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In Deutschland gibt es keinen Krieg

Joh

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28.07.2003
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In Deutschland gibt es keinen Krieg

In Deutschland gibt es keinen Krieg

I.
Der Junge lehnt sich gegen die Hauswand und blickt den vorbei treibenden Wolken nach. „Bumm, bumm“, flüstert er und hält sich die Ohren zu.
Aber vom Himmel fallen keine Bomben.

II.
„In Deutschland gibt es keinen Krieg“, hatte ihm die Mutter vor der Ausreise erzählt, doch er glaubt ihr nicht mehr.
Warum ist er jeden Tag so traurig, wenn hier Frieden sein soll?

III.
Wenn der Junge am Horizont ein Flugzeug entdeckt, läuft er in den Keller. Hier in der Fremde erzittert der Boden nicht mehr unter seinen Füßen. Trotzdem wartet er immer einige Minuten, bevor er wieder ins Freie geht.

IV.
Der Junge schaut den auf der Wiese spielenden Kindern zu. An einige seiner eigenen Spiele kann er sich erinnern, aber nicht mehr an die Gesichter seiner Freunde.

V.
Auf der Straße halten ihn zwei junge Männer fest. Einer drückt seinen Zeigefinger gegen die Schläfe des Jungen und ruft: „Peng!“ Sie lachen, als er schreiend davon läuft.

VI.
Manchmal träumt der Junge von grasenden Schafen und Wiesen mit wildem Klatschmohn. Am Ende seines Traumes erscheint immer wieder der gleiche Soldat mit gezückter Waffe. Dann wacht er weinend auf.

VII.
Einmal sieht der Junge ein Mädchen, das allein mit ihrem Ball im Hof spielt. Der Junge geht zu ihr und sagt: „Ich möchte mit dir spielen!“
Das Mädchen zuckt nur mit den Schultern.

VIII.
„In Deutschland gibt es keinen Krieg“, hatte ihm die Mutter vor der Ausreise erzählt, doch er glaubt ihr nicht mehr.
Warum muss er jeden Tag Angst haben, wenn hier Frieden sein soll?

IX.
In der Nacht spiegeln sich rote Flammen auf dem Fensterglas. Als der Junge aus dem Fenster schaut, sieht er das brennende Haus auf der anderen Straßenseite.
Die Mutter hat die Wohnungstür abgeschlossen, so kann er nicht in den Keller laufen.

X.
Vor dem brennenden Haus stehen johlende und kreischende Menschen. Ihre Sprache ist ihm so unverständlich wie das Gebrüll der fremden Soldaten in seiner Heimat.

XI.
Die Mutter sagt: „Du darfst nicht mehr allein auf die Straße gehen. Es ist zu gefährlich.“ Der Junge spielt den ganzen Tag in der Wohnung und fürchtet, Männer in Uniform könnten ihn holen.

XII.
„In Deutschland gibt es keinen Krieg“, hatte ihm die Mutter vor der Ausreise erzählt, doch er glaubt ihr nicht mehr.
Warum muss er sich verstecken, wenn hier Frieden sein soll?

XIII.
Der Junge lehnt sich gegen die Hauswand und blickt den vorbei treibenden Wolken nach. „Bumm, bumm“, schreit er und hält sich die Ohren zu...

 
Zuletzt bearbeitet:

Der Stil, die Geschichte in mehrere Abschnitte zu splitten, gefällt mir. Auch die Idee der Geschichte und die Art und Weise wie du den Inhalt präsentierst, kommt nett rüber.

Am besten haben mir folgende Stellen gefallen:

Der Junge lehnt sich gegen die Hauswand und blickt den vorbei treibenden Wolken nach. „Bumm, bumm“, flüstert er und hält sich die Ohren zu.
Aber vom Himmel fallen keine Bomben.

==> Hier zeichnest du eindeutig ein Bild, welches wirksam in den Leser einzieht. Als ich diese Passage gelesen habe, stellte ich mir tatsächlich einen kleinen Jungen vor, der gen Himmel blickt und mit seinen Blicken an schneeweißen Wolken hängen geblieben ist, aus seiner Prägung entschlüpfen ihm schließlich die Worte "Bumm Bumm".

Manchmal träumt der Junge von grasenden Schafen und Wiesen mit wildem Klatschmohn. Am Ende seines Traumes erscheint immer wieder der gleiche Soldat mit gezückter Waffe. Dann wacht er weinend auf.

==> Wieder ein toll gezeichnetes Situationsbild.

Der Junge schaut den auf der Wiese spielenden Kindern zu. An einige seiner eigenen Spiele kann er sich erinnern, aber nicht mehr an die Gesichter seiner Freunde.

==> Aussagekräftige Passage. Durch den Krieg verlor dein Protagonist anscheinend das Verlangen nach emotionaler Bindung.

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Ich finde übrigens, dass die mehrmalige Wiederholung deiner beiden Schlüsselsätze sehr wichtig ist, da man sich dadurch besser in die Geschichte hineinfühlen kann.

 

Hallo Joh,

kurze prägnante Sätze in die Empfindung eines Kindes hinein zeichnen deine Geschichte aus. Der Krieg in seinem Kopf ist nichtbeendet und wird es nie sein. Die Angst wird bleiben. Er hat seinen Krieg mitgenommen, begegnet mit diesem Krieg der Gewalt in Deutschland, projiziert die Soldaten in die molotowcocktailwerfenden Demonstranten, in die Schlägerbanden, die "Ausländerticken" gehen. Er kann nciht unterscheiden zwischen Hass des Pöbels und staatlich verordneter Gewalt. Woher die Angst kommt ist ja auch gleichgültig für den der sie ausstehen muss. Sie ist berechtigt. Für ihn bleibt Krieg.

Eine traurige, nachdenkliche und vor allem gelungene Geschichte.

Lieben Gruß, sim

 

Gut gemacht! Die Gliederung in kurze Absätze macht die Geschichte gut vom Bildschirm lesbar und verleiht den Gedanken mehr Gewicht.

 

Ich kann mich eigentlich nur anschließen, die Geschichte ist gelungen. Die traurige Atmosphäre kommt sehr deutlich durch und man bekommt einen Einblick in die Nachwirkungen, die ein Krieg hinterlassen kann. Der Junge ist kaum noch fähig, in Frieden zu leben. Egal, was er sieht, er projiziert automatisch eine kriegerische, gewalttätige Sache hinein, sodass es am Ende wirklich zu einer solchen Situation kommt. Das soll jetzt nicht heißen, dass der Junge an den Demonstranten schuld ist, im Gegenteil, sie sind schuld an einer weiteren Psychose. Auch zeigt die Geschichte deutlich, dass, wenn man schon durch Gewalt seelische Schäden erlitten hat, man immer weiter sucht, man will und kann nicht mehr akzeptieren, dass es einem gut gehen kann. Auch die Erinnerung an die Zurückgebliebenen ist ein ständiger Begleiter.

Fazit: wie sim schon sagte: "Eine traurige, nachdenkliche und vor allem gelungene Geschichte."

Gruß
Arthuriel

 

Also, außer mich dem Lob meiner Vorgänger anzuschließen bleiben mir keine anderen Optionen.
Eine ausgezeichnete story, berührend und sehr ausdrucksstark.
Gruß + Grüße Ppy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Joh,

neben all dem, was hier schon an Reaktionen kam, möchte ich für mich hervor heben, dass die einzelnen Ereignisse die Erinnerung an den Krieg nicht verblassen, sondern im Gegenteil sich verfestigen lassen!

Zunächst die ursprüngliche Erinnerung – 'aber vom Himmel fallen keine Bomben'; die Worte der Mutter noch im Ohr, DENNOCH II:

Warum ist er jeden Tag so traurig, wenn hier Frieden sein soll?

Dann Flugzeug, aber der Boden zittert nicht mehr, die Spiele der Kindheit ohne die Gesichter der Freunde, zwei Männer halten ihn fest und machen „Peng“ ... nun läuft er schreiend davon!
Am Ende jeden Traumes der Soldat mit der Waffe, dann das Mädchen im Hof mit dem gleichgültigen Schulterzucken, und ALSO VIII:
Warum muss er jeden Tag Angst haben, wenn hier Frieden sein soll?

Nun die Brandstiftung, der Mob. Die Gewalt und das Gebrüll erinnern an die fremden Soldaten in seiner Heimat. Als Folge das Verbot, allein auf die Straße zu gehen, die reale Gefährdung. Und es kommt NOTWENDIG XII:
Warum muss er sich verstecken, wenn hier Frieden sein soll?

Und tatsächlich ist auch in Deutschland schon lange Krieg. Allerdings spielt sich sein Verlauf in so subtiler Form ab, dass nur das Kind mit ganz wachen Sinnen für jegliche Gefahr das tatsächlich realisiert. Aber der Junge hat ja Recht! Und die Steigerungen, die du in die KG eingebaut hast, machen es sehr deutlich.

Es ist eine Geschichte, die mir sehr gut gefällt, weil sie mich bewegt und nicht nur nachdenklich macht.

Gruß Pied Piper

 

:eek2: Ups, so viele positive Reaktionen habe ich ja noch nie auf eine Geschichte bekommen - vielen Dank dafür.

sprachlos grüßend

Joh

 

Hi Joh!

Toll! Toll! Toll! Was soll man da noch sagen?

Liebe Grüße
buji

 

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