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In der Welt eines Grashalmes
Auf der Wiese war er ein Grashalm unter vielen. Namen besaß er keinen. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, einen Namen zu suchen, der zu ihm passte. Denn dieser Name wäre genauso geeignet gewesen für jeden anderen Halm. Hier ging es nicht so ungeregelt zu wie auf freiem Feld. Die Grashalme unterschieden sich nicht voneinander. Sie waren immer gleich lang, dafür sorgte der Rasenmäher. Sie waren ebenso gleich schlank und gleich grün, dafür sorgten sie selbst. Jeder unter ihnen fürchtete sich nämlich, dass er ausgerissen werden könnte – mit der Wurzel!
Es genügte schon, wenn ein Halm ein bisschen anders aussah. Dann erschien mit Sicherheit der leichtfüßige Riese, den Anna, die Amsel, auch das „Mädchen“ nannte. Das „Mädchen“ ragte für die Grashalme wie ein Baum in den Himmel. Zuerst warf das „Mädchen“ seinen Schatten über einen anders aussehenden Halm. Wenn das Licht wiederkehrte, fiel es auf eine kleine Wunde in der Erde.
Der eine Grashalm, von dem diese Geschichte handelt, hatte von diesen geheimnisvollen Entführungen gehört. Aus Angst davor war er sehr bemüht, sich an die Anderen anzugleichen.
Eines Tages jedoch geschah etwas Außergewöhnliches, das ihn um sein Leben fürchten ließ: An seiner Spitze hing plötzlich ein weißes Monster! Es musste ein Ungeheuer sein, denn es klammerte sich mit unzähligen kleinen Armen fest. Dem Grashalm graute aber nicht vor dem unförmigen Ding selbst. Er ängstigte sich, weil er als Einziger davon befallen war. Noch dazu bewegte sich dieses luftige Etwas hin und her. Vielleicht war das ein Winken, als ob es schriee: „Komm nur, oh du grausamer Schatten und hol dir diesen hilflosen Grashalm!“
Der Halm hätte gern gezittert, an ihm hing immerhin ein Diener der Dunkelheit. Aber aus eigener Kraft konnte er nicht zittern. Er war ja nur ein Grashalm. Ihm blieb nichts anderes übrig als in Gedanken mit seinem Wachstum abzuschließen. So legte sich ein Gefühl der Friedlichkeit über den Halm und verdrängte seine Furcht. Wie ein Tautropfen lief es beruhigend seinen Rücken entlang. Der Halm dachte an die unendlich weite Wiese im Jenseits – dort, wo Grashalme laufen konnten. Vielleicht träfe er all seine Freunde, die wieder ganz waren, nachdem die Katze ihnen so Grässliches angetan hatte. Vielleicht würde er aber...
„Lass mein Kind los!“
Was war das? Der Halm war wie vom Hagelkorn getroffen. Hatte die Sonne zu ihm gesprochen? Er wartete einen Moment und fragte dann beiläufig: „Ich habe gerade nicht aufgepasst. Wollte da jemand etwas von mir?“ Er konnte seine Worte ja nicht direkt an die Sonne richten. Was hätten seine Nachbarn da von ihm gedacht?
„Ich habe gesagt, dass du mein Kind loslassen sollst, du grüner Zwerg!“
Tatsächlich: Die Sonne, die direkt über dem Halm stand, sprach zu ihm.
Der Grashalm musste jetzt höflich sein – ein falsches Wort und sie könnte ihn austrocknen.
„Es tut mir sehr leid, verehrte Sonne. Aber Sie müssen verstehen, nicht ich halte ihr Kind fest. Ihr Kind hält sich an mir fest. Glauben Sie mir, ich wäre mehr als glücklich, wenn ihr Kind nicht so anhänglich wäre.“
„Die Sonne? Du glaubst wirklich, dass ich die Sonne bin.“ Kicherte sie etwa? „Also, na dann: Ich als deine Lebensspenderin befehle dir, mein Kind freizulassen! Ansonsten ... mache ich, dass wieder Winter wird!“
Die Drohung schien Wunder zu wirken: Der Grashalm vollführte einen Schlag wie eine Peitsche und das Sonnenkind flog davon. Es wirkte fast so, als hätte die Angst dem Grashalm unpflanzliche Kräfte verliehen. Dabei war es nur ein zufälliger Windstoß, der ihn so schnalzen ließ.
„Seid ihr zufrieden, meine ... Majestät?“
Die Stimme über ihm klang immer noch sehr belustigt.
„Oh, ihr Grashalme ... Ihr seid wahrhaftig nur schlaff stehende Soldaten, die nicht vom Fleck kommen. Um dich zu beruhigen: Nein, ich bin nicht die Sonne. Dafür sind meine Blüten genauso schön wie alle Strahlen von ihr. Ich bin Lea Löwenzahn. Und es hat nur einen einzigen Grund, warum ich mich überhaupt herablasse, mit einem wie dir zu sprechen: Du hast eines meiner Kinder daran gehindert, in die Welt hinauszufliegen. Was es dort alles sehen wird ... Aber, wozu erzähle ich gerade dir davon. Du kannst ja nicht einmal die Sonne und die wundervollste Blume dieser Wiese voneinander unterscheiden.“
Der Grashalm vergaß seine Höflichkeit, er hatte es ja nur mit einer anderen Pflanze zu tun.
„Ich weiß zwar nicht viel, aber genug, um zu überleben. Denn eines ist sicher: Wenn sich dein Balg nicht von mir verabschiedet hätte, wären die Schatten gekommen, um uns beide zu holen.“
„Na, sieh einer an. Was für ein Überlebenskünstler du bist. Hast wirklich viel Moos in den Adern, das muss ich dir lassen. Wenn du wolltest, könntest du alleine auf dem Stein da drüben wachsen. Leider fehlt dir dazu der Mut. Dann würde dich doch der ‚böse, böse’ Schatten holen. Ich will ja nicht dein bescheidenes Weltbild erschüttern, aber ihr Grashalme seid hier auf der Wiese die einzigen, die einen Besuch vom Schatten fürchten. Schau mich an: Ich wachse doch nur so prächtig, damit der Schatten zu mir kommt und mich holt. Obwohl ‚Pflücken’ der angenehmere Ausdruck ist.“
Bisher hatte der Grashalm kaum Grund gehabt, ärgerlich zu werden. Da waren nur die Ameisen, die ihn unerlaubt als Transportweg benutzten. Aber diese Blume – vor Wut hätte er wegen ihr aus der Erde fahren können.
„Woher hast du denn diesen Blödsinn?“
„Blödsinn? Also das kränkt mich doch sehr. Ich sollte diese Unterhaltung sofort beenden. Aber das schickt sich nicht. Wenn du es genau wissen willst: Eine ehrenwerte Biene hat es mir zugesummt. Sie hat auserwählte Blumen gesehen, die nicht an die Erde gebunden sind. Sie wachsen in der Luft in frischem Wasser. Es soll einige Blumen geben, die sich sogar zu Dutzenden an nur einer Stelle aufhalten. Nachdem ich gepflückt worden bin, kommt das für mich natürlich nicht in Frage. Ich alleine bin schön genug. Ach, es wird wie in meiner Kindheit sein – ich werde wieder schweben.“
Der Streit hatte die anderen Grashalme aufmerksam gemacht. Sie hofften aus tiefster Wurzel, dass Lea verlöre. Für gewöhnlich müssen immer die Grashalme nachgeben. Ihr Freund sollte der Natur endlich ein Schnippchen schlagen. Gebannt warteten die Halme auf seine Antwort.
„Etwas derartig Dummes habe ich nicht mehr gehört, seit der Geschichte mit dem Regenwurm ... Erinnerst du dich, als sich der Regenwurm in die Amsel verliebt hat? Danach hat er geschworen ihr bei der nächstbesten Gelegenheit einen Kuss auf den Schnabel zu geben. Hast du den liebeskranken Kerl seit damals wiedergesehen? Ich jedenfalls nicht! Genauso wird es dir ergehen. Der Schatten ‚pflückt’ dich samt Wurzel und das war’s. Kein frisches Wasser, gar nichts. Schweben, pah! Höchstens auf die Jenseitswiese! Obwohl: Du kommst bestimmt auf den ewigen Komposthaufen, weil du so dumm bist. Jeder weiß, dass Bienen geborene Lügner sind! Die denken nur an das Eine – an Süßes. Die erzählen dir alles, nur um von dir zu naschen!“
„Da sehe ich mal wieder, dass du keine Ahnung hast. Du weißt gar nichts über die Blumen und die Bienen, von ihrer innigen Beziehung ganz zu schweigen. Du verstehst nicht, was es bedeutet gepflückt zu werden. Egal, ob ich jetzt mein eigenes Wasser bekomme oder nicht. Auch, wenn alles wirklich nur eine Lüge ist. Ich will einfach nicht für immer hier vor mich hinvegetieren. Gepflückt werden ist eine Veränderung wie ... wie ein Frühlingsbeginn. Es befreit mich, wie damals, als ich meine Mutter verlassen habe. Zugleich werde ich zu etwas wirklich Besonderem. Aber das wirst du nie erfahren. Und wegen des Regenwurms: Seine Liebe zu dem Vogel hat er uns allen beim letzten Gewitter gestanden. Du hast ihn nicht gesehen, weil es seitdem nicht geregnet hat. Er windet sich wieder unten im Dreck. Einsam, ohne je beachtet zu werden, und zu blind, um das zu erkennen ... genau wie du!“
Der Grashalm war sprachlos. Nicht, weil Lea ihn noch zorniger gemacht hatte, sondern weil er fühlte, dass sie die Wahrheit sagte. Der Grashalm musste das einsehen und brachte gerade noch stotternd hervor: „Na, und?“
Lea wusste, dass sie den Streit gewonnen hatte. Sie sprach nun sanfter, als sollten ihre Worte, wie ihr Nachwuchs, in die Ferne schweben.
„Am Zaun wächst eine Brennnessel. Ich kann sie gerade noch sehen. Du meinst vielleicht, sie denkt wie du. Aber du irrst dich, wenn du glaubst, dass sie ihr Kleid trägt, um den Schatten abzuwehren. Gerade wegen ihrem beißenden Kleid kommt ein Schatten zu ihr. Ein anderer Schatten, ein gewaltigerer als der, welcher deine Leute holt. Die Brennnessel ist widerwärtig, keine Frage. Trotzdem lockt sie ihn an. Wie willst du das schaffen? Du bist nicht schön, du bist nicht hässlich. Was hast du schon Einzigartiges an dir?“
Ja, was unterschied den Halm tatsächlich von den anderen? Zum ersten Mal wollte er mehr als nur einer von vielen sein. Was nützte ihm sein Wachstum, wenn er doch nicht damit auffiel.
Tief versank er in seine Überlegungen. Er beachtete gar nicht die Karawane der Ameisen, die frech über ihn lief. Plötzlich plumpste einer Ameise ihr Gepäck, ein Kleeblatt, vom Rücken. Einer anderen entglitt die Ecke eines Würfelzuckers. Der Körper des Grashalmes erbebte. Die Ameisen fielen ihrer Last hinterher. Etwas Mächtiges näherte sich. Es musste der größere Schatten sein, von dem Lea gesprochen hatte. Der Halm hörte schon vom anderen Ende der Wiese die Schreie: „Nicht! Nicht auf uns steigen! Er zerdrückt uns!“ Die Ameisen unter dem Halm kullerten zwischen ihrer Fracht umher. Der Halm hätte wohl schadenfroh über sie gelacht, wenn es nicht immer dunkler um ihn geworden wäre. Würde der Schatten ihn jetzt pflücken? Der Halm vernahm noch die Rufe von Lea: „Nimm mich! Oh, oh! Nimm mich!“, bevor er einen stärker werdenden Druck auf sich spürte.
Kurz blieb er auf den Boden gepresst, doch dann kam wieder die übliche Leichtigkeit über ihn. Er fühlte sich ein wenig zerquetscht, während er sich langsam wieder aufrichtete. Sofort sah er die Veränderung: Lea war in die Luft gestiegen. Sie schwebte. Es stimmte also.
Der Halm hörte sogar, wie der Schatten zu ihr redete. Der Halm kannte die Sprache des Schattens nicht. Dennoch war sich der Halm sicher, dass er Lea von dem wundervollen Ort erzählte, zu dem er sie bringen würde.
„Es klingt zwar nicht nach einer ausführlichen Beschreibung, aber Sätze über schöne Dinge sind doch immer einfach und kurz“, dachte sich der Halm.
In diesem Moment entschloss er sich, alles Pflanzenmögliche zu tun, um wie Lea gepflückt zu werden. Er wollte eine Ausnahme unter den Halmen sein. Mit den Worten des Schattens machte er sich Mut, damit er breiter und länger werden würde als all die anderen. Er sprach sein neues Motto mit blinder Begeisterung vor sich hin. Der Halm konnte ja nicht verstehen, was der Schatten meinte, als er zu Lea Löwenzahn sagte: „Du verdammtes Unkraut!“ Der Halm wusste eben nicht, dass Sätze über böse Dinge genauso einfach und kurz sein konnten.
Ohne es zu beabsichtigen, hatte der Halm seinen Leitspruch eher unglücklich gewählt. Dementsprechend veränderte er sich kein bisschen. Es blieb ihm nichts Anderes übrig als ganz von vorne zu beginnen. Für einen Grashalm gab es da nur eine Möglichkeit – den Rasenmäher.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber der Halm sehnte den Tag herbei, an dem er die Hälfte seines Körpers verlieren würde. Als der Tag endlich kam, war es wie eine Wiederaussaat für ihn. Nun besaß er alle Möglichkeiten, die ihm das freie Wachstum eines Grashalms bot. Außerdem hatte ihn der Mut noch lange nicht verlassen.
Er war so tapfer und willensstark, dass er nach einiger Zeit als einziger Grashalm auf der Wiese einen Namen erhielt. Zuerst hieß er noch: „Der wahnwitzige Grashalm, der größer, grüner und länger als alle anderen wächst.“ Da aber immer öfter von ihm erzählt wurde und dieser Name dafür ein wenig zu umständlich war, nannten sie ihn bald nur noch: Gerhard, der Grashalm.
Gerhard wurde immer bekannter auf der Wiese. Es dauerte nicht lange, bis auch der kleinere Schatten ihn bemerkte. Als Gerhard die Schreie hörte, die das Kommen des „Mädchens“ ankündigten, befiel ihn die Angst aufs Neue. Er zweifelte an seinem Vorhaben. Wenn der Wind ihn jetzt noch schnell umböge, wäre er womöglich nicht mehr zu sehen. Es hätte so gemütlich bleiben können: tagein, tagaus an derselben Stelle stehen, immer im Schutz der Menge. Wollte er das tatsächlich aufgeben, nur um besonders zu sein?
Doch alle Bedenken kamen zu spät: Der Schatten hatte ihn schon aufgehoben – samt seiner Wurzel! Gerhard spürte eine Berührung auf seinen harten Kanten, dann legte sich Feuchtigkeit auf seinen Körper. Würde das „Mädchen“ ihn jetzt essen?
Gegessen wurde er zwar nicht, aber etwas Außerordentliches geschah trotzdem: Gerhard gab einen schrillen Ton von sich. Zuerst erschrak Gerhard, weil er annahm, sich gleich in einen Vogel zu verwandeln.
„Nur Vögel können singen, Grashalme doch nicht!“, meinte er. Da er aber keine Federn auf seinem Körper spürte, erkannte er, dass dieses Pfeifen von ihm kam, einem gewöhnlichen Grashalm. Als solcher hatte er zugegebenermaßen wenig Ahnung von Musik. In diesem Moment war es ihm aber vollkommen gleich, ob sein Lied lieblich oder grauenhaft klang. Allein die Überraschung machte Gerhard zum glücklichsten Grashalm auf der ganzen Wiese: Gerhard wusste doch gar nicht, dass er singen konnte! Von dieser Begabung hätte er wohl auch nie erfahren, wenn er nicht gewachsen wäre.
Bei all der Freude war ihm ebenso egal, dass sein Lied so schnell verklang. Als er wieder zu Boden fiel, genoss er das Gefühl, das er für Schweben hielt. Eigentlich schwebte er weniger, er schraubte sich unzart dem Boden entgegen, wo er sich in einer fremden Gegend der Wiese wiederfand. Aber selbst die Grashalme dort kannten Gerüchte über ihn. Daher verwunderte es sie auch nicht, dass Gerhard der einzige Halm war, der je von dem Schatten zurückkehrte. Andächtig lauschten sie seinen letzten Worten über sein erstes und einziges Konzert. Nach seinem Verstummen verbreiteten sie sofort, was er vollbracht hatte. Die ganze Wiese sprach bereits davon, als kurz darauf wieder der Rasenmäher kam.
Nach diesem Tag sollte kein Grashalm mehr dem anderen gleichen. Jeder fand seine eigene Gestalt, um auch ja gepflückt zu werden. Von oben betrachtet wuchsen die Grashalme schlicht kreuz und quer, mal dicker und mal dünner. Die Ameisen dagegen erkannten die wahre Vielfalt. Die früher eintönige Wiese war zu einer ungebändigt sprießenden Wildnis geworden; und das nur wegen eines einzelnen Grashalmes.