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In einem Herbst in Gibraltar
Mit manchen Menschen verbindet man etwas für sie Typisches und im Falle von Jonny war es ganz bestimmt sein Feuerzeug. Der kleine silberne Flammenwerfer machte erst ein Klacken beim Öffnen, dann hörte man ein Zischen, sobald die Flamme anging und dann konnte man, wenn es leise genug war, ein Säuseln hören, solange die Flamme brannte.
An jenem Herbstnachmittag saß ich mit einem Glas Wasser in der einen Hand auf dem Balkon eines Hotels und blickte auf das Meer. Es war diesig und trüb und der Blick reichte nicht weit. Einige Schiffe lagen in der Bucht so als hätten sie sich verirrt. In der anderen Hand hielt ich Jonnys Feuerzeug, spielte damit, aber bekam es nicht an. Mit meinem schmerzenden Kopf dachte ich an Jonnys Lebensweise und überhaupt daran, wie planlos er das Leben anging.
Dann hörte ich die Balkontür, Jonny kam heraus, nahm mir das Feuerzeug ab und ich hörte wieder diese typischen Geräusche.
„Hey Kumpel“, sagte Jonny mit verschlafener Stimme und zog an seiner Zigarette.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“
„Nach dem ganzen Alk von gestern Abend klar.“
„Was machen die Kollegen?“, fragte ich ihn. Damit meinte ich unsere beiden Freunde Michael und Ralf. Ursprünglich war die Idee, wegzufahren, von Jonny und mir, aber als wir den beiden davon erzählten, wollten sie mit.
„Pennen noch. Is´ ja auch quasi noch mitten inner Nacht“, kicherte Jonny. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben mir, rauchte und blickte aufs Meer. „Also bisher flasht mich das hier. Finde, wir haben´s ganz gut erwischt“, meinte er und lehnte sich über das Balkongitter und sah sich die herbstliche Landschaft von Gibraltar an.
Ich hatte die Anspielung verstanden. „Ja das haben wir. Und zwar ganz ohne Plan, wir sind einfach drauflosgefahren und durch einen großen Zufall und mit viel Glück haben wir dieses hervorragende Hotel gefunden.“
„Kein Zufall, Kumpel, Schicksal.“
Das blinde Vertrauen auf das eigene Schicksal war Jonnys zweite typische Eigenschaft.
„Du und dein Schicksal. Ich glaube lieber an meine Pläne!“
Jonny lachte. „Genau, deine mega Pläne. Glaubst doch nicht im Ernst, dass du hier voll den Durchblick hast und Pläne machen kannst.“
„Doch, meistens funktioniert es auch ganz gut. Andere hingegen denken gar nicht an morgen und lassen sich einfach treiben.“
„Ja klar, Mann. Die Möglichkeiten ploppen doch im Minutentakt auf. Musst einfach nur drauf vertrauen und von der einen zur nächsten springen. Solche Typen haben auch mehr Spaß im Leben.“
Nach drei Jahren Studium kannten wir diese Diskussion schon viel zu gut. Jonny rauchte und ich trank mein Wasser. Wir guckten weiter über die Dächer von Gibraltar und die Bucht.
Dann stand Jonny auf und beugte sich über den Balkon: „Wollte nur mal nach unser´m kleinen Bruder gucken. Aber der chillt da noch auf´m Parkplatz!“
Vor einem halben Jahr hatten wir vier einen Deal geschlossen: alle gehen jobben und sobald wir unsere Abschlüsse haben, kaufen wir ein Auto und fahren einfach drauflos. Bis ans Ende der Welt. Das Auto wurde ein in die Jahre gekommener Opel Kadett – den Jonny unseren kleinen Bruder nannte – und aus dem Ende der Welt wurde Gibraltar. Ein halbes Jahr war das jetzt her.
„Das ist ein seltsames Gefühl, oder? Dass wir jetzt einfach fertig sind und arbeiten gehen sollen“, meinte ich.
„Na komm, bei dir sieht´s doch ganz gut aus. Hast nen echt guten Abschluss, Arbeitsvertrag ist tiptop und übernächste Woche wird schon gestartet. Jetzt müssen wir nur noch pünktlich zurück sein, sonst geht der Plan den Bach runter.“
„Ja schon, aber je näher der Tag rückt, desto mehr bezweifle ich, ob es richtig ist. Irgendwie ist es doch komisch. Da hat man die ganze Zeit zusammen verbracht und dann soll es plötzlich vorbei sein.“
„Wenn ich so´n Gefühl hätte, würd´ ich einfach den Laden in den Wind schreiben und das machen, was mir der Moment als erstes eingibt. Aber wir hab´n ja schon öfter festgestellt, dass wir da unterschiedlich ticken“, sagte Jonny und drückte seine Zigarette aus.
„Nein, den Job kann ich nicht mehr aufgeben. Warum auch, eigentlich ist es doch richtig. Es fühlt sich einfach nur ungewohnt an.“
„Mach dir keine Sorgen, Kumpel, ist sicher nur weil´s jetzt anders weiter geht.“
„Ja, vielleicht hast du recht.“ In diesem Moment hörten wir Geräusche im Hotel und ein Blick durch die Glastür verriet uns, dass unsere Kollegen aufgestanden waren.
Am frühen Nachmittag waren die Herren dann fit für nen Ritt. Mit dem Bus ging es bis zur Main Street. Dort stiegen wir aus und wären beinahe von schnalzenden kleinen Äffchen überrannt worden. Jetzt wohin? Zum Glück hatte Ralf einen Reiseführer zum Frühstück gehabt.
Unsere Sightseeing-Tour führte uns durch die Main Street, vorbei an der Dreifaltigkeitskirche und der Kathedrale Mariä Krönung. Immer weiter ging die Tour bis wir schließlich auf dem großen Platz der Kasematten waren. Hier tobte das Leben. Hunderte Touristen tummelten sich hier, ein paar Einheimische boten glitzernde Souvenirs an und all das zusammen drängelte sich auf diesem Platz, der kleiner als der Hamburger Busbahnhof war.
Als ich mich so umblickte, entdeckte ich plötzlich zwei Frauen an einem Stand. Sie guckten sich bunte Tücher an und redeten mit dem Verkäufer. Instinktiv ging ich auf sie zu und sprach sie an.
„Ja die sind wirklich sehr schön!“, sagte ich und die beiden guckten mich an. Die Frau, die mir direkt gegenüberstand hatte lange schwarze Haare, einen rotgeschminkten Mund und eine Sonnenbrille vor bestimmt sehr hübschen Augen.
„Sorry? [Wie bitte?]“, sagte sie. Huch, wir sind nicht auf dem Hamburger Busbahnhof. Also versuchte ich es mal auf Englisch. Zu irgendetwas musste der quälende Schulunterricht ja gut gewesen sein.
„Ich meine, diese Schals sehen wirklich hübsch aus!“
“Du musst wissen, weil du trägst oft selbst, oder?”, gab sie mir in einem gebrochenem, aber dafür mit einem wunderschönen spanischen Akzent versehenem Englisch zurück. Ihre Lippen grinsten mich an.
“Genau, woher weißt du das? Du solltest diese hier kaufen, denn die Farben passen zu deinen Augen.”
“Du weißt nicht meine Augenfarbe!”
“Nein, würde ich aber gerne!”
In diesem Moment rief ihre Freundin, die inzwischen ein paar Stände weitergegangen war. Meine hübsche Spanierin drehte sich zu ihr. Auch meine Kumpels riefen nach mir. Sie deutete mit einer Geste zu ihrer Freundin und ein schmerzhaftes „See you [Bis bald]“ floss über ihre roten Lippen. Dann drehte sie sich um und verschwand wieder im Getümmel. Meine Freunde kamen zu mir.
„Ja ja, die hübschen Seiten von Gibraltar!“, stichelte Jonny.
„Mist, warum hat diese blöde Freundin sie gerufen?“
„Na nun nich gleich die Segel streichen, heut´ Abend gehen wir feiern, da lernst du bestimmt auch nedde Leude kennen“, meinte Michael.
„Könnten sich die Herren dann mal zum Weitergehen entschließen?“, drängte Ralf.
„Also gut, jetzt noch einen Blick auf das Moorish Castle und dann geht es erstmal wieder zurück. Wir wollen uns ja nicht gleich am ersten Tag völlig übernehmen“, meinte ich.
Am Abend waren wir wirklich in einem Club. Ich erwischte mich mehrmals dabei, wie ich nach ihr Ausschau hielt, aber sie war nicht da. Überhaupt kam ich an diesem Abend nicht recht in Fahrt. Immer wieder fragte ich mich, wie mein Leben sich in den nächsten Monaten ändern würde und warum ich diesen Arbeitsvertrag überhaupt unterschrieben hatte. Aber es blieb dabei: es war richtig es zu machen, auch wenn es sich seltsam anfühlte.
Für den nächsten Tag war das große Highlight geplant: die Fahrt zum Europe Point, zum Ende von Europa. Draußen war es noch angenehm warm. Wir setzten uns in den kleinen Bruder, Ralf fuhr. Gerade als wir ein Stück gefahren waren, sagte Jonny: „Hey Leute, guckt mal da draußen der Felsen. Als wenn man den einfach mit nem Riesenmesser so abgesägt hätte. Krasse Sache.“
Lustlos sah auch ich nach draußen zum Felsen, bemerkte ein paar Touristen und eine davon war sie!
„Da war sie!“, rief ich. „Wir müssen anhalten!“
„Da war wer?“, fragten sie.
„Die Frau vom Kasematten Platz“, sagte ich.
„Ach das ist bestimmt nur eine Einbildung, weil sich deine Gedanken noch immer mit ihr beschäftigen“, schlaumeierte Ralf und fuhr einfach weiter. Durch das Rückfenster sah ich ihr hinterher.
„Sieht so aus, als hädde unser Tobi noch mehr Sehenswürdigkeiten in Gibraltar geordet“, kicherte Michael.
„Und sie trug den Schal, über den wir gesprochen hatten. Dass sie genau jetzt hier war! So ein Zufall!“, sagte ich und Jonny sah mich verächtlich an.
Dann kamen wir am Europe Point an. Ein großer Parkplatz empfing uns, dahinter eine Moschee, geradeaus weiter ein Leuchtturm. Es wehte ein starker Wind, der eine nach Salz schmeckende Luft über das Land jagte. Jedes Wort wurde sofort weggetragen, sodass man laut sprechen musste. Jonny kämpfte sich gegen den Wind zu mir: „Hey Mann, denk´ nicht an sie! Jetzt sind wir hier, der große Moment, also entspann dich! Wenn das Schicksal will, lässt es euch noch mal aufeinander los.“
Wir liefen weiter Richtung Landesende. Ralf schien etwas über die Moschee und den Leuchtturm zu erzählen, aber durch den Wind kamen bei mir nur ein paar Wortfetzen an.
Viele Menschen trieben sich hier herum, hielten ihre Hüte und Sachen fest und machten Bilder von sich. Die Spitze des kargen Berges wurde von einer Wolke berührt.
„Achtung, gleich isses soweit!“, rief Jonny in den Wind, als wir der besagten Stelle immer näher kamen. Dann standen wir an genau dem Punkt, an dem das Land nicht mehr weiter ging. Unter uns brandete das Meer an das felsige Festland. Der Wind wehte uns stark ins Gesicht.
Jonny holte seine Zigaretten, versank in seiner Jacke, brauchte einige Versuche, von denen ich nicht ein einziges Mal das Geräusch seines Feuerzeuges hörte, dann aber schien die Zigarette zu brennen.
„Woohooo“, rief Jonny in den Wind und streckte dabei seine Arme aus. „Endlich! Wir sind hier! Wir sind frei! Wir werden es niemals vergessen!“
Frei sein. Hier und jetzt und in zwei Wochen nicht mehr. Erst jetzt wurde mir bewusst, was für eine gute Zeit wir zusammen gehabt hatten. Wir stellten uns in den Wind, riefen vor Freude, lachten und machten Fotos. Wir waren einfach ein gutes Team.
Ich schaute aufs Meer. Ein paar Schiffe waren zu sehen, die alle einem unbekannten Ziel entgegenfuhren und wenn man sich sehr anstrengte konnte man das andere Festland erkennen. Marokko, wie mir Ralf erklärte. Noch eine ganze Weile waren wir am Europe Point, erst am Abend fuhren wir zurück ins Hotel. Wir machten Siesta, saßen auf dem Balkon, tranken Cocktails und Jonny, na ja, ihr wisst schon was der machte.
So vergingen die Tage. Wir hatten viel Spaß und eine gute Zeit. Aber die Frau vom Kasematten Platz traf ich nicht wieder. Bald rückte der Tag der Abreise immer näher und wir beschlossen, dass wir diesen nicht kommen lassen konnten, ohne davor noch einmal richtig zu feiern.
„Hab´n wir denn bisher was falsch gemacht?“, fragte Jonny scherzend.
Der Abend begann im Biergarten der Piccadilly Garden Bar mit einem deftigen Essen. Danach wurde es etwas gemütlicher bei der einen oder anderen Runde Bier. Aus Gewohnheit verließen wir den Pub als die Sonne untergegangen war und wechselten in den Rock on the Rock Club. Es war wieder einmal laut, viel Gedrängel, aber gute Musik. Teilweise merkwürdige Gestalten liefen umher oder zappelten zu der Musik. Noch einmal richtig abtauchen, danach soll uns doch der Alltag einholen.
Ich unterhielt mich gerade mit Michael, als meine Aufmerksamkeit vollkommen abgelenkt wurde. Da war sie! Ganz sicher!
„Tut mir Leid, Michael, ich muss dich mal kurz hier stehen lassen, wir reden morgen weiter“, sagte ich zu ihm und verschwand. Ich drängte mich durch das Gewühl der Menschen. Im Café war sie nicht mehr, im Eingangsbereich auch nicht und auch nicht im Hauptsaal. Ich war kurz draußen, keine Spur. Aber dann, als ich wieder ins Café kam, sah ich sie mit ihrer Freundin an einem Tisch stehen. Das lange schwarze Haar lag auf ihren Schultern, ihr Gesicht hatte einen freudigen und neugierigen Ausdruck.
Als ich auf sie zuging, erkannte sie mich wieder und ihre roten Lippen lächelten mich an.
„Hallo! Warum du hast keinen Schal dabei?“, scherzte sie und sofort war ich wieder von ihrem feurigen Akzent, der in ihrem groben Englisch lag begeistert.
„Hallo! Mir war es heute Abend zu warm. Aber das nächste Mal wieder! Darf ich euch beide zu einem kühlen Getränk einladen?“, fragte ich die beiden, aber ihre Freundin meinte, sie wolle nach einem Freund suchen und verschwand im Gewühl.
„Ich heiße Tobias“, sagte ich als ich die Getränke vor uns stellte, „und freue mich riesig, dass ich dich heute Abend hier treffe. Was für ein Zufall!“ Wir prosteten uns zu.
„Auch mich freut! Was du machst in Gibraltar?“, sagte sie mit einem Lächeln und fing an, mit ihrer Hand in ihren Haaren zu spielen.
„Ich bin im Urlaub. Meine Freunde und ich kommen aus Hamburg und haben gerade unsere Abschlüsse gemacht und bevor wir ins Arbeitsleben starten, wollten wir nochmal zusammen wegfahren.“
Plötzlich nahm sie ihre Hand wieder aus ihren Haaren und ich bemerkte, wie das Lächeln einem ernsten Blick wich. Sie legte ihren Kopf zur Seite und fragte verlegen:
„Also du arbeitest bald und musst wieder weg?“
Ich senkte meinen Blick. Da war es wieder, dieses Problem. Die Freude über unser plötzliches Wiedersehen hatte es tatsächlich für einen Moment verdrängt. Stattdessen jetzt dieses schlechte Gefühl. Ich fragte mich, was ich hier eigentlich tat, denn schon morgen würde ich nicht mehr hier sein und wir uns nie wieder sehen.
„Ja. Schon morgen fahre ich zurück, denn in fast zwei Wochen geht es los. Das fühlt sich wirklich seltsam an.“
Ich wollte das Thema möglichst schnell wechseln.
„Und was machst du hier?“
Ihr Lächeln kam vorsichtig zurück und mich erreichte der süßliche Pfirsichduft ihres Parfüms.
„Ich bin hier mit Freundinnen. Wir kommen aus Marabella und machen hier ein paar Tage Urlaub.“
„Ich habe dich gesehen. Vorgestern sind wir zum Europe Point gefahren und da standst du an der Straße kurz hinter dem botanischen Garten.“
Jetzt strahlte sie wieder richtig und setzte das Spiel mit ihren Haaren fort.
„Ja ist möglich! Den haben wir uns vorgestern angesehen.“
„Da hattest du den Schal an, über den wir gesprochen hatten!“
„Ja stimmt, ich habe mir ihn gekauft! Hat euch gefallen am Ende von Europa?“
Im Schein der Diskolichter bewegten sich ihre roten Lippen verführerisch und das Spiel mit ihren Haaren machte sie noch interessanter.
„Ja schon. Es war eine tolle Aussicht! Aber ein heftiger Wind.“
„Und warum ihr wolltet nach Gibraltar?“
„Wir wollten bis ans Ende der Welt! Aber leider war das dann doch etwas zu weit und so sind wir nach Gibraltar gekommen, was ja immerhin ein Ende von Europa ist. Was habt ihr noch so gemacht?“
„Wir sind mit Seilbahn gefahren. Ich hatte Angst ein bisschen, aber hat uns gut ausgehalten! Und von da oben hatten wir auch eine tolle Aussicht.“
Uns zu unterhalten fiel uns leicht. Da gab es etwas, das uns miteinander verband, vielleicht war es der Zufall dieses Treffens. Ich bemerkte, wie der süße Pfirsichduft meine Sinne benebelte und mir der Abend allmählich aus meiner Kontrolle entglitt.
„Gefällt es dir hier in Gibraltar?“
„Ja gefällt mir gut. Ich mag den Blick auf das Meer und das Rauschen der Wellen. Gefällt dir auch?“
„Ja sehr. Ich mag vor allem den Blick in deine Augen.“
„Jetzt du kennst die Farbe! Und gefällt dir?“
„Wunderschön!“
Sie hatte ein so lebendiges und sorgenloses Wesen und ihr Lächeln und ihre Blicke zogen mich mehr und mehr in ihren Bann und vertrieben meine Zweifel. Sie schaute mal lächelnd und verlegen auf ihr Glas, dann wieder fragend und fordernd in meine Augen. Ich versank in ihren Blicken.
„Wir wollen tanzen?“, fragte sie dann plötzlich und ich zögerte nicht.
Irgendwann in der Nacht drängte sich Ralf zu uns durch.
„Wir haben ein Problem! Der gute Herr Jonny hat draußen Platz genommen und verpokert ganz gepflegt unseren Wagen!“ Das war alles, was ich bei dem Lärm der Musik von seiner Stimme verstehen konnte. Ich sah ihn ungläubig an doch er zog weiter an mir. Ich sah zu Olivia und wollte es ihr erklären, aber Ralf ließ mir keine Zeit.
„Entschuldige, ich muss einem meiner Freunde helfen, aber ich komme gleich zurück!“, sagte ich ihr, dann folgte ich Ralf und hatte in diesem Moment das starke Gefühl, dass der Abend endgültig außer Kontrolle geriet.
Draußen stand eine Ansammlung von Menschen herum und schrie und lachte. In der Mitte saßen Jonny und ein anderer Typ und zwischen ihnen lagen ein Haufen mit Geld und unsere Autoschlüssel. Gerade als ich versuchte, Jonny wegzuzerren, schrien die Leute auf und der andere Typ nahm jubelnd das Geld und die Autoschlüssel. Dann verzog sich die Menge wieder in den Club.
„[Hicks] Wieso kam ´n da die [Hicks] fa´sche Karte?“, lallte Jonny völlig betrunken. Er hatte schon viele Dummheiten begangen, aber diese hier war wirklich eine neue Dimension.
„Wie soll´n wir denn jetzt in unsern Heimathafen zurückkommen, meen Jung?“, fragte ihn Michael ärgerlich. Aber Jonny bekam nichts mehr mit.
Wir machten uns auf zurück ins Hotel. Erst als ich im Bett lag und mich nicht mehr über Jonny ärgerte, fiel mir ein, dass ich Olivia einfach so hatte stehen lassen. Mist! Auch das noch! Der Abend war wirklich gründlich danebengegangen.
Der nächste Morgen war eine Mischung aus Wachwerden, Ausnüchtern und Packen. Jonny fand seine Aktion gar nicht weiter schlimm. „Wer weiß, wofür´s gut war“, sagte er nur dazu. Typisch Jonny! Als wir vor dem Hotel standen, überlegten wir, was wir mit dem kleinen Bruder machen könnten. Knacken? Keiner würde uns glauben, dass er uns gehört und wie sollten wir ihn dann starten. Also ließen wir ihn zurück. Ob er jemals abgeholt wurde?
Einen Bahnhof hat Gibraltar nicht und vom Flughafen gingen nur Flüge nach London. Also fuhren wir nach San Roque, wo manchmal Züge halten. Natürlich mit dem Taxi, denn etwas Stil musste sein.
Noch immer ging mir Olivias Blick durch den Kopf. Noch einmal wollte ich mit ihr über den Kasematten Platz gehen, noch einmal in den Rock on the Rock Club. Wenigstens wollte ich ihr erklären, warum ich einfach gegangen war. Aber aus alldem würde nichts werden und nicht nur das ärgerte mich, sondern auch die Sache mit dem Auto oder vielleicht eher, dass Jonny es gar nicht zu stören schien. Und bald würde ich in mein langweiliges Berufsleben starten. Meine Situation war nicht gerade ein Traum.
Von San Roque ging ein Zug. Zunächst nach Madrid und dann weiter nach Frankreich und irgendwie nach Deutschland. Die Verbindung, die uns der Typ am Schalter heraussuchte, dauerte sagenhafte 33 Stunden und 48 Minuten und würde 96,30 Gibraltar-Pfund pro Person kosten. Ein Glück, dass der Spanier in seinem Glaskasten überhaupt Gibraltar-Geld annahm.
Also ran an die Tickets. Viermal 96,30, das sind knapp 400 im Kopf und 385,20 mit dem Taschenrechner. Die Urlaubskasse bot noch genau 324 Gibraltar-Pfund und 21 Pence. Die nächste Sache, die mir nicht passte.
„Verfügt einer der Herren noch über Guthaben auf dem Privatkonto?“, fragte Ralf. „In diesem Fall dürfte sich die Heimfahrt schwierig gestalten. Man könnte sagen: wir sitzen fest!“
„Ach nix da, wird sich schon noch was ergeben. Notfalls fahr´n wir erstmal nur bis nach Madrid oder so“, meinte Jonny.
„Dat bringt uns ja gar nichts oder meinst du, datt die Bahnfahrten da plötzlich günstiger sind?“, sagte Michael.
„Hey Moment mal, Freundchen, ich kann nix dafür, dass die blöden Lappen so teuer sind!“, verteidigte sich Jonny.
„Nein, aber du hattest einen starken Einfluss darauf, dass wir überhaupt Fahrscheine benötigen“, meinte Ralf.
Während meine Kollegen so miteinander redeten, befiel mich ein seltsames Gefühl. Als würde der Moment persönlich mit mir reden wollen. Die Hitze? Nein, nein, das war etwas anderes. Dass ich Olivia dreimal getroffen hatte. Dass Jonny unser Auto verspielt hatte. Dass ich mich nicht von Olivia verabschiedet hatte und dass ich bald eine Stelle antreten würde, die ich doch gar nicht wollte. War das alles noch Zufall? Im nächsten Moment schossen mir Jonnys Worte durch den Kopf: Man muss einfach seinem Schicksal vertrauen, dass es etwas Gutes mit einem vorhat. Wie Puzzleteile setzten sich in diesem Moment die Ereignisse aus den letzten Tagen in meinem Kopf zusammen. Jetzt, da das Geld nur für drei Tickets reichte, passte plötzlich alles wieder zusammen. Chancen im Minutentakt. Diese hier durfte ich nicht verstreichen lassen.
„Ohne meine Wenigkeit wärt ihr doch gar nicht in den Urlaub gekommen! In wessen Hirn ist denn der Geistesblitz dazu eingeschlagen, hä?“, fragte Jonny.
„Okay Jungs, alles gut. Ich bleibe einfach hier!“, sagte ich und überraschte mich selbst ein bisschen.
„Wat? Du willst hier bleiben? Dat kommt gar nich in die Tüde! Eher schippern wir alle mit nem Kudder zurück.“, sagte Michael.
„Nein, ich bleibe hier. Naja, wie soll ich sagen: ich habe hier noch etwas zu erledigen!“ Ein Raunen ging durch die Menge.
„Multipliziert man den Fahrpreis nur mit drei, so wäre das Produkt geringer als unsere Ersparnisse“, sagte Ralf vorsichtig.
„Ja los, fahrt ohne mich. Ich kann hier noch nicht weg!“, sagte ich und war von der Idee wie besessen.
„Na dann ahoi, machen wir es so“, meinte Michael irgendwann. Also nur drei Tickets.
„Hey Kumpel, ich hab dich durchschaut! Dann hast du ja nach drei Jahren doch noch was von mir gelernt!“, flüsterte mir Jonny zu und klopfte mir auf die Schultern bevor er als letzter von den dreien in den Waggon einstieg.
Ich sah ihnen hinterher und als der Zug aus dem Bahnhof herausgefahren war, verließ ich das Gebäude und fuhr zurück nach Gibraltar.
Im Bus wunderte ich mich über mein Verhalten. Irgendwie fühlte es sich ungewohnt an, aber auch richtig. Und es war aufregend. So musste es sein, wenn Jonny sagte, dass das Schicksal ihm einen Wink gegeben hatte. Warum hatte ich es bisher nicht gespürt. Als ich in Gibraltar ankam, ging ich sofort zu ihrem Hotel.
„Hallo Olivia, ich freue mich so, dass ich dich wieder treffe“, sagte ich.
„Plötzlich du warst weg, plötzlich du bist wieder da. Das machen alle so in Hamburg?“, fragte sie mit ernster Miene.
„Nein, das mache nur ich so. Aber ich kann dir auch erklären, woran es lag. Hast du vielleicht Lust auf ein kleines Getränk?“, fragte ich sie und im nächsten Moment saßen wir in einem der Cafés auf dem Kasematten Platz.
Dort erzählte ich ihr von Jonnys glorreicher Leistung, davon, dass ich kopflos einfach zurück ins Hotel gegangen war und davon, dass das Geld am Bahnhof nur noch für drei Tickets ausreichte und ich plötzlich gespürt hatte, dass ich zurück zu ihr kommen muss.
„Also du bleibst noch ein paar Tage hier?“, fragte sie mich mit einem Lächeln im Gesicht.
„Um ehrlich zu sein, wollte ich eigentlich gar nicht mehr weg.“