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In letzter Minute
In einer wenig bewohnten Gegend steht die Holzhütte von Ruben, einem kräftigen, gross gewachsenen Mann im besten Alter. Eben kommt er von der Weide her, wo er die Schafe für die Nacht ins Gehege getrieben hat. Mit einem Stück Brot und einer Handvoll Feigen setzt er sich vor der Hütte auf die Bank, die er selbst gezimmert hat. Und während er auf dem trockenen Brot herumkaut, drehen sich seine Gedanken um die geliebte Heimat, die er meiden muss.
Und damit steigt der grosse Jammer seines Lebens erneut auf.
Ruben kommt aus Galiläa. Als junger Mann glaubte er den Propheten wie kein anderer. Und wenn in der Synagoge vom Messias gelesen wurde, glänzten seine Augen. Mit grossem Verlangen wartete er auf den verheissenen König, der, wie er glaubte, das Land von den Römern befreien würde. Je schlimmer es im Land wurde, desto stärker wurde seine Hoffnung: "Nun wird er sicher bald kommen."
Als jedoch die Zeit verging und der Messias nicht erschien, nahm er die Sache mit Gleichgesinnten selber in die Hand. Sie meinten, mit Eifer und Hass würde es gelingen, das Land vom fremden Joch zu befreien. Genützt hatte es nichts. Die Römer gingen mit brutaler Waffengewalt gegen die jungen Rebellen vor.
Ruben war es gelungen, in eine verlassene Gegend zu flüchten. Und jetzt lebt er hier schon viele Jahre; das Herz voller Bitterkeit, Hass und Heimweh. In dunklen Stunden lästert er sogar: "Die Heiligen Schriften sind Lug und Trug. Die Römer regieren. Auf den Messias haben wir umsonst gewartet."
Plötzlich werden seine traurigen Augen hellwach. In der Ferne entdeckt er Menschen. Ein Mann und eine Frau, die auf seine Hütte zulaufen. Wie Händler, die ab und zu vorbeikommen, sehen sie nicht aus. Sie tragen nur leichtes Gepäck. Der Mann schaut immer wieder zurück, als ob ihnen jemand auf den Fersen wäre.
"Wenn das keine Flüchtlinge sind", denkt Ruben. "Solche Leute zu verstecken, ist gefährlich. Allerdings war ich damals mehr als froh, als mir jemand Unterschlupf gewährte. Trotzdem, ich habe in meinem Leben genug Verdruss gehabt. Jetzt muss ich schauen, dass ich selber durchkomme."
"Bitte, hilf uns. Wir sind in grosser Not!"
Da stehen sie vor ihm, ein Mann, Mitte dreissig, mit einem offenen Gesicht und klaren Augen. Und eine junge, bleiche Frau, die kaum mehr auf den Füssen stehen kann. Auch sie ruft um Hilfe, wenn auch nur mit den Augen. Diese Augen, die ängstlich und doch voller Vertrauen zu ihm aufblicken. Es wird ihm ganz seltsam ums Herz.
Er schaut zur Seite, sonst könnte er nicht sagen, was jetzt aus ihm herauspoltert:
"Ich kann euch nicht helfen. Geht weiter. Es ist zu gefährlich, Leute wie euch, aufzunehmen."
"Die Soldaten von König Herodes sind hinter uns her," sagt der Mann voller Angst.
"Und, was habt ihr verbrochen?"
"Nichts."
"Das sagen sie alle."
Da macht die Frau einen Schritt auf Ruben zu, hebt das Tuch von der Last, die sie auf den Armen trägt: "Wegen dem da müssen wir fliehen," sagt sie. "Herodes will es umbringen."
Ruben stutzt.
"Ein Kind! Das kann man doch diesem Mörder nicht ausliefern."
Und bevor er richtig weiss, was er macht, reisst er die Türe zum Schafstall auf und drängt die Leute mit rauer Stimme hinein:
"Versteckt euch, so gut es geht. Hier hat es Heu und Stroh. Aber ich kann für nichts garantieren."
"Möge Gott dich dafür segnen", sagt der Mann und schon schlägt Ruben die Türe hinter ihnen zu.
Es war aber auch Zeit. Am Horizont tauchen drei Reiter auf.
"Da habe ich mir schön was eingebrockt. Was habe ich nur gedacht? Wie soll ich mich gegen diese drei Rohlinge wehren? Waffen habe ich keine. Und drei gegen einen, ist mir sowieso zu viel. Und überhaupt, warum soll ich für diese fremden Leute meinen Kopf hinhalten?", brummt Ruben vor sich hin. Dabei hat er jedoch immer das zarte Gesicht des schlafenden Kindes vor Augen. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass ihm jemand etwas zu leide tut.
Als ob nichts geschehen wäre, setzt er sich wieder auf die Bank und kaut weiter auf dem trockenen Brot herum.
"Sind da nicht gerade Leute bei dir vorbeigekommen", schreit einer der Reiter, noch bevor er vom Ross steigt.
"Hö?", fragt Ruben und schaut die Soldaten an, als ob er nichts verstehen würde.
"Hast du sie versteckt?", ruft ein anderer. "Antworte, sonst" und schon fuchtelt er mit seinem Schwert vor Rubens Gesicht herum.
Der steckt sich ein grosses Stück Brot in den Mund und sagt, ohne dass jemand ein Wort versteht: "Sucht doch selber, ihr Bluthunde."
Zwei Soldaten gehen ins Haus und der Dritte läuft zum Stall. In diesem Moment scheut eines der Pferde und bäumt sich auf. Der Mann kommt zurück und schlägt fluchend auf das Tier ein. Jetzt werden auch die zwei anderen unruhig.
"He, du fauler Sack! Komm her und gib auf die Pferde acht, damit ich endlich den Stall durchsuchen kann", brüllt der Soldat.
Ruben rührt sich nicht und macht etwas, was er schon lange nicht mehr getan hat. Er betet, dass Gott die Flüchtlingsfamilie schützen möge.
"Hast du im Stall auch nichts gefunden"?, fragen die beiden anderen, als sie aus dem Haus kommen. Aus dem Fluchen und Schimpfen ihres Kameraden verstehen sie ein Nein. Der Anführer gibt das Zeichen zum Aufbruch.
"Wir vertrödeln hier nur unsere Zeit; aber dass du es weisst", ruft er Ruben zu, "König Herodes versteht keinen Spass mit Leuten, die solche verstecken, die sich selber zum König machen möchten."
"Blödsinn, so sehen diese Flüchtlinge nicht aus", denkt Ruben und steht von seiner Bank auf, als die Reiter verschwunden sind. Erst jetzt merkt er, wie seine Beine zittern. Er muss sich wieder setzen und staunt vor sich hin: "Komisch, dass niemand den Stall durchsucht hat." Er schüttelt den Kopf.
Erst als es dunkel wird, geht er in den Stall. Die fremden Leute sitzen auf einem Strohballen und die Frau hält das Kind an der Brust. Sie schaut Ruben mit dankbaren Augen an und sagt: "Gott hat ein Wunder getan. Plötzlich hatte ich keine Angst mehr und wusste, dass sie uns nicht finden."
"Aber warum?", wundert sich Ruben. Die junge Frau neigt sich liebevoll über das Kind und sagt: "Wegen diesem. Das darf nicht umkommen. Das ist Gottes Geschenk an die Menschen." Mit ernstem Gesicht nickt ihr Mann dazu und fährt mit seiner grossen Hand ganz zart über den Kopf des Kindes.
Ruben geht plötzlich ein Licht auf.
"Jetzt verstehe ich alles." Er sinkt auf die Knie und sagt voller Ehrfurcht:
"Du bist der Messias."
Merkwürdiges geht in Ruben vor. Beim Anblick dieses Kindes fängt die Bitterkeit und der Hass in seinem Herzen an zu schmelzen. Eine grosse Freude erfüllt ihn. Und die Freude wird immer grösser, dass es ihn fast zersprengt.
"Der Messias ist da", wiederholt er immer wieder und dann bricht es aus ihm heraus:
"Und ich wollte nicht mehr an sein Kommen glauben."