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In meinem Kopf

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22.09.2006
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In meinem Kopf

Sandra. Seit Tagen, Wochen, Monaten schon beobachte ich sie, sehe sie an. Aus dem Augenwinkel. Ich registriere jede Veränderung an ihr, bemerke, wenn sie ihre Haare anders trägt, so wie heute, zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, schwarzbraun und seidig glänzend, ein Hauch von Kastanie, das Haargummi leuchtend rot. Manchmal spielen die Finger gedankenverloren mit ihren Haaren, während sie auf den Bildschirm schaut, oder sie schiebt sich die randlose Brille ein Stückchen weiter die Stupsnase rauf, ohne es zu merken.
Ich sehe sie an, beobachte, wie der Stoff ihres Pullovers sich über ihren Busen spannt, wenn sie die Hände hinter den Kopf legt, ein Hohlkreuz macht und sich dann streckt, weil sie den ganzen Tag am Computer sitzt. Ihr Pullover ist grau, hochgeschlossen und unscheinbar; er schmiegt sich eng an ihren Körper, sodass ich den Blick nicht von ihr abwenden kann. Ich sehe sie an. Alles an ihr ist schön. Ihre Haare, ihre Augen, ihre Lippen, ihre Stimme, ihr Körper, der so viel Jugendlichkeit und Vitalität ausstrahlt, die Art, wie sie geht, wie sie lächelt, wie sie lacht und wie sie sich in ihrem engen Pullover streckt und mich ahnen lässt, wie sie ohne ihn aussieht. Alles an ihr ist schön.

Sie strahlt so ein ruhiges stilles Selbstvertrauen aus, es lässt nicht erkennen, ob ihr gefällt, wie ich sie ansehe, aber sie hat mich bemerkt. Ich möchte zu ihr gehen und mit ihr reden, tue es aber nicht, weil ich weiß, dass zu viele Jahre zwischen uns liegen. Ich wende mich ab, richte den Blick auf den Monitor und versuche, meine Arbeit zu machen, und wie jeden Tag bin ich in Gedanken nur bei ihr. Sandra.

Abends ziehe ich die Wohnungstür hinter mir zu, sperre die Welt aus und weiß, welch ein Narr ich bin. Wie könnte es ihr hier gefallen? Wie könnte ich ihr gefallen? Kein Fernseher, kein Radio, kein Computer stören meine Stille, die Welt ist ausgesperrt, nur sie hat es geschafft, die Barriere zu überwinden. Sandra. In meinem Kopf.

Jede Nacht ist sie bei mir und meine Hände streicheln ihren so jungen und so lebendigen Körper. Ich spüre ihre Nähe, ihre Wärme, ihre Hitze, ich spüre ihre Lippen auf meinen, und ich spüre meine Lust und ich weiß, dass es falsch ist. Sandra. In meinem Kopf.

Dann kommen die Bilder und ich sehe flackerndes Blaulicht auf nassem Asphalt und ein Sanitäter legt eine Decke um mich und führt mich zu einem Rettungswagen und wie durch ein Wunder, wie durch einen Fluch bin ich nicht verletzt und meine Beine sind wie Pudding und ich sehe Feuerwehrleute, die versuchen, Janine aus dem Wrack zu befreien und ich sehe Polizisten herumlaufen und ich weiß, dass einer von ihnen mir später sagen wird, dass Janine tot ist und ich weiß, dass alles meine Schuld ist und in dieser Nacht stirbt auch ein Teil von mir und mit den Bildern kommt die Angst und ich will, dass Sandra mich hält und mich an sich drückt und mir sagt, dass alles gut wird und ich will ihre Nähe und Wärme spüren und ihren Atem auf meiner Haut und gleichzeitig will ich es nicht, weil ich weiß, dass ich nie wieder jemanden verlieren will und weil ich weiß, dass es mich verletzen kann, tiefer und schlimmer, als es körperlich möglich ist, und ich bekämpfe meine Gefühle für Sandra und verharre in der Welt meiner selbst gewählten Einsamkeit. In meinem Kopf.

„Duuu Werner, ich muss dich mal was fragen.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, bin wieder im Büro, sitze an meinem Schreibtisch, und da steht sie, Sandra, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, ihr Gesicht ganz nah, keinen halben Meter von meinem entfernt, und sie sieht mich an.

Sie sieht mich an.

Mein Herz bleibt stehen, die Zeit bleibt stehen, alles bleibt stehen. Die Welt besteht nur noch aus ihren Augen, tiefe, klare, grüne Augen, die forschend in mich hineinsehen und nach Antworten suchen. Ihr Blick hält mich gefangen, berührt meine Seele, Ewigkeiten vergehen, und ich lasse es zu, ich halte ihrem Blick stand, unsere Seelen sind verbunden, und ich weiß, dass sie sieht, ich weiß, dass sie versteht, weil es Magie ist.
Schließlich löst sie den Blick, der Moment ist vorbei, die Welt beginnt, sich wieder zu drehen, und ich sehe auf das Blatt Papier in ihrer Hand. Sandra stellt mir eine Alibifrage, und ich gebe ihr eine Alibiantwort.
„Logisch, klar, da war ich wohl etwas verwirrt“, sagt sie, und bevor sie zu ihrem Platz zurückgeht, schenkt sie mir einen zweiten Blick, weich, innig, zärtlich und tröstend, und dann schenkt sie mir ein Lächeln so voller Gefühl, ein aufrichtiges Lächeln, und ich weiß, dass ohne Worte etwas zum Leben erweckt worden ist. In meinem Kopf.

 

Moin,

deinen Text fand ich sehr ansprechend und emotional nachvollziehbar. Habs gern gelesen. Dein flüssiger Schreibstil hat auch dazu beigetragen.

Mein Herz bleibt stehen, die Zeit bleibt stehen, alles bleibt stehen. Die Welt besteht nur noch aus ihren Augen, tiefe, klare, grüne Augen, die forschend in mich hineinsehen und nach Antworten suchen.
Eigentlich passiert ja mit dem Herzen genau das Gegenteil, es müsste doch wie verrückt pochen, würde ich jetzt mal aus eigener Erfahrung behaupten. Nicht das er da noch abnippelt:D
Ihr Blick hält mich gefangen, berührt meine Seele, Ewigkeiten vergehen, und ich lasse es zu, ich halte ihrem Blick stand, unsere Seelen sind verbunden, und ich weiß, dass sie sieht, ich weiß, dass sie versteht, weil es Magie ist.
Diese Passage finde ich persönlich zu dick aufgetragen. Ist natürlich Geschmacksache. Aber das einem bei diesem Blickkontakt solche Gedanken durch den Kopf schießen, na ich weiß nicht.

Gruß
Freygut

 

Hallo Freygut,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

Zitat:
Mein Herz bleibt stehen, die Zeit bleibt stehen, alles bleibt stehen. Die Welt besteht nur noch aus ihren Augen, tiefe, klare, grüne Augen, die forschend in mich hineinsehen und nach Antworten suchen.

Eigentlich passiert ja mit dem Herzen genau das Gegenteil, es müsste doch wie verrückt pochen, würde ich jetzt mal aus eigener Erfahrung behaupten. Nicht das er da noch abnippelt

Du hast natürlich Recht, aber kann das Herz nicht auch mal gefühlt stehen bleiben, wenn die Frau, die mein Protagonist aus der Distanz anhimmelt, ihn auf einmal anspricht? Außerdem (und das ist glaube ich wichtiger) funktioniert der Satz nicht mehr so gut, wenn ich schreiben würde, sein Herz pocht. Der Text spielt ja mit gezielten Wortwiederholungen. Vielleicht ist Einiges ja auch zu dick aufgetragen. Ich werde mal abwarten, was andere noch dazu sagen.

Gruß, Stefan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Stefan!

Du erzeugst am Anfang eine schöne Stimmung: Der Mann schmachtet das Mädchen an und leidet darunter, es ihr nicht zeigen zu dürfen. Das zieht ja immer, und das Gefühl kennt auch jeder: Etwas zu begehren, was man nicht haben darf.

Aber dann gings mir zu schnell. Er verliert sich in Tagträumereien, denkt an den Unfall, denkt wieder daran, dass er sie ja so sehr begehrt, aber ... tja. Aber sonst nichts.

Am Ende dann kommt sie und spricht mit ihm, gibt ihm die Droge, die er braucht. Ein kleines bisschen Nähe. Und alles wird gut. Und ich bin fast sicher, dass das jeden Tag so geht.

Ein schönes Stimmungsbild über das Verlangen, das man sich nicht erlaubt. Ich habs gern gelesen.

Bis bald,

yours

 

Hallo Yours,

auch an dich Dank fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass dir zumindest der Anfang gut gefallen hat. Du hast nicht Unrecht, ich hätte etwas mehr auf den Protagonisten eingehen können und etwas mehr Konflikt und Entwicklung könnten der Geschichte auch nicht schaden. Na ja, ich dachte mal wieder, weniger ist mehr. Der Bandwurmsatz über den Unfall sollte den Text beschleunigen, aber vielleicht bin ich da übers Ziel hinausgeschossen.
Stimmt schon, so ist es ein Stimmungsbild, mehr aber auch nicht. Ausbaufähig. Ich werde drüber nachdenken.

Gruß, Stefan

 

Hallo Stefan S,


mir hat deine Geschichte gut gefallen.

Anfänglich wirkt es auf mich ein wenig altbacken, diese Schwärmerei deines Protagonisten, aber mit jedem weiteren Satz baut sich eine angenehme Stimmung auf. Ist schon ok so, wie es da steht.

Der Bandwurmsatz mit dem Unfall gehört nicht geändert. Ganz deutlich entsteht dadurch der Übergang, diese Zerissenheit des Protagonisten in seinem Kopf.

Ich denke, die Geschichte könnte auch sofort danach aufhören und kein hoffnungsvolles Happyend vertragen, aber, das ist natürlich Geschmacksache.

Wenn du sie allerdings nicht früher enden lassen möchtest, dann wäre es interessant, die Gedanken des Protagonisten besser verstehen zu können, denn seine Gefühle in Bezug auf den verursachten Unfall sind in sich logisch, weshalb sollten sie, nur, weil Sandra ihn ermuntert, nun aufweichbar sein? Da fehlt das Übergangsgefühl, der Weg zur Wandlung.

Gern gelesen.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo lakita,

du hast eigentlich genau den Punkt getroffen: Eine wirkliche Wandlung des Protagonisten findet nicht statt. Soll sie auch nicht. Es ist so gedacht, dass sich im Leben des Protagonisten etwas ändern könnte, wenn, ja wenn er nur über seinen Schatten springen könnte ... So spielt sich eben alles nur in seinem Kopf ab, da er das nicht kann ( und genau hier habe ich als Autor natürlich schon verloren, wenn ich eine Erklärung zur Geschichte hinterherwerfen muss). Mit dem Ende bin ich aber auch nicht wirklich zufrieden, es verwäscht die Geschichte und täuscht ein Happyend vor, das gar nicht da sein soll. Ich werde das Ende daher umschreiben oder kürzen.

Gruß, Stefan

 

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