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In meinem Kopf
Sandra. Seit Tagen, Wochen, Monaten schon beobachte ich sie, sehe sie an. Aus dem Augenwinkel. Ich registriere jede Veränderung an ihr, bemerke, wenn sie ihre Haare anders trägt, so wie heute, zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, schwarzbraun und seidig glänzend, ein Hauch von Kastanie, das Haargummi leuchtend rot. Manchmal spielen die Finger gedankenverloren mit ihren Haaren, während sie auf den Bildschirm schaut, oder sie schiebt sich die randlose Brille ein Stückchen weiter die Stupsnase rauf, ohne es zu merken.
Ich sehe sie an, beobachte, wie der Stoff ihres Pullovers sich über ihren Busen spannt, wenn sie die Hände hinter den Kopf legt, ein Hohlkreuz macht und sich dann streckt, weil sie den ganzen Tag am Computer sitzt. Ihr Pullover ist grau, hochgeschlossen und unscheinbar; er schmiegt sich eng an ihren Körper, sodass ich den Blick nicht von ihr abwenden kann. Ich sehe sie an. Alles an ihr ist schön. Ihre Haare, ihre Augen, ihre Lippen, ihre Stimme, ihr Körper, der so viel Jugendlichkeit und Vitalität ausstrahlt, die Art, wie sie geht, wie sie lächelt, wie sie lacht und wie sie sich in ihrem engen Pullover streckt und mich ahnen lässt, wie sie ohne ihn aussieht. Alles an ihr ist schön.
Sie strahlt so ein ruhiges stilles Selbstvertrauen aus, es lässt nicht erkennen, ob ihr gefällt, wie ich sie ansehe, aber sie hat mich bemerkt. Ich möchte zu ihr gehen und mit ihr reden, tue es aber nicht, weil ich weiß, dass zu viele Jahre zwischen uns liegen. Ich wende mich ab, richte den Blick auf den Monitor und versuche, meine Arbeit zu machen, und wie jeden Tag bin ich in Gedanken nur bei ihr. Sandra.
Abends ziehe ich die Wohnungstür hinter mir zu, sperre die Welt aus und weiß, welch ein Narr ich bin. Wie könnte es ihr hier gefallen? Wie könnte ich ihr gefallen? Kein Fernseher, kein Radio, kein Computer stören meine Stille, die Welt ist ausgesperrt, nur sie hat es geschafft, die Barriere zu überwinden. Sandra. In meinem Kopf.
Jede Nacht ist sie bei mir und meine Hände streicheln ihren so jungen und so lebendigen Körper. Ich spüre ihre Nähe, ihre Wärme, ihre Hitze, ich spüre ihre Lippen auf meinen, und ich spüre meine Lust und ich weiß, dass es falsch ist. Sandra. In meinem Kopf.
Dann kommen die Bilder und ich sehe flackerndes Blaulicht auf nassem Asphalt und ein Sanitäter legt eine Decke um mich und führt mich zu einem Rettungswagen und wie durch ein Wunder, wie durch einen Fluch bin ich nicht verletzt und meine Beine sind wie Pudding und ich sehe Feuerwehrleute, die versuchen, Janine aus dem Wrack zu befreien und ich sehe Polizisten herumlaufen und ich weiß, dass einer von ihnen mir später sagen wird, dass Janine tot ist und ich weiß, dass alles meine Schuld ist und in dieser Nacht stirbt auch ein Teil von mir und mit den Bildern kommt die Angst und ich will, dass Sandra mich hält und mich an sich drückt und mir sagt, dass alles gut wird und ich will ihre Nähe und Wärme spüren und ihren Atem auf meiner Haut und gleichzeitig will ich es nicht, weil ich weiß, dass ich nie wieder jemanden verlieren will und weil ich weiß, dass es mich verletzen kann, tiefer und schlimmer, als es körperlich möglich ist, und ich bekämpfe meine Gefühle für Sandra und verharre in der Welt meiner selbst gewählten Einsamkeit. In meinem Kopf.
„Duuu Werner, ich muss dich mal was fragen.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, bin wieder im Büro, sitze an meinem Schreibtisch, und da steht sie, Sandra, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, ihr Gesicht ganz nah, keinen halben Meter von meinem entfernt, und sie sieht mich an.
Sie sieht mich an.
Mein Herz bleibt stehen, die Zeit bleibt stehen, alles bleibt stehen. Die Welt besteht nur noch aus ihren Augen, tiefe, klare, grüne Augen, die forschend in mich hineinsehen und nach Antworten suchen. Ihr Blick hält mich gefangen, berührt meine Seele, Ewigkeiten vergehen, und ich lasse es zu, ich halte ihrem Blick stand, unsere Seelen sind verbunden, und ich weiß, dass sie sieht, ich weiß, dass sie versteht, weil es Magie ist.
Schließlich löst sie den Blick, der Moment ist vorbei, die Welt beginnt, sich wieder zu drehen, und ich sehe auf das Blatt Papier in ihrer Hand. Sandra stellt mir eine Alibifrage, und ich gebe ihr eine Alibiantwort.
„Logisch, klar, da war ich wohl etwas verwirrt“, sagt sie, und bevor sie zu ihrem Platz zurückgeht, schenkt sie mir einen zweiten Blick, weich, innig, zärtlich und tröstend, und dann schenkt sie mir ein Lächeln so voller Gefühl, ein aufrichtiges Lächeln, und ich weiß, dass ohne Worte etwas zum Leben erweckt worden ist. In meinem Kopf.