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In fünfhundert Metern rechts abbiegen: Letzte Ausfahrt
Auf dem Abschlussball seiner High-School nannte Robert F. Burger seine Lebensziele: Informatik studieren, nach Silicon Valley ziehen und viel Geld verdienen. In dieser Reihenfolge.
Kurz vor seinem Examen lernte Robert in Stanford Angela kennen. Beide schrieben in ihrer Freizeit maßgeschneiderte Programme für mittelständische Firmen. Schnell stellten sie fest, dass sie unterschiedliche Lösungsansätze und dadurch auch sehr verschiedene Programme entwickelten, die sich aber meistens in ihrer Effizienz kaum unterschieden. Sie arbeiteten zunehmend als Team und kamen oft zu überraschenden Ergebnissen, die übliche Lösungen an Geschwindigkeit und Einfachheit weit übertrafen und ihnen so einen stetig steigenden Verdienst einbrachten. Als sie an einem Freitag-Nachmittag an einer neuen Software für Getränkeautomaten bastelten und im bewährten Teamwork eine genial simple Lösung entwickelten, meinte Robert:
„Lass uns nach dem Examen zusammen bei Professor Fisher eine Doktorarbeit schreiben. Das wird sicher ein großer Wurf.“
„Ja, wahrscheinlich würde es eine fantastische Arbeit, aber es ist leider nicht möglich.“
„Warum denn nicht? Du studierst zwar am MIT und bist jetzt nur zu einem Forschungssemester in Stanford, aber du kannst doch sicher noch die Uni wechseln. Wir können genug Geld verdienen, so dass du kein Stipendium mehr benötigst.“
Angela schmunzelte: „Ich bekomme gar kein Stipendium. Professor Fisher ist mein Vater.“
Robert zeigte anderen Menschen gegenüber nie irgendwelche Gefühlsregungen und auch wenn er alleine war, ließ er nicht zu, von Emotionen gesteuert zu werden. In dieser Nacht nach diesem Gespräch war er so aufgeregt, dass er kaum schlafen konnte. Angelas geschliffener Verstand und ihre kühle Sachlichkeit gefielen ihm, aber in den letzten Wochen waren ihm auch andere Vorzüge an ihr aufgefallen und diese ungewohnten Gedanken quälten ihn geradezu. Denn er hatte sich bisher nicht für Mädchen interessiert und sich auch noch nie verliebt. Er war gerne alleine oder mit Menschen zusammen, die ihn nicht störten. Partys und andere Events der Studenten waren ihm dagegen ein Graus. Aber Angela war so anders als die Mädchen, die er von der Uni kannte. Sie interessierte sich nicht für Mode oder Partys und andere Belanglosigkeiten. Vielleicht wirkte sie deshalb auf ihn so anziehend. Er wollte mehr an ihr entdecken, auch wenn er gar nicht wusste, was er zu finden hoffte.
Auch Angela fiel es schwer, Emotionen zuzulassen, aber sie interessierte sich für Robert und sie ahnte, dass sie sich einander öffnen mussten, um sich näher zu kommen. Sie hatte keine Erfahrungen im Umgang mit Jungen außerhalb der üblichen Universitätsatmosphäre. In Gesprächen mit ihren wenigen Freundinnen war es oft um die Themen Flirt und Liebe und was noch kommen könnte gegangen. Jetzt wollte sie versuchen, ihr theoretisches Wissen in das Leben umzusetzen und aus den objektiven Fachgesprächen mit Robert etwas persönlicheres werden zu lassen. Robert machte wider Erwarten begeistert mit. Und nachdem sie begonnen hatten, sich gegenseitig zu erkunden, beschlossen sie, vor weiterführenden Experimenten abzuklären, ob sie sich auf eine gemeinsame Reise begeben wollten und wohin sie dann führen sollte. Nachdem sie einige Listen erstellt und ausdiskutiert hatten, beschlossen sie, zu heiraten. Dabei waren beiden die ungewohnten erotisch aufgeladenen Gefühle eher unangenehm, aber vor allem Robert hoffte, eine enge Bindung mit Angela würde auch ihre Zusammenarbeit vor Dritten schützen.
Robert und Angela hielten sich an ihre Listen. In den ersten beiden Jahren führten sie eher eine Fernbeziehung, da sie ihre Doktorarbeiten schrieben. Vor allem Angela pendelte zwischen der Uni und ihrem gemeinsamen Zuhause. Dort entwickelten sie gemeinsam Programme und installierten sie bei ihren Kunden. Nach Abschluss der Doktorarbeit zog Angela endgültig in ihr gemeinsames Haus, das sie zwischenzeitlich erworben hatten. Da sie vom ständigen Reisen eher genug hatte, war meistens Robert auf Achse, um bei Kunden Programme zu installieren und zu warten. Vier Jahre nach ihrer Hochzeit stellte Angela fest, dass Robert immer häufiger tagelang verreiste. Sie fühlte, dass ihn ihre Ehe nicht mehr besonders interessierte und fürchtete schließlich, er hätte irgendwo eine kleine Freundin. Sie versuchte, ihn näher an sich zu ziehen und erlebte, dass gelegentliche Ausflüge in die dunkle und geheimnisvolle Welt der Sexualität Folgen zeitigen konnten: Sie erwartete ein Kind. Angela war überglücklich und brauchte einige Tage, bis ihr aufging, dass Robert gar nicht so begeistert über den erwarteten Nachwuchs zu sein schien.
„Unser Kind wird sicher ein hervorragender Informatiker“, versuchte sie ihren Ehemann zu einem Lächeln zu bewegen.
„Aber es wird Jahre dauern, bis er uns unterstützen kann und wir haben jetzt schon so viel zu tun, dass deine Schwangerschaft unseren Arbeitsplan belastet.“
„Du denkst anscheinend nur an das Geschäft.“
„Du bist doch von deiner Familie einen gehobenen Lebensstil gewohnt. Aber so zu leben, kostet Geld, viel Geld. Und bis eine Software Geld einspielt, können Monate und Jahre vergehen. Aber das weißt du doch selber sehr gut, also warum streiten?“
„Du kannst doch sicher Studenten und Praktikanten einstellen, die unsere Arbeit unterstützen und für mich einspringen. Und du kannst dich dann auch mehr um deine Familie kümmern.“
„So einfach ist das nicht mehr. Wer gut ist, weiß auch, was er wert ist. Wir brauchen Spitzenkräfte, um verwertbare Ergebnisse zu erzielen, also müssen wir noch mehr Geld verdienen, um die Mitarbeiter angemessen entlohnen zu können. Manchmal kommt mir das Leben vor wie eine Endlosschleife.“
Angela hatte gehofft, dass Robert sich mehr um sie kümmern werde, aber nach diesem Gespräch war er nur noch unterwegs und hatte gar keine Zeit mehr für seine kommende Familie. Auch als Angela mit frühen Wehen vorsorglich in die Klinik kam, besuchte er einen wichtigen Kunden im Mittelwesten und fand nur wenige Minuten zu einem Telefongespräch.
Nach der Untersuchung führte die Ärztin mit Angela noch ein langes Gespräch und meinte schließlich:
„Es wird sicher noch acht Tage dauern bis zum Termin, aber für ihr Kind und Sie ist es besser, wenn Sie hier bleiben und sich in Ruhe und Gelassenheit auf die Geburt vorbereiten können.“
„Habe ich so weinerlich geklungen?“
„Entscheidend ist, dass Ihre Werte nicht optimal sind, aber wir bekommen Sie sicher wieder in Ordnung. Außerdem ändert sich in Ihrem Leben mit dem Baby einiges. Wenn dann weitere Schwierigkeiten auftauchen, kann es schon zu Verstimmungen und Ängsten kommen. Stimmungsschwankungen sind nicht außergewöhnlich. Und wir lassen Sie nicht allein.“
Angela wurde in ein Zwei-Bett-Zimmer gebracht. Ihre Bettnachbarin war auch erst vor einigen Stunden in die Klinik gekommen.
„Ich heiße Sarah Bennet. Entschuldigen Sie, dass ich so losplatze, aber ich bin sehr aufgeregt. Eigentlich sollte mein Sohn schon vor zwei Tagen kommen, aber die Ärztin meinte, ich könne mir noch einige Tage Zeit lassen. Meine Gefühle fahren mit mir Achterbahn.“ Sie lachte bei diesen Worten, aber in ihrem ausdrucksstarken Gesicht wechselten Freude und Anspannung schnell hintereinander, wie Angela fasziniert bemerkte.
„Und ich heiße Angela Burger-Fisher. Eigentlich ist mein Geburtstermin erst in acht Tagen, aber ich fürchte, meine Tochter hat es eilig.“
„Sie schauen mich so an, als ob wir uns kennen. Aber ich erinnere mich nicht.“
„Nein, wir kennen uns nicht. Ich staune über ihre ausdrucksvolle Mimik. Mein Ehemann und die Mitarbeiter in meiner Umgebung zeigen kaum jemals ihre Emotionen.“
„Mein Freund hat mich auch immer bewundert. Er sagte mir oft, er sei gefühllos wie ein Stein, aber meine starken Gefühle reichten auch für ihn aus. Und Sie sind verheiratet? Ich wundere mich nur, weil Sie bisher auch keinen Besuch bekommen haben.“
„Ich bin seit vier Jahren verheiratet und wir betreiben zusammen eine kleine Softwarefirma. Deshalb ist mein Ehemann häufig auf Reisen.“
„Das ist für Sie doch gewiss nicht einfach. Ich bin ledig, aber das stört mich nicht. So bin ich unabhängig und kann meine Schule für Ballett und Ausdruckstanz so führen, wie ich es möchte. Mein Kind wird eine neue Herausforderung und ich weiß noch nicht, wie ich alles unter einen Hut bekomme, aber ich freue mich auf meinen Sohn.“
Die beiden Frauen freundeten sich bald an. Nach drei ruhigen Tagen lief alles ganz schnell. Angela und Sarah kamen kurz hintereinander in den Kreißsaal und bereits am Nachmittag lagen beide glücklich mit ihren neugeborenen Kindern im Krankenzimmer, als die Tür aufging.
„Robert!“, freute sich Angela. Robert blieb in der Tür stehen, schaute kurz herein und verschwand wieder.
„Was war das denn?“, fragte Angela fassungslos. Als sie sich diese verwirrende Szene noch einmal vor Augen hielt, fiel ihr etwas auf: „Hast du eben auch ‚Robert!‘ gesagt?“, wandte sie sich an ihre Bettnachbarin.
Sarah hatte ebenfalls entgeistert auf die Tür geschaut. Jetzt lief sie dunkelrot an und stotterte: „Ja. Robert ist der Vater meines Sohnes. Aber bitte glaube mir, ich wusste es nicht, er hat mir nie gestanden, dass er verheiratet sei.“
Und dann trennten die drei ihre Lebenswege ohne Krach und hässliche Szenen. Angela zog mit ihrer Tochter Angelina zu ihrem Vater und bewarb sich um eine Assistentenstelle an der Uni. Sarah kam in ihrem Leben mit dem kleinen Roberto und ihrer Schule auch ohne Robert gut zurecht. Und Robert war ebenfalls zufrieden. Inzwischen hatte er ein so umfangreiches Wissen erworben, dass er auf eine Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau nicht mehr angewiesen war. Seine wenigen Angestellten erledigten ihre Aufgaben selbständig und so konnte er tagelang an neuen Programmen tüfteln, ohne durch Menschen oder Ereignisse gestört zu werden. Alle waren glücklich und zufrieden. Alle Erwachsenen.
Roberts Kinder begegneten sich erst, als sie zur Junior High-School kamen. Roberto fiel Angelina bald ins Auge, da sie ihm erstaunlich ähnlich sah und so pirschte er sich an einem Mittag in der Kantine an sie heran:
„Hallo, ich heiße Roberto.“
Sie schaute ihn lange und zunehmend interessiert an: „Du siehst mir wirklich ähnlich. Ich bin Angelina.“
„Wir könnten ja als Zwillinge auftreten. Ich bin am 19. Juni 2000 geboren.“
Angelina fiel die Gabel aus der Hand: „Ich auch.“
„Das gibt so viele Filme über Zwillinge, die sich nicht kennen. Denkst du, sowas kommt auch wirklich vor?“
Die beiden hielten aber nichts vom Drumherum reden und konfrontierten ihre Mütter mit der Zwillingsfrage. Schnell war beiden Kindern klar, dass sie tatsächlich nicht einmal Halbzwillinge waren, da sie ja unterschiedliche Mütter hatten. Aber sie fanden die Zwillings-Idee spannend und begannen, die gleichen Klamotten zu tragen und alles Mögliche zusammen zu unternehmen. In der Senior-High-School wurden sie von Beginn an für Zwillinge gehalten. Auch ihre Mütter, die sich nach dem gemeinsamen Klinikaufenthalt nicht mehr begegnet waren, fanden über die Kinder wieder zueinander und die vier bildeten schnell eine verschworene Gemeinschaft, während Robert alle Kontaktversuche abschmetterte.
Anfang November schrieb Angelina einen Brief an den Weihnachtsmann. Roberto meinte, mit fünfzehn Jahren sei man zu alt für den Weihnachtsmann, aber Angelina war sich sicher, dass es Wunder geben könne. Und warum sollte nicht auch in ihrer kleinen Familie einmal etwas geschehen, was bisher ein unerfüllbarer Wunsch zu sein schien. Als die Kinder den Brief zum Postkasten brachten und Roberto ein wenig weiter spottete, begegnete ihnen eine kleine Windbö:
„Mein Brief … .“
Angelina und Roberto sahen dem Brief nach, der nicht etwa wieder zur Erde trudelte, sondern immer höher in den Himmel stieg.
„Der fliegt jetzt direkt zum Weihnachtsmann. Naja, falls der da oben wohnen sollte“, witzelte Roberto.
„Der Brief wird ankommen, ganz gleich, wo der Weihnachtsmann lebt. Du wirst es erfahren.“
Eine Woche später erhielt Angelina einen dicken Umschlag aus Williams in Arizona. In dem Brief war eine Einladung für vier Personen, eine Weihnachtsferienwoche im Santa Claus Resort zu verbringen. Da auch Flugkarten und Mietwagengutscheine beigelegt waren, beschlossen die vier, diesen großartigen Gewinn anzunehmen und am 21. Dezember, dem ersten Ferientag, flogen sie von San Francisco nach Arizona um im Resort sieben hoffentlich wunderschöne Tage zu verbringen.
Am folgenden Tag erhielt Robert eine lange E-Mail. Er möge möglichst umgehend nach Williams in Arizona kommen, denn seine vor sechs Monaten installierte Buchungssoftware im Santa Claus Resort spucke unsinnige Ergebnisse aus. Aus den angehängten Beispielen erkannte Robert recht schnell, dass hier kein simpler Virus am Werk war. Entweder war sein Programm kenntnisreich manipuliert worden oder es lag tatsächlich ein schwerwiegender Programmfehler vor.
Robert verschwendete keinen Gedanken an die nahende Weihnachtszeit, sondern flog am Nachmittag Richtung Williams und nahm sich einen Mietwagen für die weitere Reise. Nach den detaillierten Angaben der E-Mail sollte er auf der Interstate 40 gen Osten fahren und nach zehn Kilometern auf die alte Route 66 abbiegen, dann würde er direkt zum Santa Claus Resort kommen.
Als Robert am Flugplatz losfuhr, wurde es bereits dunkel, aber das eingebaute Navi lotste ihn schnell auf die Interstate 40. Es gab wenig Verkehr und so fuhr Robert entspannt gen Osten, als die angenehme weibliche Stimme des Navi verkündete „In fünfhundert Metern rechts abbiegen. Letzte Ausfahrt.“
‚Wieso letzte Ausfahrt, habe ich eine Ausfahrt verpasst?‘ Aber schon sprach das Navi weiter:
„In zweihundert Metern abbiegen. Letzte Ausfahrt“ und dann „Biegen sie rechts ab. Letzte Ausfahrt.“
Robert hielt sich an die Anweisungen, bog ab und schon sah er ein großes angestrahltes Schild ‚Santa Claus Resort‘ und dachte über die eigenartige Anweisung des Navis nicht weiter nach. Im Hotel erhielt er die Schlüssel für eine traumhafte Suite im vierzehnten Stockwerk mit einem atemberaubenden Blick auf den Canyon. Das sagte jedenfalls die Dame am Empfang. In der Dunkelheit war allerdings nichts zu sehen. Der Canyon war nicht einmal beleuchtet. Aber Robert war von der Reise ohnehin abgespannt und ein wenig müde. Also bereitete er sich für die Nacht vor und legte sich schlafen. Am folgenden Morgen wollte er früh anfangen, um schnell fertig zu werden und am gleichen Tag wieder nach Hause fliegen zu können. Er wollte noch einige Arbeit im ablaufenden Jahr erledigen.
Um fünf Uhr in der Frühe wachte Robert aus einem verworrenen Traum auf. Die Traumerlebnisse liefen wie ein Film in seinem Kopf weiter und er fühlte sich benommen, Am liebsten hätte er weiter geschlafen, aber er spürte einen zunehmenden Kopfschmerz und stand auf, um einige Tabletten zu schlucken. Im Bad spülte er die Pillen mit einem Glas Wasser herunter und schaute in den großen Badezimmerspiegel. Beinahe hätte er die Tabletten wieder ausgespuckt, denn er erkannte sich selbst nicht mehr. Eine grüne Mütze mit einer langen Spitze thronte auf seinem Kopf, sein Gesicht war hinter einem dichten weißen Bart kaum zu erahnen, außerdem trug er eine grüne Jacke mit roten Aufschlägen. Er schaute an sich herunter und sah eine rote Strumpfhose und grüne Stoffschuhe mit langen hochgebogenen Spitzen.
„Ich stecke in einem Weihnachtswichtelkostüm“, stöhnte er. „Ich versteh das nicht, ich habe doch bis eben geschlafen, wie bin ich in dieses Kostüm geraten?“
Die Kleidung passte ihm wie angegossen. Dennoch wollte er sie ausziehen, Nur wurde ihm schnell klar, dass er sich geirrt hatte. Sein neues Outfit war nicht einfach angegossen, sondern angewachsen wie eine zweite Haut. Robert stürzte zum Telefon und verlangte den Zimmerservice und den Hotelarzt. Es vergingen nur wenige Sekunden, dann öffnete sich die Tür und herein kam ein Mann, der aussah wie Santa Claus. Er dröhnte auch sofort „Ho, ho, ho“ und Robert stand kurz davor, zuzuschlagen. ‚Sei ruhig‘, ermahnte er sich. ‚Bleib gelassen, lass dir deinen Zorn nicht anmerken.‘
Der Weihnachtsmann lächelte Robert verschmitzt an: „Nun setzen Sie sich erst einmal. Da kommt schon Ihr Frühstück und nach einer Tasse Kaffee wird es Ihnen gleich viel besser gehen.“
„Träume ich etwa noch? Was für ein Spiel treiben Sie mit mir?“
„Wir spielen kein Spiel. Ich benötige Sie ernsthaft als Helfer für eine Familie, die einen Weihnachtsurlaub gewonnen hat, den sie jetzt hier im Hotel verbringt. Im Tagesprogramm dieser Familie ist vorgesehen, dass sie heute Vormittag von einem meiner Wichtel besucht wird, der sich ihre Wünsche anhören soll. Das dürfte für Sie ja nicht schwer sein.“
Robert versuchte, ruhig zu bleiben und die gehörten Worte zu verstehen. Er erwiderte deshalb erst einmal nichts und wunderte sich, dass nach der ersten Tasse Kaffee sein Zorn wie Frühnebel in der Sonne verging. Langsam fand er den verrückten Auftrag von Santa sogar spannend. „Nun ja, Kundenwünsche aufzunehmen und zu bewerten, ist mein täglicher Job. Aber die Erfüllung der Wünsche dürfte dann ja wohl Ihre Aufgabe sein.“
„Ja, leider“, seufzte der Weihnachtsmann.
„Leider? Sind Sie die strahlenden Kinderaugen über? Wünsche zu erfüllen sollte doch eine tolle Sache sein.“
„Ist das so? Ich muss die Wünsche erfüllen, die mir genannt werden. Auch wenn ich deutlich vor Augen habe, dass ein anderer Wunsch für einen Menschen viel sinnvoller und hilfreicher wäre.“
„Sie schenken den Menschen das, was sie sich wünschen, auch wenn das Geschenk gar nicht das ist, was sie wirklich bräuchten?“
„Genau so ist es.“
„Warum sind Sie dann der Weihnachtsmann geworden? Oder wurden Sie etwa als Weihnachtsmann geboren?“
„Das ist recht kompliziert. Was die Menschen Weihnachtsmann nennen, sind eigentlich sehr verschiedene Gestalten. Da gibt es alte chinesische Glücksgötter mit langen weißen Bärten, die Kinder beschenken, oder den Bischof Nikolaus von Myra oder germanische Sagengestalten und viele andere, die heute als Weihnachtsmann tätig sind. Und wir alle sind aus sehr unterschiedlichen Gründen zu einer Personifizierung des Weihnachtsmannes geworden.“
„Ich verstehe. Es gibt also viele Weihnachtsmänner. Aber warum wurden Sie überhaupt Weihnachtsmann, wenn Sie gar keine Freude an der Arbeit haben?“
„Also wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Meine Geschichte ist nicht sehr fröhlich. Vor vielen Jahren war ich der verantwortliche Beamte einer unbedeutenden Provinz. Die Priester des Landes forderten von mir die Bestrafung eines Bürgers. Ich hielt den Mann für einen harmlosen Spinner, aber ich wurde von den Priestern und Politikern unter Druck gesetzt, so dass ich schließlich der Menge, die sich vor dem Regierungssitz versammelt hatte, einen Wunsch frei gab: ‚Wen soll ich freilassen?‘ fragte ich sie: ‚diesen brutalen Räuber und Mörder oder diesen Landstreicher, der keinem Menschen etwas zu Leide getan hat.‘ Und so schlich ich mich aus meiner Verantwortung und erfüllte der Menge ihren Wunsch. Ich sah damals keinen anderen Weg, meinen Posten zu behalten und ich wagte nicht, gegen die aufgestachelten Menschen zu entscheiden. Und jetzt muss ich Jahr für Jahr Menschen nach ihren törichten Wünschen fragen und zusehen, wie sie sich und manchmal auch anderen nur Unheil bringen.“
Robert wusste nicht, was er sagen sollte. Die Geschichte dieses Weihnachtsmannes, der ihm gegenüber in seinem Sessel saß, erinnerte ihn an etwas, was er vor langer Zeit gehört hatte, aber er kam nicht darauf. Schließlich raffte er sich auf:
„Na gut, wo ist meine Familie, die ich beglücken soll?“
Als Robert die Familien-Suite betrat, stand er seinen eigenen Kindern und ihren Müttern gegenüber. Das hatte der Weihnachtsmann doch sicher beabsichtigt. Aber warum? Mit seiner Ehefrau und seiner Freundin hatte er seit fünfzehn Jahren nur sporadisch und sehr unwillig Kontakt gehabt. So fürchtete er sich ein wenig vor dem Wiedererkennen. Aber die vier sahen in ihm einen Weihnachtswichtel.
„Was wünscht ihr euch denn zu Weihnachten?“
Sein Sohn war am schnellsten mit seiner Antwort: „Wir möchten als eine Familie in einem Haus miteinander leben.“
„Aha und eure weiteren Wünsche?“
Robert schrieb den Wunsch gewissenhaft in ein großes Buch, das er von Santa erhalten hatte. Dann schaute er wieder auf die vier Menschen, die vor ihm standen.
„Ihr habt doch gewiss noch mehr Wünsche.“
„Nein, wir haben alle den gleichen Wunsch.“ , antworteten vier Stimmen im Chor.
„Also ihr möchtet zu viert zusammen wohnen.“
„Nein, zu fünft.“
„Ja, jetzt hier sind wir fünf Personen, aber ich gehöre doch nicht dazu.“
„Unser Vater gehört dazu, auf jeden Fall und unbedingt“, entgegnete Angelina
Robert fühlte sich hilflos. Was sollte er machen. Sollte er sich verraten? Nein, diesen Wunsch konnte und mochte er nicht erfüllen. Aber Santa Claus hatte ja gesagt, für die Erfüllung der Wünsche sei er zuständig. Also beschloss Robert, sich vor der Entscheidung zu drücken und alles weitere dem Weihnachtsmann zu überlassen.
„Ich werde euren Wunsch an Santa Claus weitergeben. Und ich wünsche euch schon jetzt frohe Weihnachten.“ Mit diesen Worten verließ Robert geradezu fluchtartig die Suite seiner Familie.
In seinen Räumen saß der Weihnachtsmann: „Nun, du hast deine Aufgabe erfüllt und deshalb darfst du dir auch etwas wünschen.“
Robert war hin- und hergerissen. Schließlich würde dieser Weihnachtsmann seinen Wunsch erfüllen. Sollte er sich wünschen, dass er alleine glücklich und zufrieden sein könne? Oder noch besser, dass die vier ohne ihn ihr Glück fänden? Er schaute unentschlossen auf den Weihnachtsmann, der schon so lange sinnlose und unüberlegte Wünsche erfüllen musste und dann entstand in seinen Gedanken eine wundersame Idee:
„Ich wünsche mir, dass das geschieht, was für meine Familie am besten ist.“
„Ho, Ho, Ho.“ erwiderte Santa und verschwand durch den kleinen Elektrokamin.
Robert starrte auf das künstliche Kaminfeuer, das lustig weiterbrannte, dann holte er sich aus der Minibar einen doppelten Whiskey. Dabei sah er sich im Spiegel in Anzug und Krawatte und verschluckte sich erst einmal. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, zog er sein Jackett und dann auch noch das Hemd, aber der Wichtelanzug war offensichtlich restlos verdunstet. Dann meldete sich das Zimmertelefon.
„Sandra Debrett von der Rezeption. Herr Burger, wir haben Ihre Reiseunterlagen jetzt zusammengestellt und sie liegen an der Rezeption bereit. Sie werden heute Nachmittag nach dem Brunch mit unserer Hotellimousine zum Flugplatz in Gran Canyon Village gefahren. Ihr Flug für fünf Personen startet 7:50 nachmittags und sie landen um 0:45 in San Francisco. Ihr Chauffeur wurde bereits benachrichtigt und er holt die Familie am Flughafen ab.“
„Vielen Dank“, brachte Robert hervor und legte auf. Einmal mehr fragte er sich, ob er nicht doch träume. In seinem Kopf schien sich nur Watte zu befinden und es fiel ihm schwer, nachzudenken.
Der kleine Düsenjet hatte nur eine First Class und sie waren offensichtlich die einzigen Passagiere. Die beiden Kinder und ihre Mütter schliefen bereits kurz nach dem Start ein, aber Roberts Gehirn wachte jetzt langsam auf:
‚Was habe ich mir da bloß eingehandelt. Wieso habe ich so einen idiotischen Wunsch geäußert. Das wird doch nie was. Heile Familie, dass ich nicht lache. Was soll das überhaupt werden? Spätestens in zwölf Stunden bricht diese vorgetäuschte Harmonie doch zusammen. Und das soll dann das Beste für mich sein? Nein, Moment, für die Familie habe ich den Wunsch ausgesprochen. Gehöre ich eigentlich zu dieser Patchwork-Familie? Bisher habe ich mich da ja erfolgreich herausgehalten. Bekommen jetzt also nur die vier das Geschenk ihres Lebens? Ich gönne es ihnen, bestimmt, aber was mache ich dann? Soll ich weiter mitgehen oder steige ich lieber aus?‘
„Nehmen Sie die Letzte Ausfahrt“, hörte er die freundliche Navi-Stimme in seinem Kopf.
‚Das klingt ja wie ‚Jetzt oder Nie‘. Ich soll mich also entscheiden. Nach welchen Kriterien, was sind die Bedingungen und wohin soll die Reise gehen? Sollte ich nicht lieber mit Angela darüber reden? Würde sie mir überhaupt zuhören? Sollen wir wieder zusammengehen und unsere Ehe fortführen?‘
Robert schaute auf Sarah. „Oder eine Ehe zu dritt? Nein, Freundschaft, ab und an knuddeln und abends kuscheln, das würde mir liegen.“
„Ja, das würde mir auch gefallen.“ Robert starrte auf Angela. Sie sah ihn auch an und lächelte.
„Habe ich etwa laut geredet?“
„Jedenfalls habe ich etwas gehört. Ich finde die Vorstellung, in einer Familienwohngemeinschaft zu leben, richtig gut. Ein gemeinsamer Tisch und getrennte Betten. Das würde mir gefallen.“
Inzwischen war Sarah auch aufgewacht und hörte Angela interessiert zu. Dann fragte sie Robert: „Hast du denn eine neue Freundin oder lebst du auch alleine wie wir beiden?“
Robert lief leicht rot an vor Verlegenheit und meinte dann: „Ich hatte in meinem Leben nur zwei Freundinnen und die eine habe ich geheiratet.“
„Dann ist doch alles gut. Ich hatte nach dir auch keinen Freund mehr. Irgendwie brauche ich diese Intimitäten nicht. Aber wir vier knuddeln gerne miteinander. Da könntest du sicher mitmachen.“
Roberts analytisch ausgerichtetes Gehirn lief inzwischen auf Hochtouren. Programmablaufpläne, Prozeduren, alles letztlich glasklare Logik. In seiner Firma bestimmte er schließlich auch alleine, was ein Programm leisten konnte und musste.
‚Aber wahrscheinlich bin ich jetzt nicht mehr der Boss. Ich komme mir eher vor, wie ein kleines Digit, das durch ein Programm jagt und gar nicht weiß, wo es hin soll und wie es da hinkommt. Na ja, das Digit braucht es auch nicht zu wissen. Es macht sich schließlich keine Gedanken über seine Zukunft.‘
Sarah und Angela schienen wieder zu dösen. Robert merkte, dass ihn dieser Vergleich mit einem Digit zunehmend frustrierte, aber dann wuchs ein neuer Gedanke heran: ‚Das Digit kommt sicher dort an, wo es hin soll. Und wenn es wirklich einmal in der Lage wäre, über die Stränge zu schlagen und falsch abzubiegen, läuft es eben einen Umweg. Ich denke, dieses Programm, in dem wir ja wohl stecken, ist so gebaut, dass wir alle auf jeden Fall ankommen.‘
Robert beschäftigte sich weiter mit diesem Gedanken. ‚Sollte ich also alles falsch machen, würde ich mein Ziel dennoch erreichen. Aber wie erginge es mir dabei? Bevor ich mir da einige Schrammen zuziehe, sollte ich besser mitspielen. Aber wie, wenn ich gar nicht weiß, was hier abläuft?‘
Er schaute auf seine alte neu in sein Leben getretene Familie. ‚Meine Vorstellung vom Digit ist wahrscheinlich zu einfach. Menschen haben ja mehr Möglichkeiten, nicht nur Null und Eins. Es gibt auch vielleicht oder teilweise und was weiß ich noch alles. Und ich habe oft genug erfahren, dass Menschen etwas sagen, was sie eigentlich gar nicht meinen. Wie soll ich das erkennen und dann die richtigen Entscheidungen treffen? Auf jeden Fall sollte ich die Menschen um mich herum genau beobachten. Mir waren bisher Worte wichtig und auf Gesten und Blicke habe ich kaum geachtet. Mir scheint, ich muss mich intensiver mit Körpersprache und anderen versteckten Botschaften beschäftigen. Und das nicht nur in der Theorie, da weiß ich wohl schon einiges, aber bisher habe ich die Emotionen meiner Mitmenschen kaum beachtet. Ich glaube, das kleine Digit wird noch ganz heftig ins Schwitzen kommen. Mit einfachen Verzweigungen und Ja-Nein-Entscheidungen ist es nicht getan. Jede Interaktion mit anderen Digits führt zu einer Vielzahl von Alternativen. Und diese Möglichkeiten werden durch weitere Digits auch noch beeinflusst. Dabei sind wir hier doch nur fünf Personen, aber mit binärer Logik komme ich nicht weiter. Ich werde ein neuronales Netz entwickeln, um alle wechselseitigen Beeinflussungen darstellen zu können. Dieses Modell kann ich dann auf unsere Realität übertragen. Quatsch, mein Modell ist doch ein Abbild unseres wirklichen Lebens.‘
Als Robert seinen Zirkelschluss bemerkte, stöhnte er: „Ich bin ja so blöd.“
„Schön, dass du es bereits gemerkt hast“, schmunzelten Angela und Sarah, die ihm schon seit einiger Zeit beim Denken zusahen.
„Eines wird mir jedenfalls jetzt klar“, murmelte Robert: „Meine Familie zu bekommen, war eine einmalige Chance. Ich denke, ich habe wirklich gerade die letzte Ausfahrt genommen.‘