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In freiem Fall ins Schicksal - Alpengeschichte
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Nils den gefurchten Felsvorsprung über seinem Kopf. Die Sonne brannte schonungslos auf ihn herab und der Schweiss rann nur so hinunter. Hin und wieder wenn der Wind die Richtung änderte, flogen ein paar wilde Wassertropfen des leise rauschenden Staubbachs in sein glühendes Gesicht und verschafften einen Hauch von Abkühlung. Heute fielen die Wasserschleier des Wasserfalls fast durchsichtig und wie zartgesponnen, nahe neben ihm auf den Talboden hinunter. Die Kletterroute neben dem Staubbach hatte es wirklich in sich. Nils prüfte die fest gespannten Seile und wagte einen Blick in die Tiefe. Die Holzhäuser des idyllischen Lauterbrunnens waren nur noch winzige Punkte. Der glitzernde Fluss folgte beständig seinem geschwungenen Lauf durchs Tal hinaus. Nils liess seinen Blick über die schroff abfallenden, bewaldeten Hänge gleiten, die den Talboden einkesselten.
Über ihm war das Klicken des Karabinerhackens zu hören, als er die keuchende Stimme seines Freundes vernahm: „Alles in Ordnung da unten?!“ „Ja, los weiter - bald haben wir’s geschafft!“. Mit einem kraftvollen Zug zog sich Nils die raue Klippe hinauf und stieg prustend auf den schmalen hervorstehenden Felsenvorsprung an der senkrechten Fluh. Wieder ertappte er sich dabei, wie sein Blick ins Tal fand. An die Stelle wo er das ockerfarbene Ziegeldach des Hotel Edelweiss erkennen konnte. ‚Was sie jetzt wohl gerade machte?‘
Er hörte das felsige Knirschen während sein Freund die Wand hochkraxelte und genoss den kühlen Wind, der den Tannenwald tief unter ihm zum Rauschen brachte.
Nils erinnerte sich noch gut an das erste Zusammentreffen mit ihr. Schon lange ging das Gerücht durchs Dorf, dass das ziemlich in die Jahre gekommene Hotel Edelweiss den Besitzer wechselte. Die Dorfbewohner freuten sich auf die Neueröffnung. Auch er entschloss sich das Wirtenpaar und deren Tochter Lisa kennenzulernen. Nachdem er die Stallarbeit beendet hatte, machte er sich auf den Weg ins Wirtshaus. Als er eintrat, hörte er lautes Gelächter und das Klirren der Gläser die prostend aufeinanderstiessen. Während seine Augen über die anwesenden Gäste glitten, grüsste er hier und dort Bekannte, steuerte auf den Stammtisch zu und dann stand sie da - bildschön und makellos.
Der Schweiss rann Nils in die Augen, als er sich weiter an der Fluh emporschwang. Nun war es wieder windstill, kein Vogel war zu hören – nur das bedächtige Rauschen des Staubbachs. Vorsichtig ertastete Nils die schroffe Wand und schielte zu seinem Freund hinauf, der sich in vollster Konzentration in die Höhe rankte. ‚Es waren ihre Augen, die ihn von der ersten Sekunde an in den Bann gezogen haben. Dieses tiefe Blau erinnerte ihn geradewegs an den Himmel mit seinem strahlenden Sonnenschein.‘ „Wir sind fast da, noch zwanzig Meter!“ Nils strengte sich an, um noch den Rest der Staubbachfluh zu erklimmen.
Christian war schon oben angekommen, als sich Nils ein letztes Mal hochzog und über den steinigen Abgrund kroch. Keuchend liessen sie sich beide unter hochgewachsenen Tannen ins dürre Moos fallen und lachten aus vollem Hals heraus. „Gott, ist das eine Hitze!“. Lachend erwiderte sein Freund: „Es hat niemand behauptet, es werde ein Zuckerschlecken!“. Grinsend schnappte Nils nach Luft und betrachtete den wolkenlosen Himmel, der durch die dunklen Äste funkelte. Das Bergsteigen gab ihm eine Freiheit, wie sonst nichts auf der Welt. Das Kräftemessen und die Einsamkeit am Fels brachten ihn in eine meditative Ruhe. Die Ruhe die er dringend brauchte, nachdem das gestrige Treffen mit ihrem Vater so eskalierte.
Nils trank einen Schluck Tee und betrachtete seinen Freund, der sich mit geschlossenen Augen in der nachmittäglichen Hitze ausruhte. Seufzend liess er sich nieder, inhalierte den würzigen Duft des trockenen Waldbodens und beobachtete wie der Staubbach rauschend über den Abgrund in die Tiefe stürzte. Im feinen Dunst der sprudelnden Wasserperlen bildete sich ein schwacher Regenbogen. Nils schloss die Augen.
Vorgestern hatte sie ihn und seine Tiere auf die Alp begleitet. Mühelos wie eine Gemse stieg sie den erschwerlichen Weg hinauf und half ihm lachend die Kühe zu treiben. Fröhlich stampfte sie durch den friedlich säuselnden Sausbach und als er ihr den Rücken zudrehte spritzte sie ihn laut prustend mit dem eisigen Wasser voll. Laut schreiend rannte sie über die Wiese durch die Alpenrosen davon, als er sie jagte und eine wilde Verfolgung aufnahm. Ihre goldenen, langen Haare hatten sich gelöst, nachdem er sie eingefangen und fest zu sich gezogen hatte. Das Gefühl in seinem Herzen war unbeschreiblich, als sie ihm ihr Gesicht zuwendete und zum Dreiergestirn Eiger Mönch Jungfrau deutete, das im Nebelmeer zu schwimmen schien.
Nachdem sie im Saustal angekommen waren, bestaunte sie die Schönheit dieses wildromantischen Tals. Später zeigte er ihr die stolzen Lobhörner und den wilden Grat der zum Saxetal hinüberführte. Stillvergnügt beobachteten sie ein paar kugelrunde, pfeifende Murmeltiere die sie zwischen den Hügeln entdeckten. Auf der Alp angekommen tischte ihnen der Senn Suppe, Wurst und frisches Brot auf, das sie hungrig verschlangen. Auch die harte Arbeit, die sie am Nachmittag verrichteten, schien ihre gute Laune nicht zu trüben. Lächelnd hörte sie sich die hitzköpfigen Diskussionen zwischen ihm und dem Senn an und strahlte ihn immer wieder mit diesem Lächeln an, das sein Herz entflammte.
Die Nacht hing schon an den Bergen, als sie die Arbeit beendeten. Nach dem Abendessen sassen sie beide vor der Hütte auf der hölzernen Bank und genossen die magische Ruhe über der Alp. Nils spürte die tiefe Verbindung zu Lisa. Das Ganze erschien ihm irreal, wie sie feenhaft neben ihm sass, während die silbrige Mondsichel über der Jungfrau aufging und die sagenhafte Gebirgskette in sanftem Licht beleuchtete. Fesselnd sah sie ihm in die Augen, während er eine verirrte Strähne aus dem ebenmässigen Gesicht strich und sie sich innig küssten. Heiss getrieben, hob er sie auf seine Arme und schritt mit ihr durch die sternenklare Nacht in seine Schlafstube in der Alphütte. Sie verbrachten eine unvergessliche, leidenschaftliche Nacht. Am Morgen leuchtete die aufgehende Sonne ins Zimmer hinein. Lisa sah aus wie ein schlafender Engel mit den blonden Haaren und den roten Wangen. Hier erkannte er, dass sie die Frau seines Lebens war. Was sich Stunden später als Problem darstellte! Herumalbernd und küssend hat er sie nach Hause begleitet. Ihr Vater wischte gerade den Tresen ab, als sie die Gaststube betraten. Nils erinnerte sich bitter an die nächsten Minuten. „Was einen Bauern!? Das kannst du vergessen Fräulein! Wie abgesprochen reist du in zwei Wochen nach Frankreich und absolvierst die drei-jährige Gastronomiefachschule. Denkst du eigentlich ich vertraue mein Hotel einem Bauern an!? Ihr werdet den Kontakt zu einander sofort abbrechen! Ich erlaube nicht, dass ihr euch wiederseht!“ Geschockt suchte Nils in ihren Augen nach Antworten und ihre Tränen gaben sie ihm. Hals über Kopf stiebte er raus, an die frische Luft. Seitdem hat er nichts mehr gehört von ihr.
„Los, kehren wir um“. Nils blinzelte aus den Gedanken gerissen zu Christian rüber. Die Abendsonne liess das Silberhorn und die Jungfrau mit den umliegenden Bergen in einem warmen rosarot leuchten. Nils zog den Helm und den Klettergurt an und schaute runter ins Tal. Nur kurze Zeit später hing er wieder an der senkrechten Fluh. Ärgerlich fluchte er leise über seine neuen Handschuhe, die ihm ein wenig zu gross waren. Er spähte hinauf und beobachtete seinen Freund, der sich direkt über ihm über den Abgrund tastete. Noch einmal zog er sich die Handschuhe fest und plötzlich spürte Nils feine dumpfe Aufschläge auf seinem Helm. Steine rieselten über ihn und an ihm hinunter in die Tiefe. Noch bevor er hochschauen konnte, hörte er das gellende „Achtung!“ von Christian und spürte einen harten, dumpfen Schlag auf dem Kopf. Völlig unerwartet von diesem stechenden Schmerz, verlor er die Kontrolle über das Seil und bevor er realisierte was geschah, stürzte er in die Tiefe. Schreiend sah er die vorbeisausende Wand, bevor er ungebremst auf einem Felsvorsprung aufschlug und das Bewusstsein verlor.
Lisa verabschiedete lachend eine Gruppe Japaner und sah kopfschüttelnd über die halbvollen Teller, die sie auf den Tischen hinterlassen haben, als sie plötzlich entfernt einen schwachen Schrei vernahm. Einen Schrei der sich tief in ihr Herz bohrte. Mit einem unguten Gefühl suchte Sie die Wand über ihr ab und entdeckte in der Nähe des Staubbachs einen Bergsteiger, der sich blitzschnell abseilte. Kurz darauf sah sie auf einem winzigen Felsvorsprung eine regungslose Person in den Seilen hängen. Die Zeit schien stillzustehen. Noch bevor sie ihren Vater rufen konnte, kam er schon in seiner Bergführerausrüstung und den Kletterseilen aus dem Hotel geeilt. Er hatte von seinem Schlafzimmer aus das ganze Unglück mit angesehen. Lisa hörte das aufgebrachte Wimmern von dem verzweifelten Kletterer aus dem Funk ihres Vaters: „Kommt schnell, Nils gibt kein Lebenszeichen von sich!“ Sie sah den Blick ihres Vaters, der sich für kurze Zeit mit ihrem kreuzte, bevor ihr der Stapel Teller aus der Hand glitt und in tausend Scherben zerbrach. Wie versteinert stand sie da und wollte schreien. Aber sie blieb stumm und spürte nur eine eisige Kälte in ihr aufsteigen. Ihr Vater rannte zum Doktorhaus, wo kurze Zeit später der Helikopter landete, um die Helfer aufzuladen. Lisa kümmerte sich nicht um den Scherbenhaufen und rannte kopflos in dieselbe Richtung, wo sich zu selben Zeit mit heulender Sirene der Rettungswagen eingefunden hatte. Viele Schaulustige versammelten sich und schauten dem Spektakel an der Wand zu. Lisa erkannte ihren Vater der auf der Fluh auftauchte und sich zu den beiden Kletterern abseilte. Es wurde immer dunkler und sie konnte kaum erkennen, was sich an der Wand abspielte. Der Scheinwerfer des Helikopters verströmte nur wenig Licht, aber sie sah, wie der Bewusstlose sicher mit ihrem Vater an der Seilwinde hing und sich dem Doktorhaus näherte.
Rasch brachte der Hubschrauber die Beiden auf den Boden, wo die Flughelfer Lisa zurückhalten mussten, damit sich die Ärztin um den Verletzten kümmern konnte. Ihr Vater kam zu ihr hin und nahm sie in den Arm. „Wie geht es ihm Vater?!“ Die Rettungssanitäter luden Nils in den Rettungswagen, als sie die aufmunternden Worte ihres Vaters hörte. „Er kommt schon durch, los fahre mit ihm ins Spital und kümmere dich um ihn.“ Überglücklich umarmte sie ihn, bevor sie zu ihrem Nils in die Ambulanz stieg. Nils war wieder bei Bewusstsein und schaute sie strahlend an, als sie sich zu ihm setzte. Fest umfassten sich ihre Hände, als sich der Rettungswagen in Bewegung setzte. Jetzt wurde alles Gut.