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In einer Flasche schlafen Lieder
„Das ist ein Ding. Das ist eine Flasche. Und darin schlafen herrliche Lieder. Wenn ich sie jetzt öffne, dann passiert nichts. Wenn ich jetzt aber das Zauberwort spreche… “ Sie machte eine kleine Pause, die sie mit einer galanten Bewegung ihrer Hand über den Flaschenhals füllte und fuhr dann fort: „Dann sprudeln hier die schönsten Lieder und die buntesten Farben heraus.“ Sie öffnete die Flasche und blickte lachend in die Runde. Ihre Lippen formten ein fast spöttisches Lächeln. War es wirklich Spott? Denn Emilia, die fasziniert ihren Bewegungen gefolgt war, schien es so, als lade diese Frau sie dazu ein, den Liedern zu lauschen. Ihre Stimme, ihre Art es zu präsentieren, sie… Sie hatte etwas in ihr angesprochen. Etwas hervorgerufen. Etwas wunderschönes.
Und sie ließ es zu. Emilia spürte die Lieder wie einen Hauch über ihren Arm streichen und fühlte prickelnde Ergriffenheit. Dieses berauschende Gefühl. Es zauberte ihr eine Gänsehaut auf den Körper, alles kribbelte und knisterte angenehm. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, zu pulsieren. Emilia war, als spränge es sogleich aus ihrer Brust heraus, vor Verlangen nach dem Wunderbaren. Aus dem Flaschenhals quollen alle möglichen Farben hervor. Pigmente, so fein wie Pulver. Wie farbiger Staub, der sich von einem sachten Lufthauch getragen überall verteilte und anhaftete. Es wurde Frühling im Raum. Die bunten Farben wurden zu Leben, zu herrlichen Blumen in den kräftigsten Farben. Sie umgab ein silberner Glitzerhauch. Dem Mädchen war, als huschten zwischen ihnen kleine Wesen umher, mit Flügeln so zart wie Schmetterlinge.
Die eisige Kälte drückte an den Fenstern, wollte herein, doch die Scheiben hielten sie ab. Die bunten Farben jedoch flogen durch die Scheiben hindurch und vermischten sich mit dem weißen Blau der Kälte. Während dieser Symbiose entflammte ein Leuchten. Dort wo sie aufeinandertrafen zerstoben die Pigmente. Aus den bunten umherfliegenden Melodien und der wabernden klirrenden Kälte wurde eine leuchtende Supernova. Zum Höhepunkt explodierte der helle Ball aufgestautem hellen Leuchtens. Ein grelles goldenes Strahlen erfüllte die Luft. Langsam schwächte es ab. Wie ein Film legte es sich über die Landschaft, färbte sie in warme glühende Gelb- und Orangetöne. Von diesen Farben strömte Wärme und Geborgenheit wie ein Pollenflug aus.
Vereinzelt drangen sie in den Raum zurück. Sie beschienen die Zauberin, die diese Kräfte erst hervorgerufen hatte. Die mit ihnen so selbstverständlich spielte. Der goldene Schein umhüllte sie, durchfuhr sie, ließ sie wundersam hell erstrahlen. Das Leuchten glitzerte auf ihrer Haut, legte sich in ihre Haare, umspielte ihre märchenhafte Silhouette. So ein liebliches Wesen. So wunder, wunderschön. Wie das Gold in ihren Haaren glänzte, wie der Schwung in jeder kleinsten Bewegung mitschwang, wie sie die Schönheit in Person war. Wie ihre Augen strahlten, heraus aus ihrem lieblichen Gesicht. Ach, sie. Die Schönheit. Die Magierin. Die zauberhaft Elfengleiche.
„Und? Fühlt ihr es? Schmeckt ihr es? Seht ihr es?“, fragte sie listig fordernd. Ihre Stimme flog wie auf sanften Schwingen durch den Raum, schmiegte sich wie eine weiche Decke an Emilias Ohr. „Ja doch! Ja!“, schrie es in ihren Gedanken. „Ja! Es ist so wunderschön!“ Und noch während sie verzweifelt nach Mehr schrie, sich nach immer mehr sehnte, nach mehr verlangte, da wurde der Zauber immer mehr und mehr und ihr Sehnen immer größer.
Doch dann fuhr sie fort. Sie, die ihr diese wundersame Welt erst gezeigt hatte, ihr gelehrt hatte, sie zu finden: „Das ist totaler Blödsinn, oder!“ Sie stellte sich dort vorne hin und sagte es gerade so, als könnte es keine andere Wahrheit geben. Als sei nur ihre Ansicht natürlich und alles andere unnormal. Und sie lachte vergnügt. Ein so herrlich schönes einzigartiges Lachen. Wie kann etwas nur so schön sein und so verletzen? Emilia schrie im Geiste: „Nein! Nein, nein, nein! Wie kann sie so etwas sagen? Nein, nein, nein! Sie hat es mir doch gezeigt! Mich hierher geführt… Warum quält sie mich so? Sie…“ Ihr war zum Heulen zu Mute. Erst schwebte sie davon in unentdeckte Sphären und dann riss die Person, die sie geführt, ihr emporgeholfen hatte, in ihr diese Sehnsucht hervorgerufen hatte, sie einfach achtlos aus ihrem Paradies heraus. „Ach hätte sie es doch selbst sehen können…“, dachte Emilia. „Ich würde es mir für sie wünschen. Vielleicht ist das alles ja blödsinnig, aber ich habe es doch gefühlt. Ich habe es doch empfunden. Ich habe es doch gesehen. Wohlgleich ich weiß, dass kein anderer es sehen konnte. Nur weil man etwas nicht sehen kann, heißt das doch noch lange nicht, dass es nicht passiert ist.“ Sie schwieg nach außen hin. Sie kämpfte um klare Gedanken, um Ordnung in ihrer Welt. Aber immer wenn sie dachte, diese Ordnung gefunden zu haben, da fiel ihr Blick auf irgendein Ding und die Zauber überfluteten ihre Wahrnehmung, sprangen zwischen der einen und der anderen Realität hin und her und zerstörten ihr ganzes Konstrukt. Wo gehörte sie hin? Welcher Weg war der richtige? Wie das richtige Maß zwischen traumhaft schön und einfach nur schön und praktisch finden?