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In fremden Wänden
Die überarbeitete Version findet Ihr hier:
In fremden Wänden
"Sie hat getrunken..." Ein berufsmäßiges Flüstern. Zu laut. Die Stimme hätte zu ihm dringen müssen. Aber er konnte sie nicht hören. Noch waren die Medikamente zu stark, mit denen man ihn ruhiggestellt hatte.
"Armer Kleiner." Ihr Blick wanderte zu der zerbrechlichen Gestalt zwischen den Laken. "Da muss man doch was tun."
"Er wird wohl in ein Heim kommen. Die Akten liegen schon beim Jugendamt." Wieder ist das Flüstern zu laut. Und wieder starrt er nur weiter an die Zimmerdecke, mit aufgeweichtem Blick.
"Ein Heim?" In ihrer Stimme liegt ein wenig Bitterkeit und ein kleines Bisschen Unglauben. "Aber er ist doch noch so klein!" - "Er ist zwölf. Und wo soll er denn sonst hin? Hat doch niemanden."
"Was ist mit seinem Vater?" - "Wer weiß das schon? Tot, verschollen, unbekannt. Wir wissen rein gar nichts. Kein Wunder, bei der Mutter."
"Andere Verwandte? Freunde der Eltern?" - "Freunde?" Die berufsmäßige Stimme lacht auf. "Diese Mutter hatte alles mögliche, aber keine Freunde."
Ihr Blick wird scharf, sieht zwischen der Flüsternden, die nicht mehr flüstert, und dem Bett hin und her. "Das muss doch nicht sein, in seiner Gegenwart!" - "Ach, der kriegt das nicht mit. Außerdem weiß er doch, wie das da zuhause abging." Wieder so ein Lachen. "Na, wenn man das Zuhause nennen will. Ein Gartenschuppen. Mit nur einem Bett. Da hat der Hund drin gelegen, als sie kamen, um sie zu holen. So ein dreckiges Vieh eben. Und überall die Flaschen. Na, wie gesagt, sie trinkt."
Sie sieht mitleidig zum Bett herüber. "Hat ihn geschlagen. Und zu essen hatten sie nichts. Geld ging sicher nur für Alkohol drauf. Und das jetzt im Winter. Ich versteh nicht, wie man mit einem Kind so leben kann. Asoziale!" Ihr ist, als hätte er geblinzelt, in genau dem Augenblick, als die andere "Asoziale" sagte. Aber er ist zurück in seiner inhaltslosen Welt aus bunter Chemie, die ihn dösen lässt. Vergessen lässt und in eine bessere Zukunft starten.
"Wie lange können sie ihn noch hier behalten?" - "Woll'n wir ja gar nicht. Aber müssen wohl noch so zwei oder drei Tage. Bis der Gips runter kann. Damit wollen die ihn nicht im Heim haben. Weiß der Teufel warum."
"Wie hat er sich denn den Arm gebrochen? Was war da los?"
"Seine Mutter hat ihn zu Brei geschlagen. Gehirnerschütterung, Prellungen, mindestens fünf gebrochene Rippen. Muss letztendlich gefallen sein und hat sich den Arm gebrochen. Draußen im Schnee haben sie ihn gefunden. Und dann die Mutter festgenommen. Grausam sowas. Und jetzt muss er bleiben, bis der Schock verarbeitet ist. Deshalb ja auch die Pillen. Soll ihn ruhigstellen."
"Dann können sie ihn wenigstens noch ein wenig aufpäppeln. Er ist so schrecklich dünn. Man möchte ihn glatt mit nachhause nehmen und glücklich machen."
Bunte Ballons, mit Schleifen an den Rollstuhl gebunden. Ein großes Auto, und es ist warm. In einem Haus aus Stein. "Na, da staunst du, oder?" Ein breites Lächeln, mehr als freundlich, eine Schale mit Keksen in der Hand.
"Hier wirst du für eine Weile bleiben. Bei mir."
Skeptisch sieht er sich um. Saubere Wände, dicker Teppich, eine Heizung, die leise gluckert. Und durch das Fenster sieht er in den Garten. Einen richtigen Garten unter einer dünnen Schicht aus Januarschnee.
"Wo ist meine Mutter?", fragt er, sieht sich um. Erwartet, sie durch die Tür treten zu sehen. Die fremde Frau sieht ihn an und schweigt. "Ich will zu meiner Mutter." Jetzt steigt ihm das Blut in den Kopf. Sie soll etwas sagen. "Das geht nicht." Ihre Stimme ist leise, fast, als wäre sie auf einmal schüchtern geworden. Nach dieser überschäumenden Freude zuvor.
Als habe sie ihn nicht gehört. Noch einmal betont er jedes Wort. "Ich will zu meiner Mutter!" - "Das geht nicht." Wieder dieser leise Ton, als spreche sie zu sich selbst. "Warum nicht?", wagt er den Vorstoß.
"Das weißt du doch." Sie ist auf dem Rückzug. "Wo ist meine Mutter?", setzt er nach.
"Ich weiß es nicht." Sie wirkt kleinlaut. Als trüge sie Schuld. Er kann ihr nicht glauben. "Ich will nachhause." - "Das hier ist dein Zuhause." Eine Lüge. Denn Mama ist nicht hier. "Nein, ist es nicht." - "Du hast recht. Da ist es noch nicht. Aber es wird es werden. Für eine Weile."
"Nein!", er schreit auf. Lauter, als er beabsichtigt hat. "Ich will zu meiner Mutter!" So schwer kann es doch nicht sein, das zu verstehen. "Aber hier wird es dir besser gehen." Sie will ihm nicht helfen. Sie will nicht verstehen. "Nicht ohne meine Mutter!" - "Aber Schatz", er ist nicht ihr Schatz, wird es niemals werden. "Deine Mutter ist sehr krank. Sie braucht Hilfe."
"Ja, sie braucht Hilfe. Ich will zu ihr. Ich will zu meiner Mutter. Jetzt!" Sich aus dem Rollstuhl hochzustemmen, gelingt ihm nicht, er sackt wieder in sich zusammen. Das Gesicht unter Schmerzen verzerrt.
Sie lächelt wieder. Ein wenig wie eine Maske. "Du musst nicht mehr bei deiner Mutter leben. Jetzt lebst du bei mir. Deiner Mutter wird jemand anders helfen." - "Wer?" Seine Augen sind zusammengekniffen zu schmalen Schlitzen. Sie zuckt nur die Achseln und wendet sich ab.
"Ich kümmere mich jetzt mal ums Mittagessen. Iß davor nicht zu viel von den Keksen, sei so gut." Und als scheint sie seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren, verlässt sie den Raum.
Bald, in ein paar Tagen schon, wird er wieder kräftig genug sein. Wird aufstehen können und gehen. Sein Blick wandert aus dem Fenster. Dann wird er über den Zaun steigen können und nach ihr suchen. Es ist Winter. Da kann sie nicht allein überleben. Sie braucht ihn. Und sie wird auch nicht weit gegangen sein. Nicht ohne ihn. In ein paar Tagen wird er zu ihr gehen. Und dann wird alles gut. In der Küche klappert ein Topf. Dann wird alles gut. Er muss nur Geduld haben. Dann wird alles gut.