gummierten Bar-Tresen, ebenso lange Reihen verlangender Leiber vor den Toiletten – fiebrig wartend auf das Spüren, Schlucken, Ziehen, Lecken (und das aus rein romantischen Ambitionen auf dem Klo, so wie damals vor Hunderten von Jahren) –, Störsignale gegen die Ortungs-Chips in unser aller Nacken, olfaktorische Filter gegen den süßen Gestank verbotener Lust, sämtliche Sinne abgeschirmt gegen die reine Außenwelt: Wenn man schon sein Leben riskierte, dann doch wohl genau hier und jetzt für dieses pralle Leben.
Aus allen Headsets dröhnten die Rhythmen in Trommelfell zerreißender Lautstärke, schmerzhaft schön, ganz wie die verbotene Musik vergangener Zeiten es verlangte. Klassik pushte die Köpfe, Placebo, Nirvana, Kalkbrenner, und sie alle schissen auf die KOALITION und die Todesstrafe der Injektoren, man lebte schließlich nur einmal. Und überhaupt: Was war das schließlich noch, ‚Leben’?
Eine gute Frage. Kurz zog Ben sich sein Headset von den Ohren…und schreckte zurück vor der Stille, die ihn urplötzlich umgab. Hunderte zuckender lüsterner Körper, tanzend, schluckend, feiernd; und dabei der gesamte Club doch totenstill. Musik aus Kopfhörern, Drinks aus Gummi-Bechern, der weiche Boden jeden Schritt absorbierend, kein Laut. Und auch kein Stöhnen, kein Lachen, kein Singen, kein Grölen oder Gläserklirren. Absolute Stille, surreal, betrachtete man die feiernde Menge. Wie die ersten Celluloid-Aufzeichnungen vor sechshundertfünfzig Jahren, tonlose schwarz-weiße Bewegtbilder von Saloons, Kneipen, Kundgebungen, oft begleitet von Piano-Musik und erklärenden Schnitten zur weißen Schrift auf schwarzem Grund, doch immer unpassend ob des Trubels und der sich nur stumm bewegenden Münder. So wie hier. Ein Film ohne Ton, nur live und jetzt. Umfassend gedämmt und jedes Geräusches beraubt dank Antischall-Gegenfrequenzen am Headset-Mundstück, dank Soft-touch™-Böden und Absorber™-Gläsern.
‚Wow’, dachte Ben sich besoffen grinsend, ‚die haben hier echt was investiert!’
Und das nicht in Kommerz. Nein, in das Leben.
Zuletzt hatte Ben so ein Szenario vor zwei Jahren gesehen, 2523, ein echtes scheiß Jahr.
Das echte Leben. Trotz Stille, nein, durch Stille. Ja, heute zu leben, bedeutete Stille. Sterile Stille, in jeder fleischlichen, kreativen, nachhaltigen Hinsicht. Und jedes nonkonformistische Geräusch bedeutete den Tod.
Rasch zog Ben sich das Headset wieder über die Ohren. Abschätzige Blicke der Umstehenden straften ihn trotzdem.
Seit die KOALITION Musik generell verboten hatte, war es in illegalen Clubs verpönt, unbeschallt zu sein. Wobei bereits der Begriff ‚illegaler Club’ eine Tautologie bedeutete, waren doch seit den BEFREIUNGSGESETZEN von 2475 alle Clubs an sich verboten, ebenso wie sämtliche Bars, Cafés, Konzerte und natürlich Diskotheken; jegliche Art von Versammlungsorten, die der vergnügerischen Konspiration dienten, wurden das Ziel der IDEELLEN ENDLÖSUNG.
Doch egal, scheiß Vokabeln. Noch einen Tequila, und Ben grinste dem schönen Zwitterwesen mit den elfenhaften Zügen drei Hocker weiter zu…und ja, jaaa!, spontan kam es daraufhin herüber und rieb sein schlankes Becken an Bens Schenkel, und Ben freute sich und ließ es gerne geschehen. Wozu sonst war er schließlich hier?
Stumm bewegten sich des Zwitters Lippen, lächelten, schallwellenlos. Ben sprach „Kanal zwei“ in das Mundstück, sein Headset schaltete um auf ‚Konversation’ und er hörte des Wesens süße Stimme in seinem Kopfhörer hauchen: „--habe so großen Hunger. Und was immer du mir gibst, Baby: Ich will es schlucken!“
Bens Grinsen wurde breiter: „Das glaub ich dir nicht. Denn du hast ja keine Ahnung, was ich dir alles geben werde…!“
Und lüstern lächelnd befeuchtete es sich mit überlanger Zunge die purpurnen Lippen und antwortete: „Dann schockier mich doch…!“

Und nachdem das Zwitterwesen sich glückselig Speichel, Sperma, Urin und feinstes synthetisches Koks von den Purpurlippen geleckt hatte, gingen beide zurück zur Bar und spülten den spontanen Akt moralischen Hochverrats mit synthetischem Champagner herunter. Dazu ein gemeinsamer Zug aus dem organisch-gespeisten Ecstasy-Implantat unter der Achsel des Wesens – schöner konnte es kaum sein heutzutage und hierzulande.
Beinahe so, wie Bens Großvater es einst flüsternd vorm solarbetriebenen Kamin zum Besten gegeben hatte, damals, vor gut und gerne drei Jahrzehnten, bevor die KOALITION ihn bereinigte:
Nach Internet-Sperre und zwangsweiser Gesundheits-Befreiung, nach angleichender Dynamisierung der Überbevölkerung und Dispensation der Ungläubigen hatten Großvaters häretischen Worte aus vor-KOALITIONÄREN Zeiten den kleinen Ben mehr gefesselt als jedes damals noch erlaubte Buch. Geschichten über die vermeintlich liberale MITTE-RECHTS-LINKS-VERBRÜDERUNG und die Kriege gegen die Rest-Faschisten und Rest-Ungläubigen, Geschichten aus den Anfängen des allumfassenden GROSSEN ZUSAMMENSCHLUSSES. Angeblich wollte Großvater in seiner Jugend sogar noch legal getanzt und frei geliebt haben – doch man wusste ja schließlich, was die Alten nicht alles erlebt haben wollten in ihren verklärten Erinnerungen.
Alleine der Gedanke daran erschien heute verstörtend. Schon lange vor Bens Geburt waren solch verdorbene Auswüchse mit Bildung der einen KOALITION final beendet worden, ebenso wie jegliche historischen Aufzeichnungen darüber. Tonträger-Vernichtung, Internet-Tilgung, Medien-Korrektur, die BEFREIUNGSGESETZE von 2475 zum Besten aller: All dies war längst Geschichte gewesen, als Ben das Licht der Welt erblickt hatte.

Und heute? Heute war ein wahrlich großer Tag für die KOALITION gewesen. 2525, das 50-jährige Machtbestehen zum Wohle aller, und noch am Mittag hatte Ben in Reih und Glied mit den anderen Funktionären aus ihrem MINISTERIUM gestanden und der glorreichen atonalen KOALITIONS-Hymne gelauscht, während die Notwehr-Präventionstruppen in ihren reinweißen nicht-aggressorischen Nicht-Uniformen vorübergingen, nicht marschierten, wohlgemerkt.
Doch noch aus einem ganz anderen Grund war heute ein großer Tag, ein ganz besonderer Tag für Ben: Am 247ten Tag im Jahre 2523 (Monate gab es schon lange nicht mehr, und keine Jahreszeiten, der künstlichen Atmosphäre sei Dank), vor exakt zwei Jahren also, ward Bens Lebensstadiums-Partnerin bereinigt worden. Ein schmerzfreier Akt von Zehntelsekunden nur, gnädig und nur allzu gerecht, während er fleißig im MINISTERIUM saß.
Nicht-autorisierte Körperlichkeit gemäß § 17 und § 23c BGB – des BEFREIUNGSGESETZBUCHS –, vor allem aber jedoch § 42 BGB zur gleichgeschlechtlichen Liebe! Betrogen hatte sie ihn, den Akt nicht zuvor angemeldet und darüber hinaus noch mit einer Frau vollzogen.
Bereinigt.
Keine Bild-, Ton- oder Video-Aufzeichnungen mehr, sich ihrer zu entsinnen. Außer in seinem Kopf. Ihr Lachen. Es wurde schwächer, diffuser, doch noch konnte er es hören, wenn er die Augen schloss. Ihr Atem an seiner Brust, wenn sie sich an ihn schmiegte in den Momenten, da sie dachte, dass er schlief; verbotene Emotionen natürlich, aber auch so schön, so wahr.
Natürlich hatte Ben immer gewusst, wie es enden würde, enden musste. Zu körperlich war sie, zu renitent gegen die KOALITIONÄREN Doktrinen, als dass die Bereinigung nicht stetig im Raum gestanden hätte. Und doch hatte er es dem MINISTERIUM nicht angezeigt, hatte sie nicht gemeldet, nicht wie die anderen vor ihr.
Tod? Auch nur so eine Vokabel. Und doch… ohne ihren Tod (und Ben sprach das bewusst aus im Geiste, ‚Tod’, nicht ‚Bereinigung’) wäre er nie dem Untergrund verfallen. Und ohne ein weiteres Wort – keine Vokabel, sondern ein Wort – ebenfalls nicht: Sein Großvater hatte ihm davon erzählt, von diesem getilgten zwangs-obsoleten Wort.
Trauer.

Und heute war er soweit, es sich einzugestehen; hier in diesem Club, in dem die Wohlgefühl-Zerstäuber der Oberwelt dich nicht mehr künstlich benebelten, während Alkohol und Drogen deine geschützten Sinne zugleich aufs verheerendste zu erweiterten vermochten – Ben vermisste sie…!
Und nur deshalb pochte sein Unterleib nun im verbotenen Takt der Beats seines Headsets, und nur deswegen zeugte die unreine Nässe in seinem Schritt von der Todsünde der Fleischlichkeit. Nie hätte Ben in seinem früheren Leben gedacht, dass das Mysterium Musik solche Wirkungen erzielen konnte, nie für Möglich gehalten, dass die Bereinigung – nein, der Tod – eines Menschen ihn zu solchen Auswüchsen treiben würde; ganz ohne Schuldempfinden, dafür voll der Trauer. Und der Genugtuung, dieser Trauer etwas entgegenzusetzen. Lust entgegenzusetzen.
Kein Wunder, dass Musik, dass solch beflügelnde akustische Lust verboten worden war. Nicht auszudenken, was den friedliebenden Doktrinen der KOALITION widerfahren würde, falls die Todesstrafe abgeschafft werden und die Massen sich ganz ungestraft solch über-sinnlichem Vergnügen hingeben dürften! Auch davon hatte Großvater einst gesprochen, von den kollektiven Lauten aus so genannten ‚Boxen’ statt den heutzutage illegal produzierten Headsets. Welch sündiger Genuss mochte es gewesen sein, sich im direkten Gespräch anzubrüllen, hinweg über den kakophonischen Hall der Töne und Rhythmen, um die freie Kopulation anzubahnen.
Doch dies waren müßige Gedanken, befanden sich doch überall im HAUPT-EUROPÄISCHEN GROSSRAUM äußerst sensible Vibrationsmelder, um derart verderbte Beschallungsverstöße mit dem Tod zu sühnen, vom Stöhnen gleich- wie fremdgeschlechtlicher Art ganz zu schweigen. Selbst auf den Besitz, geschweige denn des Eigentums eines Funkempfängers wie dieser Headsets stand die sofortige Bereinigung – ein jeder musste vor den Szenarien vergnüglich-terroristischer Bedrohung geschützt werden.
Zu unser aller Besten.

Bens Augen brannten. Doch es lag nicht am Rauch der Surrogat-Zigaretten, und auch nicht an der trockenen Luft ohne die ordinierte Luftfeuchtigkeit der Oberwelt.
Es lag an Bahar.
Nunmehr bereinigt und nicht-existent, doch sie war gewesen, und das war ihr Name: Bahar.
Bahar und ihr freies offenes Lachen. Bahar, und die Trauer um sie.

Noch einen Tequila, dann ein weiterer Ecstasy-Zug aus der Achsel. Ben strich über die schönen hohen Wangenknochen seines Zwitters, glitt dann sanft hinunter zu der äußerst gelungenen Manipulation der Gene; ergriff hartes Fleisch über den zwei Öffnungen, ließ seine Finger weiter gleiten bis hin zu dem dritten verstörend zarten Extra-Loch direkt zwischen-- Und da sank das Zwitterwesen zu Boden…!
Der Körper erschlafft, bereinigt schon vor dem Aufprall.
Bens feuchte Hand verharrte in der letzten Berührung, sein Blick glitt hinunter zu den brechenden Elfen-Augen, verdreht nun und blutend, während der schlanke Leib zuckte im finalen Reflex zwischen Leben und, ja, und Tod.
Und Bens Blick fuhr herum zu der Menge…und natürlich: Ein Körper nach dem anderen sank hernieder.
Bereinigung.
Zwei, drei, vier Sekunden nur – und der gesamte Club fiel.
‚Fiel’, ein schönes Wort. Bereits vor Jahrhunderten hatte man es benutzt in all den längst überholten Kriegen, in denen Soldaten fielen anstatt zu sterben, zu krepieren und elendig zu verrecken.
So ungnädig damals und so vollkommen heute, so absolut wahr – denn nichts war zu spüren, nichts zu riechen oder zu schmecken von dem friedliebenden Aerosol, das man einatmete. Solange man geimpft war. So wie alle MINISTERIUMS-Beschäftigten. Die Elite.
Und der Rest krepierte.
Befreiung, durch Gas. Durch ‚Zyklon ZUAB’, um genau zu sein – ‚Zyklon Zu Unser Aller Besten’.

Erst 2503 war das Deutsch wieder zur Amtssprache des HAUPT-EUROPÄISCHEN GROSSRAUMS gereift. Lange genug hatte man sich davor verschlossen, beinahe sechs Jahrhunderte lang. Doch seitdem hatte die Vokabel ‚Gas’ wieder einen puren Klang inne, einen guten Klang. Den Klang des adäquaten Mittels der gnädigen Wahl, schmerzfrei, schnell, sauber. Bereinigend – und säubernd.
Und Ben wusste, was Zyklon ZUAB zu vollbringen vermochte: Keine Minute würde vergehen, und von den verderbten Opfern am Soft-touch™-Boden würde nichts weiter übrig bleiben als ein sich zersetzter Haufen der Elemente des Periodensystems. Kein Grabstein, kein Gedenken, nicht-existent. Die KOALITION konnte Zyklon ZUAB in jeden beliebigen Belüftungstrakt einleiten, wenn ein Verdachtsmoment bestand. Und niemand außerhalb des MINISTERIUMS trug das Antidot in sich.
Selbst die Angehörigen nicht. Selbst Bahar nicht.

Ben zog das Headset von seinen Ohren und legte es auf den Tresen.
Totenstille.
Er sah sich um, sah auf die Reste – und vor ein paar Jahrhunderten hätte er wohl geweint (und hätte es noch gekonnt, damals, vor der eugenischen Laser-Resektion der Tränenkanäle von Geburt an).
Sorgfältig zog Ben sich den Hosenrock zurecht, bevor er über die sich zersetzenden Leichen zur Toilette trat und seinen nassen Schritt am Sterilisations-Becken säuberte; die olfaktorischen Sensoren der Oberwelt. Nicht, dass einer davon anschlug und seinen Wollust-Verstoß registrierte. Und doch: Wieder ein Club weniger, das schöne Zwitterwesen weniger und mit ihm hunderte schön Ungläubiger, schade.
Aber natürlich hatte Ben gewusst, wie es enden würde, wie es enden musste. Ein Ort zu körperlich, zu renitent gegenüber der KOALITIONÄREN Doktrinen, als dass dessen Bereinigung nicht latent im Raum gestanden hätte. Eine Frage nicht des Ob, sondern nur des Wann.
Verdrossen stieg Ben über Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Calcium hinweg zum Ausgang, trat zurück in das sterile ‚Leben’.
Absolut saubere Straße, universell schadstofffreie Wege.
Unnötig, sich nach dem Warum zu fragen. Irgendwas war schließlich immer. Wer mit dem Feuer spielte, kam irgendwann darin um.
Und selbst, wenn es Bens Headset war, das er allzu unvorsichtig abgestreift und somit den Vibrationsalarm ausgelöst hatte – früher oder später hätte Gott, äh, die KOALITION sie alle ohnehin gestutzt.
Und Vermissen?
Ganz bewusst sog Ben die frische befeuchtete Luft in die Lungen. Und die Verdrossenheit wich, und die Wohlgefühl-Zerstäuber in den Rinnsteinen taten ihr Übriges.
Was war selbst ‚Vermissen’ außer einer Vokabel?
Man steckte nie drin, solange man nicht drinsteckt. In beiden Welten. Gäbe es nur noch das Gute, gäbe es kein gut mehr.
Ein Experiment, ein Scherz. Ben lachte darüber. Lachte schallend.
Bahars zügelloser Atem auf seiner Brust… und auf wie vielen Brüsten noch?
Ben lachte. Jeder kriegt, was er verdient.
Und Morgen? Morgen ging es zurück an den Schreibtisch.
Und Ben grinste zufrieden. Und befreit.

Denn Übermorgen? Ja, Übermorgen würde die absolut neue inter-MINISTRALE Phonetik-Kennung endlich ihren Zweck erfüllen – und aus Abertausenden Headset-Kommunikationen eben jenes ‚Du hast ja keine Ahnung, was ich dir alles geben werde!’ herausfiltern. Mit Bens Stimm-Muster abgleichen. Ihn bereinigen.
Zu unser aller Besten.


© SebastianRichard.de

Urheber-Hinweis: Bei dem Titel "In The Year 2525" handelt es sich auch um einen Song-Titel des Folk-Duos Zager and Evans. Die Rechte an diesem Song-Titel liegen bei den Verfassern Zager and Evans.

 

Hallo Sebastian Richard,

die Geschichte fing vielversprechend an, hat für mich dann aber leider nicht gehalten, was sie versprach. Die biologische Pluralität, Entgrenzung der Menschheit, vermischt mit Sinnlichkeit und Verfremdung, das gefiel mir sehr gut. Leider läuft es dann auf das leidige Thema einer zukünftigen Tyrannis hinaus und alle Inspiration geht verloren.
Sprachlich war es ausgefeilt, etwas manieristisch, aber da will ich nicht meckern.
Vertraue mehr auf Deine Phantasie, lass die Politik heraus, dann wird es interessanter.
Gruss
Steffen

 

Hallo und erstmal willkommen in der SF-Kaderschmiede von kg.de :thumbsup:

Deine erste Geschichte hier gewährt uns einen Blick in eine ferne Zukunft. Eine Dystopie natürlich, aber totalitäre Systeme wurden schon Unmengen postuliert, da hilft auch die gnadenlose Übertreibung der "Bereinigung" nicht, deren Begründung mit "zu unser aller Besten" reichlich wischiwaschi ausfällt. Von mir aus. Aber dann darfst Du nicht erwarten, dass ich als Leser ein "boah, da hat der Autor sich aber wahnsinnig tiefsinnige Gedanken gemacht" von mir gebe. Auch die restlos übertriebene Dröhnung ist nur eine Breitseite über das ganze Spektrum und erinnert mich in bisschen an Schlagzeilen über sinnloses Komatrinken. Im Grunde spricht eine große Orientierungslosigkeit aus der Geschichte: Der Protagonist gibt es sich gründlich, mit allen Sinnen, um mehr geht es nicht. Dass er mit dem Leben davonkommt, ist anscheinend nur auf ein vorübergehendes Versagen des Systems zurückzuführen.

Unter dem Strich ist mir das zu wenig. Verbotener Rausch und sofortige Hinrichtung im Namen einer obskuren "Befreiung". Von was? Von Menschlichkeit? Das alles bleibt an der Oberfläche. Handlung beschränkt sich auf Sex und Gewalt, der Rest ist notdürftig kaschierter Info-Dump. Der Aufbau der Erzählung ist dramaturgisch ungünstig, so dass mich die Geschichte kalt lässt mit ihrem Zuviel an Allem - viel Lärm um Nichts.

Uwe
:cool:

PS: Wieso Serie? Ich kann nur davon abraten, sich zu sehr auf ein Szenario festzulegen. Die Serien-Kennzeichnung bringt Dir keinen Vorteil, und sie lässt sich auch noch nachträglich anbringen. Sag Bescheid, wenn ich sie lieber entfernen soll.

 

Hallo Sebastian Richard,

sorry aber:

Erst 2503 war das Deutsch wieder zur Amtssprache des HAUPT-EUROPÄISCHEN GROSSRAUMS gereift. Lange genug hatte man sich davor verschlossen, beinahe sechs Jahrhunderte lang. Doch seitdem hatte die Vokabel ‚Gas’ wieder einen puren Klang inne, einen guten Klang. Den Klang des adäquaten Mittels der gnädigen Wahl, schmerzfrei, schnell, sauber. Bereinigend – und säubernd.
Und Ben wusste, was Zyklon ZUAB zu vollbringen vermochte: Keine Minute würde vergehen, und von den verderbten Opfern am Soft-touch™-Boden würde nichts weiter übrig bleiben als ein sich zersetzter Haufen der Elemente des Periodensystems. Kein Grabstein, kein Gedenken, nicht-existent. Die KOALITION konnte Zyklon ZUAB in jeden beliebigen Belüftungstrakt einleiten, wenn ein Verdachtsmoment bestand. Und niemand außerhalb des MINISTERIUMS trug das Antidot in sich.
Selbst die Angehörigen nicht. Selbst Bahar nicht.
Mit diesem Absatz hast du die Geschichte komplett in die Schmuddelecke geschoben.
1984/GRÖFAZ/Huxley Gemisch ohne Tiefgang, aber mit jeder Menge "sex and crime".

Wenn du dich wirklich und ernsthaft mit der Gesellschaft auseinandergesetzt hättest, die eine solche doktrinäre, totalitäre Gesellschaftsform hat entwickeln können, wäre es okay gewesen.
Aber so bleibt -auch wenn ich dir Unrecht damit tun mag- der sehr schale Eindruck des Neuaufgusses des überkommenen Gedankengutes, das die Welt schon einmal in Brand gesetzt hat, gekleidet in einen pseudogesellschaftskritischen Mantel, der sher dünn ist.
Natürlich kann und darf man sich mit dieser schwarzen Epoche auseinandersetzen. Aber hier vermisse ich die verurteilende, hochkritische Auseinandersezung mit dem Thema.

lg
Dave.

 
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Danke für Deine Kritik, Dave.

Hey Dave!

Danke für Deine Kritik. Und Du hast Recht: es mangelt an Tiefgang, und Sex and Crime sind die treibenden Elemente. Und zwar, weil Demokratie für eine Großteil der Deutschen bedeutet, möglichst wenig davon mitzubekommen. Und weil nichts das Schicksal der Weltgeschichte(n) frappierender gelenkt hat als eben Sex and Crime.
Abgelutscht? Sicher. Doch „doktrinäre, totalitäre Gesellschaftsform“ können eben so entstehen, schleichend, abgelutscht. Bedacht auf persönliche Vorteilnahme körperlicher wie monetärer Art und dabei auf Jahre, nicht Jahrzehnte denkend.
Mangelnder Tiefgang, meiner Meinung nach. Mangelnder Tiefgangs des einzigen, die es aufhalten könnte – des Individuums. Doch grade das Individuum, der Einzelne, kann blind werden für Entwicklungen, die sich über Generationen vollziehen.
Deshalb danke, dass Du gelesen und Dich auseinandergesetzt hast damit in Deiner Antwort. Finde ich gut, die meisten Menschen schweigen nur faul.

Aber eines interessiert mich doch: „Schmuddelecke“?!
Wieso? Weil ich dreißig Jahre nach dem offenen Nationalsozialismus in Berlin geboren wurde und ohne „verurteilende, hochkritische Auseinandersezung mit dem Thema“ die „schwarze Epoche“ einfließen lasse? Als Nebensatz in einer skurrilen Zukunftvision – denn nichts anders wird Hitler in 500 Jahren sein: ein interessanter Nebensatz in einer der vielen Visionen der Geschichte. Und ein megalomaner Psychopath, der eine ganze Religion auslöschen wollte, selbstverständlich.
Doch: Wieso das Kind nicht beim Namen nennen, wieso ‚GRÖFAZ’ statt ‚Hitler’, wieso ‚Schwarze Epoche’ statt ‚Drittem Reich’? Die Tabuisierung grade des dunkelsten aller Themen.
Sollte man wirklich nur tiefgründig und reflektiert über Nazi-Doktrinen schreiben dürfen? Und merkt das Individuum sich den korrekt erhobenen Zeigefinger...?

Und wie gesagt: Danke für Deine Reaktion!
Beste Grüße aus Kreuzberg, *SR

 

Hallo Sebastian,

bitte bedenke, dass es sich um meine subjektive Meinung handelt. Wie nahe sie der Meinungsmehrheit kommt, muss sich zeigen.

Warum Schmuddelecke?

Wenn man Anklänge an Hilter, den großdeutschen Wahnsinn und den Genozid (es handelte sich nicht primär um Ausrottung einer Religion), ohne eindeutig Stellung dazu zu beziehen, dann ist das für die Schmuddelecke. Die unreflektierte Nutzung des Gräulregimes wird zur billigen Effekthascherei und überdeckt die inhaltlichen Mängel der Geschichte. Und solange braunes Gedankengut sich in den Köpfen der Unbelehrbaren festkrallt und diese wenigen Fehlgeleiteten die breite Bevölkerung in "Angst und Schrecken" versetzt, darf man -und hier stehe ich hoffentlich nicht alleine mit meiner Überzeugung- nicht unreflektiert und ohne eindeutig kritische Positionsbestimmung solche Bilder wie in seiner Geschichte verwenden. Tut man es doch, spielt man den Roland-Hess-Lieder-Sängern in die Hände.

Als Nebensatz in einer skurrilen Zukunftvision – denn nichts anders wird Hitler in 500 Jahren sein: ein interessanter Nebensatz in einer der vielen Visionen der Geschichte.

Leider kommt dies in deiner Geschichte überhaupt nicht zum tragen. Unreflektiert, halt.


lg
Dave

 

Hallo Dave,

ich weiß, 55 Millionen Tote in WW2, Genozid und Wahnsinn - natürlich.
Doch meine Geschichte spielt fünfhundertfünfzehn Jahre in der Zukunft! So wie es im Titel steht. Und auch wenn es keine Ich-Erzählung ist, nimmt sie doch den (ideologisierten) Blickwinkel des Protagonisten Ben an.
Wie denkst Du wird man bzw. Ben in über einem halben Jahrtausend über das Dritte Reich denken...?
Unreflektiert wie heutzutage über z. B. Dschingis Khan? Oder aber reflektiert mit „eindeutiger kritischer Positionsbestimmung“?

Beste Grüße,
*S

PS: Meinst Du 'Nazis' mit Deinen 'Roland-Hess-Lieder-Sängern'? So wie 'Der, dessen Name nicht genannt werden darf' statt 'Lord Voldemort'?

 

Hallo Sebestian,

ich verstehe deine Argumentation. Aber du bist Autor der Geschichte, und landläufig verstanden steckt der Autor immer einen Teil seiner selbst in die Geschichten, die er schreibt. Darum ist es gefährlich, unpositioniert über solche Themen zu schreiben. Aber genug der Diskussion über das dritte Reich. Ich hatte es nur angemerkt, da ich es für Effekthascherei halte, die über die inhaltlichen Mängle der Geschichte hinwegtäuscht.

Und ja, ich meine Neonazis. Ich will nur nicht die immer gleichen Synonyme verwenden.

lg
Dave

 
Zuletzt bearbeitet:

Moikka Sebastian,

Du hattest mich um meine Meinung zum Text gebeten, und ich schaue gern rein - weil ich die Diskussion interessant finde. Du wirfst einige Fragen auf - wie z.B. Verbrecher wie Hitler in 500 Jahren gesehen werden könnten, wie ein Individuum mit Propaganda umgeht, und doch versucht, sein Leben zu führen ... Leider kann ich im Text wenig von Deinen Ideen der Diskussion wiederfinden. Und leider erschließt sich für mich auch die Intention der Geschichte nicht, sehr schade, da ich finde, Politik kommt in SciFi - jedenfalls in der außerhalb Osteuropas - zu kurz.

Vorab, weil Du neu hier bist: Wir sparen uns hier, ständig mAn etc zu schreiben - wenn ich sage "der Text ist", ist das also kein Anspruch auf objektive Wahrheit (die es meiner Ansicht nach eh nicht geben kann). Ich hoffe, ich kann Dir zeigen, was mir im Text fehlt.

Ich sehe zwei Hauptprobleme: Die zeitliche Einordnung / der Umgang mit Zeit und das (angenommene) Thema - Verdrängung von Erinnerung / nationalen Traumata.

Zeit:
Für mich gibt es eindeutige Anzeichen, daß die Geschichte unmöglich 515 Jahre in der Zukunft spielen kann. Ich könnte 100 Jahre zu unseren 2010 draufgeben, hielte aber bereits mehr für unglaubwürdig. Dies aus zwei Gründen:
1. Du kannst Dich selbst prüfen, ob Du genug Abstand zur Zeit des Verfassens hast: denke einfach die gleiche Zeit zurück. Und da die sozialen wie auch technischen Veränderungen im vergangenen Jahrhundert ungeheuer rasant vorangingen, laß uns noch plus/minus 200 Jahre zugeben. Dein Prot denkt immer mal so leger in die Vergangenheit zurück, tun wir es auch:

Klassik pushte die Köpfe, Placebo, Nirvana, Kalkbrenner
Von Low Art nach High Art und dann grad die, der Sprung erschließt sich mir nicht. Ehrlich gesagt hatte ich Nirvana schon jetzt vergessen gehabt, bis ich diesen Text las. ;) Vergleichen wir lieber ähnliches: Welcher Pornsong von ca. 1250 war der Gassenhauer damals?
(und das aus rein romantischen Ambitionen auf dem Klo, so wie damals vor Hunderten von Jahren)
Lassen wir die Frage, was die Leute auf dem Weg zum Badehaus besprachen. Du bist ein junger Mann und suchst in einer großen Stadt, sagen wir Köln um 1400, eine Dirne. Ein Straßenmädchen, weil sie billiger ist als die im Hurenhaus. Es regnet in Strömen - aber Du weißt genau, wo man das Mädel findet. Wie jeder heute noch natürlich!
Erst 2503 war das Deutsche wieder zur Amtssprache des HAUPT-EUROPÄISCHEN GROSSRAUMS gereift. Lange genug hatte man sich davor verschlossen, beinahe sechs Jahrhunderte lang. Doch seitdem hatte die Vokabel ‚Gas’ wieder einen puren Klang inne, einen guten Klang.
Sprachwandel nicht vergessen. Um 1250 klang das so:
Er graif mir an den wizen lip,
non absque timore,
er sprah: «ich mache dich ein wip,
dulcis es cum ore!"

Er warf mir ůf daz hemdelin,
corpore detecta,
er rante mir in daz purgelin
cuspide erecta.
Für wie wahrscheinlich hälst Du es, daß im näxten Jahr ein Faschist putscht, und aus Liebe zum Mittelhochdeutschen diese Sprache zur einzigen und Amtssprache macht, wie auch Gewandung und das Zunftsystem wieder einführt? Genau.

Wie die ersten Celluloid-Aufzeichnungen vor sechshundertfünfzig Jahren
Die Kantele und die dreisaitige Standleier sind klasse, findest Du auch? Also, die werden heute sogar noch gespielt. :)

Mit solchen vllt Dir grad absurd erscheinenden Gedankenspielen kann man versuchen, sich als Autor zu überlisten. Dabei merkt man nämlich noch was.

2. Dieser Text besteht nicht aus einer voranschreitenden Zeitlinie, sondern nur aus drei Zeitpunkten: Der Zeit des Faschismus - der Zeit ziemlich genau zw. 1990 und 2010 - dem Jahre 2525.
Auch wenn gesagt wird, was für Gesetze und Allianzen eingeführt wurden, gibt es dazwischen keinerlei Historie. Es gibt nichts, was man nicht schon so kennt. Dein Prot denkt ausschließlich entweder in seiner Zeit (die aber eigentlich die Nazizeit revisited ist) oder die knapp 550 Jahre zurück. Dazwischen und davor gibt es nichts. (Die Sache mit dem Großvater verweist zwar auf 100 Jahre in die Vergangenheit, aber diese Epoche ist nichts anderes als - seltsamerweise - die Welt von heute.) Das macht das setting für mich extrem unüberzeugend. Es scheint mir hier eher eine Satire auf die Politik des 'kleinen Mannes' im einem phantastischen Gewand, als echte SciFi.

Soft-touch™-Böden und Absorber™-Gläsern.
Marketing versucht immer, sowohl den Zeitgeist zu treffen, wie auch futuristisch zu wirken. Diese Bezeichnungen stammen aus den Cyberpunkromanen der 1990er Jahre. Ich finde es unlogisch, daß sich zu all der Nostalgie des Prots auch noch die passende Markenbezeichnung wiederfindet. Und es gibt Retro-Tequila, und synthi Champagner. Hat man denn nix schickes Neues gefunden? Wir trinken heute noch Bier, aber wie steht es mit Met? Wer ißt noch Getreidebrei?

Dann das Thema, oder besser, was ich dafür halte, nach Deinen Komms. (Ich bin nicht sicher, ob das so ist). Mir scheint, es ging um Provokation - die verbaselte Entnazifizierung bloßzustellen. Die eigenartigen Verbote & Tabus (Hakenkreuz, Runen) kombiniert mit der Verleugnung von Traditionen und so. Du betreibst vordergründig Entmystifizierung der Verbrecher.

Zum Thema nicht-gelungene Entnazifizierung haben wohl die Gründungsmitglieder der RAF alles nötige deutlich genug (oder überdeutlich) gesagt. Ich glaube, hier gibt es keinen Raum mehr für Provokation.

Entmystifizierung: Die Idee, daß Hitler, Stalin, Pol Pot, Papa Doc und so irgendwann als dumme, unwichtige Hanseln dastehen könnten, hatte ich auch mal. Allerdings glaube ich inzw, daß die Geschichte anderes lehrt: Sie werden romantisiert. Vllt um ihnen den Schrecken zu nehmen. Gilles de Rais wird mit Heinrich VIII zu Blaubart im Märchen. Statt 400 Knaben zu Tode zu schänden oder eine handvoll Ehefrauen umzubringen, darf er Schlüsselverstecken spielen. Vlad Ţepeş und Erzsébet Báthory werden zu einem romantischen Verführer Dracula im Seidencape. Das gleiche kannst Du auch mit "positiven" Figuren angehen: Jeanne d'Arc, oder Hildegard von Bingen (auch eine Expertin in Sachen Volksverhetzung!). Es gibt sozio-politische Theorien, die meinen belegen zu können, warum eine Epoche nie wieder 1:1 erstehen kann. Hitler würde sicher nicht zu einem Niemand, es würde sich eine - je nach Ideologie und Zeitgeschmack - passende Form für ihn finden. Um diese Theorien solltest Du Dich kümmern, um eine adäquate Zeitlinie zu schaffen, wobei der Prot auch mal an etwas persönliches denkt, das bsp. 250 oder 1000 Jahre zurückliegt.

Bei den Nazis ging (und geht) es nicht um die Auslöschung einer Religion, wie Dave schon sagte. Sondern um ein wir gegen sie, die Einigung nach innen nach den europäischen Bürgerkriegen um rechts vs links. Es ging auch um die Vernichtung von osteuropäischen Völkern, Schwulen/Lesben, Roma, Du weißt. Was für mich nicht paßt: Das soll ja weitergeführt werden. Es wird, wie in einigen islamistischen Regimes, gleich Musik (und hier auch Lärm) verboten. Aber wie passen da die Hermaphroditen rein? (und wie kommen die zu drei Löchern?) Faschismus ist gegen jede Ambivalenz, das ist ja die Anziehung für viele. Nazismus befreit vom Nachdenken, Abwägen, Selbst-Verorten. Die Zwitter passen für mich nicht in die Geschichte - das ist eine undurchdachte Dreingabe einer schönen Idee, die sich nach Zukunft anhört - für mich ist sie aber nicht die Zukunft, die hier präsentiert wird. Ähnliches gilt für

glorreichen atonalen KOALITIONS-Hymne gelauscht
Atonal bedeutet nicht "musiklos", im Gegenteil, es ist sehr komplex. Eine Hymne soll starke Gefühle wecken - aber das haben die doch verboten.
Nicht-autorisierte Körperlichkeit gemäß § 17 und § 23c BGB – des BEFREIUNGSGESETZBUCHS –, vor allem aber jedoch § 42 BGB zur
Tod? Auch nur so eine Vokabel. Und doch… ohne ihren Tod (und Ben sprach das bewusst aus im Geiste, ‚Tod’, nicht ‚Bereinigung’) wäre er nie dem Untergrund verfallen.
Hitler wird ignoriert, der Faschismus durch den Erzähler unterstützt, in Ben teilweise gebrochen. Wer soll sich angesprochen fühlen, oder: gegen wen richtet sich Deine Kritik/Provokation? Nimmt man den Text ohne Deine Komms, werden Dir die Faschos vllt auf die Schulter klopfen. Alle links davon - also alle :D - regen sich auf über Banalisierung. Aber das scheinst Du nicht zu wollen - was denn? Ich muß mir keine Meinung zu Todesstrafe, Völkermord und Vertreibung bilden, die habe ich. Ich hasse Faschisten mit Leidenschaft, sie stehen gegen alles, was für mich das Leben lebenswert macht. Die Zeit des Faschismus und die "Entnazifizierung" hat alle Überlebenden des Landes gespalten. Damit meine ich nicht die Mauer! Es wurde ein Kanon festgelegt, wie über die Nazizeit zu sprechen ist, und es wurde kein sinnvoller Umgang mit Schuld gelehrt. Sowas traumatisiert ein Volk, und das wird sich durch die weitere Geschichte ziehen. Falls es also für Dich Thema ist, hier Verschwiegenes aufzudecken, mußt Du andere Reaktionen provozieren. Du mußt versuchen Dir klarzuwerden, wie diese Mechanismen zusammenhängen. Dann ist zu überlegen, wie sich das sinnvoll in die Zukunft transportieren ließe - in die 100 Jahre, am besten.

Bereinigt.
Keine Bild-, Ton- oder Video-Aufzeichnungen mehr, sich ihrer zu entsinnen. Außer in seinem Kopf. Ihr Lachen. Es wurde schwächer, diffuser, doch noch konnte er es hören, wenn er die Augen schloss.
In dieser kurzen Sequenz kommt für mich der Konflikt in der Geschichte raus. Da erfahren wir zum einzigen Mal etwas über die Figur und ihre Brüche. Das Untergrund (= Musik, Party, Sex) vs. verinnerlichte Propaganda wird ansonsten in seinen Gedanken nicht deutlich gemacht; sondern nur vom Erzähler behauptet. Die Idee, sich mit Körperlichkeit und Rausch gegen Ideologien zu stellen, finde ich sehr gut. Daher ist der Sex hier ein wichtiges Erzählmoment.

Es gibt einen Text, der geschafft hat, eine so grausame Zukunft zu entwerfen, wie Du es vielleicht hier versuchst, ebenfalls nicht aus heul flenn Opferperspektive - sondern wie aus einer noch weiteren Zukunft zurückgeschaut auf das, was heute SciFi wäre - ein wunderbarer Text: Seytania Protokoll "Phönix Blau" in Experimente. Das provoziert, unaufdringlich, und ohne eine politische Haltung vorzugeben. Vor allem ist er extrem sauber durchdacht und konstruiert. Vllt schaust Du da mal rein, zum Vergleich.

Was ich mit all diesen Vergleichen und Referenzen bezwecken möchte ist: Damit der Text Wirkung erzielen kann, mußt Du Dich als Autor verorten und mußt Dir über einige Mechanismen klarwerden. Inwieweit das direkt in den plot fließt, ist sekundär. Man muß es nur rauslesen können.

Sollte man wirklich nur tiefgründig und reflektiert über Nazi-Doktrinen schreiben dürfen?
Hä, ist das ne ernstgemeinte Frage? Natürlich, wie über alle Themen zu (Völker)Mord, folternde Diktaturen und bla. In welcher Form der Text dann aufgebaut ist - ob schwarzhumorige Satire, düsterer Splatterporn oder sonstwas - ist eine andere Sache. Aber "mal kurz" Massenmord verbraten wäre dusselig und uninteressant.

Hast Du eine fundierte Position gefunden, und Dein eigentliches Thema festgelegt, spiele devil's advocate mit Deiner Timeline, mit der inneren Logik Deiner Prots. Mag sein, daß sich damit alles nochmal neu arrangiert - das wäre jedenfalls wünschenwert. So ist das unausgegoren, leider.

Vllt magst Du auch nochmal nach Partizipien durchgehen, die machen einen Text schnell altmodisch und passen nicht zu einem Erzähler, der auch sagt: "Der Club war bereits fast voll. So wie Ben. Genau richtig."

Bildung der einen KOALITION final beendet worden
Final ist vllt ein schönes Reizwort, aber hier redundant: hieße circa ist mit dem Ende beendet worden. ;-)

Übrigens: Das Wort surreal gibt es nicht: nur surrealistisch - zur Kunstrichtung gehörend, oder, was Du hier benötigst: irreal, nämlich traumhaft.

Puha, ein ewig langer Komm, tut mir leid. Ich hoffte, mit einigen Bsp Dir den nötigen Abstand zu Deinem Text zu geben. Die Ansätze finde ich interessant, die Ausarbeitung braucht noch etwas Arbeit.

Herzlichst,
Katla

P.S.
Ach ja: Die Antworten auf die Fragen:
Der Pornsong von 1250 wäre sowas wie Ich was ein Chint so wohlgetan, dann folgend zitiert. Der Grund, warum es heute sogar eine Rap-Version davon gibt, ist aber ein ganz anderer, als eine Verwandlung von Placebo in "Klassik", daher Vorsicht. (Erklärung würde ausufern.)
Die Hure hättest Du im Dom gefunden. Bei schlechtem Wetter lief das Geschäft in den Kirchen.

 

Wenn man nicht nur Geschichten, sondern auch Kritiken mit dem Daumen-hoch-Knopf empfehlen könnte, wäre Katlas Kommentar ein Kandidat.

Hervorragend geeignet auch zur Reflektion über eigene Texte, unabhängig vom hier besprochenen.

Danke!

 

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